Reformen

Diese beständige Aufpeitschung des politischen Gefühls, die sich die Parteien nicht nur bei Wahlen gestatteten, sondern bei jeder Gelegenheit herbeiführten, die ihnen günstig schien, um sich Anhänger zu sichern, durch deren Zahl und Körperkraft der Gegner eingeschüchtert werden konnte, hat sich schließlich gegen sie selbst gewendet. Das Volk, das immer für die politischen Interessen aufgerufen wurde, das immer davon hören musste, die Kirche sei in Gefahr, die englische Freiheit sei bedroht, musste schließlich zu ernsthafterer Beteiligung an der Erledigung dieser Fragen ermuntert werden, als die Führer im Streit ihm eigentlich zuzugestehen willens waren.

Der Prozentsatz der wählenden Bevölkerung war außerordentlich gering. Sie hatte keinen Einfluss auf die Stimmabgabe der von ihr gewählten Vertreter imd erfuhr nur durch Zufall von den Verhandlungen, die im Parlament stattfanden. Das musste um so weniger befriedigen, als der größte Schade des Unterhauses, die Bestechlichkeit, ganz offenbar am Tage lag, und wie tief diese Eigentümlichkeit auch in den nationalen Gebräuchen begründet sein mochte, die Achtung und das Vertrauen zu der Körperschaft, die im Parlament beisammen saß, konnte dadurch nicht gehoben werden. Wenn das Unterhaus der Öffentlichkeit auch nicht direkt verantwortlich war, ein Gefühl dafür bestand doch, und die große Bestechungsmaschinerie Robert Walpoles war noch nicht lange im Gange, da empfand das Haus diesen Zustand als unwürdig und beschämend.


1730 brachte Sandys einen Gesetzentwurf ein, der sich mit diesem Übel beschäftigte und Mittel zu finden trachtete, um die finanzielle Abhängigkeit, in der ein großer Teil der Mitglieder von den Ministem gehalten wurde, zu brechen. Die Angelegenheit schleppte sich hin und wenn man auch 1742 gewisse Kategorien von Beamten, deren Stellung sie der Unabhängigkeit der Regierung und der Krone gegenüber beraubte, aus dem Unterhause ausschloss, so geschah doch keineswegs etwas durchgreifendes. Zu viele waren an der Aufrechterhaltung dieses bequemen und einträglichen Systems interessiert, man zog es vor, die Dinge gehen zu lasen, wie sie gingen, und gefiel sich in einem stillen und passiven aber sehr energischen Widerstand gegen jeden Wechsel im Traditionellen und Hergebrachten.

Es mussten mehrere und stärkere Tendenzen zusammentreffen, um eine wirklich durchgreifende Reform des Unterhauses anzubahnen. Das war einmal die Zersetzung der großen Whig-Partei, die sich schon vor dem Jahre 1760 vollzogen und den einheitlichen Körper in viele Familien-Cliquen gespalten hatte. Damit ging dem Unterhaus die einhellige Majorität verloren, zur selben Zeit, als die autokratischen Gelüste Georgs III. die Unabhängigkeit des Parlaments überhaupt anzutasten versuchten. Dann aber kristallisierten sich die Anschauungen der allmählich ganz politisierten Massen um einen neuen blendenden Gedanken, den der Volks-Souveränität. Er war nicht auf englischem Boden entstanden, sondern kam aus Frankreich, aus den Kreisen der Enzyklopädisten, aber er fand in gewissen Zirkeln der englischen Denker eine verständnisvolle Aufnahme. Zur Zeit als der ältere Pitt zum erstenmal leitender Minister war, wurde er von Henry Fox heftig angegriffen, weil er den Mob ermutige, sich für die eigentliche Regierung zu halten. 1780 sagte Edmund Burke in einer Rede im Unterhaus: „Das Volk ist der Herr. Es braucht seine Wünsche nur zu äußern. Wir sind die sachverständigen Künstler, die geschickten Arbeitsleute, die seine Ansprüche in die geeignete Form zu bringen, das Werkzeug zum Gebrauch bereitzuhalten haben. Sie leiden, aber aus ihren Klagen erkennen wir die Symptome ihres Leidens, seinen eigentlichen Sitz und die Art und Weise, in der wir die Heilmittel nach den Grundsätzen der Kunst anzuwenden haben. Wie verletzend für das Gefühl müsste es nicht sein, wenn wir unsere Kunstfertigkeit dazu missbrauchen würden, um der Erfüllung unserer Pflicht aus dem Wege zu gehen und unsere Auftraggeber in ihren gerechtfertigten Erwartungen zu betrügen.“ Mit der Verbreitung solcher Anschauungen fiel eine allgemeine Missstimmung zusammen, die ihren Grund in ökonomischen imd sozialen Schwierigkeiten fand und ihren Hauptsitz in den großen neu entstandenen Zentren der Industrie hatte. In Glasgow, Liverpool, Manchester, Birmingham wurde es nie ganz ruhig; schrieb doch Horace Walpole am 20. Mai 1765 an den Earl of Hertford: „Das Schlimmste von allem ist der allgemeine Geist der Meuterei und Unzufriedenheit unter dem niedrigen Volk. Wir stehen in Gefahr, im Herzen der Hauptstadt binnen einer Woche eine Rebellion zu erleben.“ Das alte System der letzten Jahrzehnte befriedigte niemand mehr, und während Georg III. sich anschickte, es in autoritärem Sinne für die Krone auszubauen, entstand eine neue Demokratie, die im Unterhause einen linken Flügel der äußersten radikalen Opposition bildete.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches England im 18. Jahrhundert
008. König Georg III. Kupferstich von W. Woollett nach dem Bilde von A. Ramsay

008. König Georg III. Kupferstich von W. Woollett nach dem Bilde von A. Ramsay

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