Erfundenen Länder, Menschen, Sprachen

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1933
Autor: Victor Ottmann, Erscheinungsjahr: 1933

Exemplar in der Bibliothek ansehen/leihen
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Reisebeschreibungen, Reiseberichte, Schiffbruch, Ribinsonaden, Robinson Crusoe, Daniel Defoes, Fabelhafte Ungeheuer, Phantasie, Abenteuerroman, Weltliteratur, Wahrheit, Dichtung,
Einer weitverbreiteten englischen Monatsschrift passierte einmal ein Unglück besonderer Art. Eigens dazu bestimmt, nur wirklich erlebte, verbürgt wahre Begebenheiten und Abenteuer zu veröffentlichen, brachte sie in großer Artikelreihe den Bericht eines gewissen M. de Rougemont über seine Erlebnisse in einem bisher noch unerforschten Gebiet Australiens. Was der Verfasser da zu erzählen hatte, war in der Tat aufsehenerregend. Ein Schiffbruch, so begann sein Bericht, hatte ihn einst — er war damals noch ein junger Mann — an einen entlegenen Teil der australischen Küste verschlagen. Nachdem er dort zuerst einige Jahre lang, einsam und verlassen wie Robinson, den härtesten Kampf ums Dasein geführt hatte, stieß er auf eine Horde von Urmenschen, wilden Kannibalen, die tief unter jeder anderen bekannten Menschenrasse standen. Die Wilden betrachteten den Weißen als ein vom Himmel herabgestiegenes übernatürliches Wesen, sie nahmen ihn bei sich auf, er wurde ihr Häuptling, und er erlebte nun in ihrer Gemeinschaft dreißig Jahre hindurch eine Fülle der merkwürdigsten Abenteuer, wobei Zusammenstöße mit ganz unbekannten Tieren eine besonders aufregende Rolle spielten.

**************************************************
Die verblüffenden Schilderungen erregten großes Aufsehen, nicht zuletzt auch in der wissenschaftlichen Welt. Gelehrte Gesellschaften luden den Verfasser ein, Vorträge zu halten. Als man dabei dem einstigen Kannibalen-Häuptling mit unbequemen Fragen zu Leibe rückte und ihn ins Kreuzverhör nahm, stellte sich bald seine völlige Unglaubwürdigkeit heraus. Den Nachforschungen einer großen Londoner Zeitung gelang dann die Feststellung, dass Herr de Rougemont in Wirklichkeit ein Schweizer namens Louis Grien und von Hause aus Kellner war, dass er niemals Schiffbruch erlitten hatte, niemals in Australien gewesen war und dass jenes unbekannte Land samt den Urmenschen, den fabelhaften Tieren und allen sonstigen Wundern nur ein Erzeugnis der blühenden Phantasie des bejahrten Kellners war.

Erdichtete Reisen, erfundene Länder — das hat es schon immer gegeben, in den alten Zeiten des Reisens natürlich in noch weit größerem Umfang als heutzutage. Denn je weniger bekannt der Erdkreis noch war, desto leichter ward den Fabulisten das Handwerk gemacht. Sie durften erzählen, was sie wollten, selten konnten sie von jemand widerlegt werden. Aber es hatte auch niemand den Drang danach, denn wenn der Weitgereiste recht spannend und wunderbar zu erzählen wusste, so war seinen Zuhörern aufs beste gedient. Von diesem Gesichtspunkt aus wollen die Reisebeschreibungen des klassischen Altertums, wie sie am schönsten in den Erzählungen der „Odyssee“ niedergelegt sind, verstanden werden. Dem „göttlichen Dulder“ Odysseus wurde die Gastfreundschaft, die er auf seinen Irrfahrten in ausgiebiger Weise in Anspruch nahm, sicherlich mit Vergnügen gewährt, weil er fesselnd zu erzählen verstand. War er mit dem wirtlich Erlebten zu Ende, dann kam das Erdichtete, das Ungeheuerliche, das, wonach es die Hörer gelüstete, und niemand fragte danach, an welchem Punkt sich die Wahrheit von der Dichtung schied.

Selbst dann noch, als mit der Zeit eine geographische Wissenschaft sich zu entwickeln begann, trugen hochgebildete Geister, wie Herodot, Ptolemäus, Strabo, kein Bedenken, in ihren Lehrbüchern neben dem Genauen und Wahren die tollsten Ammenmärchen aufzutischen, um die Schilderungen anziehender zu machen. Und selbst fünfzehnhundert Jahre später, als nach der Erfindung der Buchdruckerkunst die deutschen Kosmographen in ihren reichillustrierten Weltbeschreibungen historische und geographische Bildung ins Volk trugen, wimmelten diese dickleibigen Folianten neben dem richtig und wahrheitstreu Geschilderten von handgreiflichem Unsinn, von Beschreibungen nicht existierender, von fabelhaften Ungeheuern bewohnter Länder. Unsere Bilderproben, die der „Kosmographie“ von Sebastian Münster (erstmalig 1544 erschienen) entnommen sind, geben einen Begriff davon, was man noch zu jener Zeit einem bildungsbeflissenen Publikum vorsetzen durfte; dabei waren die Herausgeber dieser Weltbeschreibungen hochgelehrte Männer. Durch die Taten der großen Entdecker hatte das allgemeine Interesse für die Erweiterung des Weltbildes einen mächtigen Ansporn erhalten, und diesen Umstand machten sich literarische Hochstapler zunutze, um mit erlogenen Reiseberichten entweder unverdienten Ruhm zu erwerben oder irgendwelche anderen unlauteren Zwecke zu verfolgen. Sie schilderten gefahrvolle Reisen, die sie niemals gemacht hatten, sie erzählten von fernen, mit Gold und Edelsteinen übersäten Inseln und von vergrabenen Schätzen. Da diese Geschichten viel Anklang fanden, kamen einzelne Schriftsteller auf den Einfall, eine reinliche Scheidung zwischen Wahrheit und Dichtung vorzunehmen und erdichtete, nur zum Zweck der Unterhaltung verfasste Reiseschilderungen ehrlich als Erzeugnisse der Phantasie auszugeben. So entstand die literarische Gattung des Reise- und Abenteuerromans, als dessen klassisches Vorbild Daniel Defoes unsterblicher „Robinson Crusoe“ (1719) anzusehen ist. Sein Buch, nächst der Bibel das meistverbreitete Werk der Weltliteratur, hat hohen erzieherischen Wert und fand eine kaum übersehbare Anzahl von Nachahmungen, den sogenannten Robinsonaden.

Von den vorhin erwähnten geographischen Fälschern hat das Tollste ein rätselhafter Mensch geleistet, der sich den biblischen Namen Psalmanazar beigelegt hatte und über dessen Herkunft und wirklichen Namen niemals etwas Sicheres bekannt geworden ist. George Psalmanazar tauchte um 1700 in London auf und behauptete, aus Ostasien zu stammen, dort, auf der Insel Formosa, hätte ihn ein jesuitischer Missionar zum Europäer erzogen. Man glaubte es ihm und nahm auch nicht daran Anstoß, dass Psalmanazar nicht im Geringsten wie ein Ostasiate aussah. Dieser Mann gab 1704 ein zugleich in englischer, holländischer und französischer Sprache erscheinendes, mit Bildern geschmücktes großes Werk über die Insel Formosa, ihre Geschichte, Natur und Bevölkerung, samt einer Grammatik der formosanischen Sprache heraus. Das von Gelehrsamkeit strotzende Werk fand starke Beachtung, und besonders die klangvolle fremde Sprache gefiel dermaßen, dass es in der Londoner Gesellschaft bald zum guten Ton gehörte, bei Psalmanazar Unterricht in „Formosanisch“ zu nehmen. Auf Veranlassung der obersten Kirchenbehörde übersetzte Psalmanazar auch den Katechismus und andere religiöse Bücher ins Formosanische. Das alles war nun, wie sich später herausstellte, nichts weiter als Hokuspokus, eine vollendete Irreführung. Ein Land und Volk von der Art, wie der angebliche Ostasiate sie beschrieben hatte, gab es nicht, auch die Sprache war reine Erfindung. „Wie leicht ist es, die ganze Welt, besonders die Gelehrten, an der Nase herumzuführen“, schrieb Psalmanazar in seinen Erinnerungen, die erst nach seinem Tode herausgekommen sind.

Mit der fortschreitenden Enthüllung der Erdoberfläche wurde den Reisenden das Fabulieren immer schwerer gemacht, ihre Angaben konnten jetzt schärfer als früher kontrolliert werden. Ernste Entdecker von großem Format, wie James Cook, hätten sich auch ohnehin streng an die Wahrheit gehalten. Seltsam aber berührt es, in welcher phantastischen Weise die Werke von Cook damals, zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts, noch illustriert werden konnten. Man sehe sich unsere dem Cookschen Südseewerk entnommene Bildprobe auf dieser Seite an, die junge Dame mit dem Ungeheuern Reifrock, dem süßen Lächeln und der koketten Haltung. So stellte sich der brave Kupferstecher, von dem die an und für sich sehr schönen Bilder zu Cooks Reisen stammen, eine Südseeinsulanerin vor.

Noch bis in die neueste Zeit hinein hat mancher moderne Münchhausen es fertiggebracht, nicht nur Laien, sondern auch Männer der Wissenschaft irrezuführen. Dabei gibt es freilich die verschiedensten Abstufungen, denn von der einfachen Ausschmückung und Aufbauschung, die man noch hingehen lassen kann, bis zur vollendeten Täuschung, dem bewussten Betrug, ist ein weiter Weg. Viel Aufsehen, aber bald auch viel Heiterkeit, erregten die angeblichen Entdeckungsfahrten des englischen Kapitäns J. A. Lawson. Sein in einem angesehenen Londoner Verlag erschienenes Werk „Streifzüge in Neuguinea“ brachte, so anspruchslos der Titel auch klang, wahrhaft erstaunliche Forschungsergebnisse ans Tageslicht. Der unerschrockene Reisende hatte im Innern Neuguineas nicht nur einen riesigen Binnensee, sondern auch einen Ungeheuern Schneeberg entdeckt, der sogar die höchsten Spitzen des Himalaja hinter sich ließ und als der mächtigste Berg der Erde von seinem Entdecker „Mount Hercules“ getauft worden war. Der Name „Mount Humbug“ wäre freilich treffender gewesen. Denn obwohl Lawson seinem Buch eine „an Ort und Stelle angefertigte“ Zeichnung des Bergungeheuers (Seite 3) beigefügt hatte, konnte es auf die Dauer doch nicht verborgen bleiben, dass der majestätische Mount Hercules ebenso wie der riesige Binnensee samt allen sonstigen neuguinesischen Wundern nur in der Einbildungskraft ihres Erfinders existierte und sein Buch von Anfang bis Ende nichts anderes als eine Münchhausiade war.

In guter Erinnerung steht noch die Skandalaffäre eines Namensvetters des großen Forschungsreisenden James Cook, des Dr. Frederick Albert Cook. Dieser, ein amerikanischer Arzt, überraschte im Herbst 1909 nach der Rückkehr von einer arktischen Expedition die Welt mit der Nachricht, dass er im April 1908 als erster den Nordpol entdeckt und betreten hätte. Er wusste diese Großtat der Forschung so glaubhaft darzustellen, dass verschiedene geographische Gesellschaften Amerikas und Europas anfangs nicht daran zweifelten und Cook mit Ehrungen überhäuften; große Zeitungen und Buchverleger machten ihm die verlockendsten Angebote. Aber gewisse Umstände erweckten bald Misstrauen, und als man jetzt die Angaben Dr. Cooks gründlicher unter die Lupe nahm, kam der Schwindel zutage. Ein jäher Absturz von der Höhe des Ruhmes war die Folge.

Demgegenüber fehlt es aber auch nicht an Beispielen, dass wirklich verdienstvolle Forschungsreisende das Unglück hatten, keinen Glauben zu finden. Geradezu tragisch war in dieser Hinsicht das Schicksal des Polarforschers John Roß. Er wurde 1818 mit einer Expedition zur Entdeckung der nordwestlichen Durchfahrt beauftragt, büßte aber wegen vorzeitiger Umkehr alles Vertrauen ein und wurde der Feigheit und des Schwindels bezichtigt. Dabei war Roß in Wirklichkeit ein zuverlässiger, tüchtiger Mann, und die Gründe zu seiner Umkehr waren durchaus stichhaltig gewesen. Selbst als er später neue, erfolgreiche Expeditionen unternahm, brachte man seinen Berichten weiterhin Misstrauen entgegen, und während seine Nebenbuhler Ehren einheimsen konnten, blieb John Roß ziemlich unbeachtet. Erst eine spätere Zeit hat seine Vertrauenswürdigkeit festgestellt und seinen Verdiensten um die Polarforschung die gebührende Anerkennung zuteilwerden lassen.

Der rätselhafte George Psalmanazar, der ein Land, ein Volk und eine Sprache erfand.

Wie man sich noch vor 145 Jahren eine Südseeinsulanerin von Tahiti vorstellte. Nach einem Stich zu Cooks „Südseereisen“ aus dem Jahr 1787.

Vogel Strauß, der Eisen frisst

Seltsame Menschen aus Indien. Aus der 1544 erschienen Kosmographie von Sebastian Münster

Ein mit Schwert und Speer bewaffneter Affe

Der Herkulesberg von Neuguinea. Nach einer Zeichnung des englischen Kapitäns J. A. Lawson, der behauptete, dieser Berg sei der höchste der Erde. In Wirklichkeit existierte der Berg überhaupt nicht, er war nur eine Erfindung seines Entdeckers.

Formosanisch, eine erfundene Sprache des Schweizer George Psalmanazar 1704

Formosanisch, eine erfundene Sprache des Schweizer George Psalmanazar 1704

Der rätselhafte George Psalmanazar, der ein Land, ein Volk und eine Sprache erfand

Der rätselhafte George Psalmanazar, der ein Land, ein Volk und eine Sprache erfand

Der Herkulesberg von Neuguinea, war nur eine Erfindung seines Entdeckers.

Der Herkulesberg von Neuguinea, war nur eine Erfindung seines Entdeckers.

Ein mit Schwert und Speer bewaffneter Affe

Ein mit Schwert und Speer bewaffneter Affe

Seltsame Menschen aus Indien. Aus der 1544 erschienen Kosmographie von Sebastian Münster

Seltsame Menschen aus Indien. Aus der 1544 erschienen Kosmographie von Sebastian Münster

Vogel Strauß, der Eisen frisst

Vogel Strauß, der Eisen frisst

Wie man sich noch vor 145 Jahren eine Südseeinsulanerin von Tahiti vorstellte. Nach einem Stich zu Cooks „Südseereisen“ aus dem Jahr 1787

Wie man sich noch vor 145 Jahren eine Südseeinsulanerin von Tahiti vorstellte. Nach einem Stich zu Cooks „Südseereisen“ aus dem Jahr 1787