Die englische Oligarchie

Das Unterhaus hatte gesiegt, nicht etwa das englische Volk, denn man würde sehr fehl gehen, wenn man das englische Parlament des 18. Jahrhunderts als eine Volksvertretung ansehen wollte. Horace Walpole schrieb 1760, man halte allgemein dafür, dass England von 200 Edelleuten regiert werde, und damit stellte er allerdings nur die Wahrheit fest.

Das Land war wirklich zum ausschließlichen Vorteil einer kleinen Oberschicht eingerichtet. Diese umfasste die gute Gesellschaft, ungefähr das, was man sich heute gewöhnt hat, die Oberen Zehntausend zu nennen. Sie besetzten nicht nur alle Stellen der Regierung, alle sicheren Posten in Armee und Marine, ausschließlich aus ihrem Kreise ging auch das Parlament beider Häuser hervor. Zwar wurden die Mitglieder des Unterhauses durch öffentlich stattfindende Wahlen zu ihrer gesetzgeberischen Tätigkeit berufen, 1768 aber gab es in ganz England nur 16.000 Wahlberechtigte, und von ihnen wählten 5.723 die Hälfte der Abgeordneten des Unterhauses. Im Oberhaus saßen die Vertreter des Großgrundbesitzes beisammen, die Lords und Pairs.


Beim Regierungsantritt Wilhelms III. zählten sie 166 Mitglieder, als Georg III. den Thron bestieg, waren sie auf 372 gestiegen. Dazu kamen als Vertreter der Staatskirche 2 Erzbischöfe und 24 Bischöfe. Es war ein Ausfluss der persönlichen Politik Georgs III., dass er das Oberhaus während seiner Regierungszeit stark vermehrte, er hat allein 268 Pairs und 528 Baronets kreiert. Die Zahl der Mitglieder des Unterhauses stand seit Karl II. fest, sie bezifferte sich für England und Wales auf 513 Mann, davon entfielen 92 auf die Grafschaften, die vierfache Zahl auf Städte und Burgflecken. Nach der Union mit Schottland kamen 1707 45 Abgeordnete für dieses Königreich hinzu, nach der Vereinigung mit Irland 90 Jahre später noch 100 für die grüne Insel, so dass das englische Gesamtparlament, das am 22. Januar 1801 zusammentrat, 658 Mitglieder zählte. 40 von ihnen genügten, um die Beschlussfähigkeit des Hauses herbeizuführen. Nun war die Vertretung aber so wunderlich eingerichtet, dass von den 513 Abgeordneten 311 einfach ernannt wurden, zum Teil von den Großgrundbesitzern, zum Teil von denjenigen Personen, die sich in den Burgflecken durch Geld und gute Worte den maßgebenden Einfluss zu sichern wussten.

200 Städte waren berufen als besondere städtische Wahlkreise Abgeordnete in das Unterhaus zu entsenden. Von dem Ausfall ihrer Wahlen hing die Mehrheit in demselben ab, so waren sie es denn auch, in denen die Wahlen unter dem stärksten Drucke von Bestechung und Beeinflussung aller Art vor sich gingen. Die Wahlgesetze der verschiedenen Städte und Burgflecken waren so verwickelt, dass sie kaum in zweien derselben gleich waren, gemeinsam war ihnen die Begünstigung, die sie dem Grundbesitz zuteil werden ließen. Ein Pächter, mochte er auch noch so große Güter verwalten, besaß kein Wahlrecht, ein Freisasse dagegen, überstieg sein Einkommen auch nicht 40 sh, war im Besitze desselben. Diese ausschließlich auf den Grundbesitz zugeschnittene Einrichtung ließ u. a. die großen Industriestädte, die im Laufe des 18. Jahrhunderts entstanden, ohne jede Vertretung im Unterhaus, während dagegen längst verfallene Ortschaften, die oft genannten rotten boroughs, auch dann noch Vertreter in das Parlament entsenden durften, wenn sie faktisch längst nicht mehr bestanden. Es gab Burgflecken, wie in Comwall, in denen 5 Einwohner 2 Mitglieder in das Unterhaus wählten, während Nachbarorte von 100.000 und mehr Einwohnern ohne jede Vertretung im Parlament blieben. Sarum war längst eine Schafweide, Dunwich schon zur Hälfte von der See verschlungen, Draitwich eine verlassene Salzgrube, da wählten sie noch immer ihre Abgeordneten, indessen Manchester und Liverpool und andere moderne Großstädte für das Parlament nicht vorhanden waren.

Wenn so eine zahlreiche Klasse der englischen Bürgerschaft von der Wahl ausgeschlossen wurde, so blieb einem nicht geringen Teil die Wählbarkeit versagt, denn der Census, der unter der Regierung der Königin Anna eingeführt wurde, verlangte, dass der Grafschafts-Abgeordnete mindestens 600 Lstrl. Jahreseinkommen aus Grundeigentum, der städtische Abgeordnete aber nicht unter 300 Lstrl. aus Grundrente sein eigen nennen musste. Diese Vorschrift sicherte dem Landadel, der Gentry, die fast ausschließliche Besetzung des Unterhauses. Die Diätenlosigkeit der Abgeordneten und die großen Kosten, die jede Wahl dem Gewählten verursachte, trugen das ihrige dazu bei, dass die Körperschaft des Unterhauses einer einzigen Klasse angehörte, nämlich dem vermögenden Grundbesitz; die Kaufmannschaft, die Industrie, waren vollkommen ausgeschlossen. Daher kommt es denn auch, dass im 18. Jahrhundert die Stimme des Parlamentes durchaus nicht notwendig die des englischen Volkes ist. Diejenigen, die wie Montesquieu und Voltaire sich im Lobe der englischen Zustände nicht genug tun konnten, sahen nicht, dass die vielgerühmte englische Freiheit im Grunde nichts anderes bedeutete, als die Herrschaft einer kleinen bevorrechteten Klasse, nämlich derjenigen, die im Parlamente saß, auf Kosten derer, die nicht darin saßen. In dieser Beziehung hatte die englische Verfassung sogar eine beträchtliche Ähnlichkeit mit derjenigen Venedigs, die als tyrannisch verrufen war, der englischen Oligarchie aber sehr viel näher kam als man damals wusste und glaubte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches England im 18. Jahrhundert
011. Lord North. Schabkunst von Thomas Burke nach dem Bilde von Dance. 1775

011. Lord North. Schabkunst von Thomas Burke nach dem Bilde von Dance. 1775

012. Der Herzog von Portland Schabkunst von John Murphy nach dem Gemälde von Reynolds. 1783

012. Der Herzog von Portland Schabkunst von John Murphy nach dem Gemälde von Reynolds. 1783

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