Robert Walpole

Wie groß die Unvollkommenheiten auch sein mochten, die dem englischen Parlament des 18. Jahrhunderts anhafteten, wie viele Fehler die in ihm vertretenen Parteien auch begangen haben mögen, so darf man doch nicht vergessen, dass es eine Einrichtung vorstellte, die zu jener Zeit einzig in ihrer Art war, ein Schauspiel, das mit Geschick, Geist und Größe aufgeführt worden ist. In seinem Bestand und in seiner Entwicklung war es schon damals ein von allen Kulturvölkern des Abendlandes beneidetes Vorbild.

Die noch heute gang und gäben Formen des Geschäftsganges, der Verhandlungen und der Arbeitsteilung, die alle Parlamente dem englischen Muster nachgeahmt haben, waren schon 1714 ausgebildet imd festgelegt, die Maschinerie funktionierte bereits ohne Reibungen. Die einzelnen Prozeduren der Anträge, Petitionen, Amendements hatten durch den allmählichen Gebrauch dauernde Formen angenommen; dem Sprecher, den Kommissionen fielen bestimmte Rollen zu. Unter Arthur Onslow, der von 1728 — 1761 Sprecher des Unterhauses war und als sehr befähigt für diesen Posten galt, wurden die Äußerlichkeiten des parlamentarischen Getriebes bestimmt. Sie gipfelten in der Gewissheit, dass die Beschlussfassung zwar von der Mehrheit ausging, die die Verantwortung trug, dass der Minderheit aber doch jede Möglichkeit offen gelassen werden musste, ihren abweichenden Standpunkt mit wünschenswerter Eindringlichkeit darlegen zu können.


Das Recht der Redefreiheit war von Anfang an gewährleistet und wenn es praktisch auch gar keinem Zweifel unterliegt, dass die Abstimmungen des Unterhauses mehr von Intriguen abhingen als von sachlichen Erwägungen, dass die Summen, welche der Minister zu verteilen hatte, schwerer ins Gewicht fielen als die scharfsinnigsten Gründe, so waren und blieben doch beide Häuser des Parlaments die hohe Schule der Rhetorik. In einer zornigen Stunde erklärte Bolingbroke einmal, die Mitglieder des Unterhauses seien wie Jagdhunde, die den Msuin lieben, der sie auf das Wild loslässt und dessen Zuruf sie zum Aushalten ermutigt. Das war verächtlich gemeint, ohne dass man es notwendigerweise in diesem Sinne zu verstehen braucht, man darf sogar sagen, der Wert, der im Unterhaus auf gute Reden gelegt wurde, kündigte eine höhere Kultur und eine feinere Sinnlichkeit an. Die Reden für und wider waren durchaus nicht immer ausschlaggebend und haben die Abstimmungen vielleicht weniger stark beeinflusst als es wünschenswert sein mochte, geschätzt waren sie doch und gute und geschickte Redner waren starker und dauernder Erfolge sicher. Horace Walpole, der nicht nur als Sohn eines Staatsministers, der länger regiert hat als irgend einer seiner Nachfolger, sondern auch als langjähriges Mitglied des Unterhauses selbst genau mit der Praxis des Parlaments Bescheid wusste, und sich ganz gewiss keine Illusionen über das Warum und Wieso mancher seine Entschließungen machte, widmet in seinen Erinnerungen den Parlamentsverhandlungen doch einen Raum, der dem heutigen Leser oft ermüdend breit erscheinen will. Das Spiel der persönlichen und Familien-Interessen, das dabei in Betracht kam, die Cliquen-Wirtschaft, der Hintertreppen-Klatsch treten deutlich hervor, und doch weilt der Schreiber mit Ausführlichkeit und Behagen bei Rede und Gegenrede, die er mit Verständnis analysiert, begutachtet und gegen einander abwägt. Das Bewusstsein, vor Sachverständigen zu sprechen, vor Männern, die große Ansprüche machten, hat den Ehrgeiz angespornt, gab es ja doch schon eine Galerie für das Publikum, zu der sich bei Gelegenheit sogar die Damen drängten.

Im Mai 1739, zur Zeit als die Verhandlungen geführt wurden, die die Kriegserklärung an Spanien im Gefolge hatten, sollten die weiblichen Besucher von der Galerie ausgeschlossen werden. Einige Damen der Aristokratie, die Herzoginnen von Queensberry und Ancaster, Lady Westmoreland, Lady Cobham, Lady Archibald Hamilton, Lady Saunderson, Lady Huntingdon u. a. wollten sich dem Verbot nicht fügen und versuchten sich den Eintritt mit Gewalt zu erzwingen, aber man schloss ihnen die Tür vor der Nase zu. Sie belagerten den Eingang stundenlang, ohne etwas durchzusetzen, bis ihnen jemand den Rat gab, sie möchten doch einmal eine halbe Stunde lang ganz still sein, dann werde man drinnen glauben, sie seien fortgegangen und aufmachen. So geschah es, und die List führte sie wirklich zum erwünschten Ziele.

25 Jahre später, als die Wilkes-Skandale die politische Stimmung zur Siedehitze schürten und das Haus oft Sitzungen von 11 bis 17 Stunden Dauer abhielt, war die Tribüne wieder von Damen belagert, die die ganze Zeit zuhörten. Die Patriotinnen, mit der Herzogin von Richmond an der Spitze bestehend aus Lady Rockingham, Lady Sondes, Miss Mary Pelham, Lady Mary Coke, Lady Pembroke, Mrs. George Pitt und viele andere mehr, ließen sich in den Räumen des Sprechers häuslich nieder und machten es sich bei Diner und Kartenspiel bequem, bis eine der großen Kanonen an die Reihe kam.

Wie groß der Wert war, den das Haus selbst auf seine Redner legte, bezeugen auch die Spitznamen, die sich manche von ihnen zuzogen. So blieb William Gerard Hamilton, von dem die Sage ging, er habe nur ein einziges Mal im Unterhause gesprochen, sein Leben lang die Bezeichnung des „Einmalredners“. Mag sich das Unterhaus in gewissen Zeiten des 18. Jahrhunderts auch die Achtung der Nation verscherzt haben, das Interesse büßte es nie ein, und es ist eine sehene Ausnahme in der Beurteilung, wenn Gibbon am 14. November 1783 an Lord Sheffield klagend schreibt, er habe stundenlang die Wiederholung des stumpfsinnigen Unsinns mit anhören müssen, der im Unterhause Vernunft und rednerische Begabung ersetze. Das ganze Jahrhundert hindurch waren beide Häuser reich an guten und gewandten Rednern, man beobachtete sogar, dass der Mechanismus der Regierung stockt und nur mühsam in Gang zu halten ist, wenn dem leitenden Staatsmann die Gabe der Rede versagt war. Sir Robert Walpole, der von 1715 bis 1742 im Amt war, hat wie kaum ein anderer verstanden, sich mit dem Unterhaus zu verständigen. Von Haus aus Landjunker, wie die Mehrzahl der Unterhaus-Mitglieder, die ja oft genug und nicht freundlich als „bloße Fuchsjäger“ bezeichnet werden, gehörte er dem Hause seit 1700 an, in dem er schnell die ihm inne wohnende außerordentliche politische Begabung entwickelte. In der Aufstellung eines einfachen Programms, das praktisch durchführbar war, in der Vorsicht, die das quieta non movere zu seiner Richtschnur machte, wusste er die komplizierte Regierungsmaschinerie, die die Übereinstimmung zwischen Kabinett und Parlaments-Mehrheit zur Voraussetzung hatte, mit staatsmännischer Überlegenheit zu handhaben. Er ist der eigentliche Schöpfer des englischen parlamentarischen Systems geworden, denn er verstand es, die Macht seiner Partei zur Konsolidierung der neuen Regierungsmethode zu benutzen. Unbekümmert um Freund und Feind, welche die „Robinokratie“ mit Spott und Hohn übergossen, hat er seine Ideen, England auf friedlichem Wege groß zu machen, verfolgt, bis zu dem Tage, an dem das Instrument, das er selbst geschaffen, seine Schneide gegen ihn wandte. Er besaß das Vertrauen des Königs und konnte im Oberhaus auf eine ihm unbedingt ergebene Mehrheit zählen, das Unterhaus aber folgte ihm nicht mehr, ließ ihn im Stich und zwang ihn, sein Amt niederzulegen. Nicht die eigene Unzulässigkeit war es, der er zum Opfer fiel, sondern ein Fehler des Systems. Der Parlamentarismus ist nicht auf überragende Geister zugeschnitten, sondern auf Mittelmäßigkeiten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches England im 18. Jahrhundert
024. Die Herzogin von Devonshire. Schabkunst von W. W. Barney nach dem Bilde von Cainsborough

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025. Robert Walpole. Schabkunst von John Simon nach dem Bildnis von Kneller

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