Die bürgerliche Selbstverwaltung

Das Parlament war die eine der großen Einrichtungen, die das England des 18. Jahrhunderts vor den Verfassungen der Kontinental-Staaten voraus hatte, die bürgerliche Selbstverwaltung war die andere. Die englische Gesellschaft regierte sich nicht nur selbst, sie verwaltete sich auch selbst.

Von der Auffassung der obersten Staatsgewalt an, die den König im Parlament vom König im Rat unterschied, um anzudeuten, dass der Monarch in der Ausübung seiner Gewalt an die Zustimmung seiner Räte gebunden sei, war das System bis in die unterste Staffel des Kirchspiels hinunter sorgfältig ausbalanciert. Die obrigkeitliche Selbstverwaltung ging aus Ämtern hervor, die schon im Mittelalter entstanden waren, dem Friedensrichter, dem Sheriff, dem Lord-Leutnant, dem Deputy-Leutnant und dem Coroner. Jedem dieser Beamten bestimmte das Herkommen seinen Kreis von Rechten und Pflichten, die durch Verordnungen des Parlaments teils ausgedehnt, teils beschränkt wurden, ihre Gesamtheit bildete das englische Verwaltungsrecht.


Die Lokal-Verwaltung lag in der Hand von sechs verschiedenen Beamten, die in jährlichem Wechsel aus Wahlen der ortsangesessenen Bürger hervorgingen und ehrenamtlich ausgeübt wurde, weil eine lange Erfahrung gelehrt hatte, dass Männer, deren Vermögen sie nach oben und unten unabhängig machte, nach freieren Gesichtspunkten handeln als Berufsbeamte. Auf dieser Eigenschaft des Ehrenamtes, zu deren Übernahme die Gewählten gesetzlich gezwungen werden konnten, beruhte die Freiheit der Verwaltung, die von Partei-Einflüssen unberührt blieb und deren Kreise von den Stürmen der Ministerwechsel nicht gestört wurden.

Diese Ämter waren: 1. der Sheriff, der das Hauptamt der Grafschaft verkörperte. Es wurde jährlich wechselnd mit einem der größeren Grundeigentümer besetzt; II. der Lord-Leutnant, so etwas wie der Statthalter der Grafschaft. Sein Amt war regelmäßig mit dem des ersten Friedensrichters verbunden und lag in den Händen eines der vornehmsten Grundbesitzer, der es in der Praxis tatsächlich auf Lebenszeit ausübte. III. Der Friedensrichter, die eigentliche Seele der obrigkeitlichen Lokalverwaltung. Vorbedingung zur Übernahme dieses wichtigen Amtes war eine Grundrente von 1.00 Lstrl. Der Wirkungskreis dieses Mannes war unübersehbar, seine Funktionen und Kompetenzen beinahe unbegrenzt. Im Jahre 1786 gab es in England und Wales 2.662 aktive Friedensrichter, IV. Der Coroner, dem das Untersuchungsamt bei Todesfällen zustand. V. Die Konstables. VI. Die Wege-Aufseher. Diesen Beamten standen Wahlkörper zur Seite, deren Mitglieder aus dem Mittelstande hervorgingen. Die Geschworenen, die bei den Kriminal-Assisen über Schuld oder Unschuld der Angeklagten zu befinden hatten, mussten ein Einkommen von 10 Lstrl. aus eigenem Grundbesitz nachweisen, später, als die Zahl der kleinen Grundbesitzer von Jahr zu Jahr mehr zusammenschmolz, wurden auch Pächter zugelassen, wenn sie einen Grundertrag von 20 Lstrl. aus Pachtungen auf Lebenszeit nachweisen konnten. Sie waren als Urteilsjury auch bei den Quartalssitzungen, die viermal jährlich alle Friedensrichter einer Grafschaft vereinigten, ferner als Anklagejury und Zeugen bei den Untersuchungen des Coroners.

Gewählte Laien wirkten auch als Einschätzungs-Kommissionen für die Grundsteuer. Zu den genannten Ämtern kamen noch, ebenfalls in jährlichem, regelmäßigem Wechsel, Kirchenvorsteher, Armenaufseher und andere Nebenämter, so dass jahrein, jahraus hunderttausende englischer Bürger in der Verwaltung ihrer Heimat beschäftigt wurden. Diese Inanspruchnahme des einzelnen für die Interessen der Allgemeinheit bedeutete natürlich unendlich viel mehr als die Tätigkeit im Parlament, wo der einzelne, ließ er sich selbst nicht bestechen, durch Rücksichten aller Art gebunden war. Mit Recht ist denn auch hervorgehoben worden, und Gneist betont es ebenfalls in allen seinen Schriften, dass die Art der englischen Selbstverwaltung ganz dazu angetan war, Gemeinsinn und Pflichttreue groß zu ziehen und jene großartige Selbständigkeit des Charakters hervorzubringen, die Festländer dem Inselvolk nur zu sehr zu beneiden haben. Die Erfüllung gemeinsamer bürgerlicher Pflichten, zu der alle Stände zusammengeführt wurden, nötigte den einzelnen dazu, über Handelsinteressen und Berufsgeschäfte hinweg den Blick immer auf das Ganze zu lenken, dem er als Teil angehörte. Es war die Selbstverwaltung, die im Engländer des 18. Jahrhunderts das Hochgefühl züchtete, mit dem er als „freier Dritte“ auf die Sklavenvölker des Kontinents herabsah. Sie nährte das Selbstgefühl, dem schon Defoe so bezeichnende Worte lieh, als er schrieb: „Wir sind das größte Land in der Welt, unser Klima ist das angenehmste, um darin zu leben, wir Engländer sind die tüchtigsten und besten Männer auf der Erde.“

Die englische Freiheit war in der Tat durch die Selbstverwaltung in ungleich wirksamerer Weise gewährleistet, als sie es je durch Verfassungsparagraphen hätte sein können. Man wird so oft im Laufe der Verfassungskämpfe, die das 1 9. Jahrhundert ausfüllen, darauf gestoßen, dass selbst die freisinnigsten Verfassungen die mit ihnen beglückten Völker nicht wirklich frei machen konnten, und beobachtet immer, dass es die Verwaltungskörper gewesen sind, die das gehindert haben. Eine liberale Verfassung und eine reaktionäre Verwaltung, aus diesem Nebeneinander unvereinbarer Widersprüche erklärt sich ohne weiteres die tiefgehende Missstimmung, die z. B. Deutschland schon vor dem Kriegsausbruch erfüllte. England hat diese Klippe glücklich umschifft, indem es die Verwaltung seiner Polizei nicht in die Hände einer Zentralstelle legte, sondern sie ehrenamtlich unabhängigen Männern von Besitz und Bildung überantwortete.

Die unterste Einheit des Verwaltungskörpers bildete das Kirchspiel, in dessen Ämtern eine eigentümliche Verflechtung kirchlicher und weltlicher Tätigkeit stattfand, indem der Kirchenvorsteher zugleich polizeiliche Funktionen aller Art auszuüben hatte. Die gewesenen Amtsinhaber des Kirchspiels bildeten dann die Gemeinde-Ausschüsse, die im Laufe des 18. Jahrhunderts die Stelle der wirklichen Gemeinde-Versammlungen einnahmen, da sie, die bereits die Erfahrung der Praxis für sich hatten, Entscheidungen mit größerer Sicherheit vornehmen konnten als die noch unerprobten Laien. Die tägliche Arbeit in den Ämtern der Gemeinde und der Grafschaft, zu der im Laufe der Zeit ein jeder herangezogen wurde; der soziale Ausgleich, der dadurch stattfand, dass dem größeren Besitzer auch die größere Verantwortlichkeit zufiel, dass Besitz und Leistung einander angepasst wurden, hat das englische Ständewesen des 18. Jahrhunderts innerlich harmonisch gestaltet und die Grundlage abgegeben, auf der die politische Befähigung der Nation sich in freiem Spiel der Kräfte entfalten konnte. „Die Selbsttätigkeit der besitzenden Klassen in der Arbeit des öffentlichen Lebens“ war, wie Gneist so lichtvoll ausgeführt hat, das Lebensprinzip der englischen Verfassung. Sie verwirklichte im 18. Jahrhundert zum erstenmal in einem großen Staatswesen den vollen Begriff der Freiheit, der sozialen, denn sie gewährte auch dem geringsten die rechtliche Möglichkeit, durch Talent oder Verdienst zu Ansehen und Besitz zu kommen; der persönlichen, denn auch der Allmacht des Staates ging nie die Achtung vor der Person und dem Eigentum des einzelnen verloren; der politischen endlich, da sie dem Volke, das sie fähig machte, sich selbst Gesetze zu geben, die Möglichkeit offen ließ, sie in freier Selbstverwaltung auch allein auszuführen.

So großen Lichtseiten können die Schatten nicht fehlen, und wie das Parlament versäumte, Toleranz gegen Andersgläubige zu üben, wie es die Reform des Wahlrechts Jahrzehnte hinauszögerte, wie es in diesem langen Zeitraum nicht dazu gelangte, ein wirklich humanes Strafrecht einzuführen, um nur einige der gröbsten Fehler hervorzuheben, deren es sich schuldig machte, so hafteten auch der Verwaltung die grellen Missstände an, die von einer Klassenherrschaft nun einmal unzertrennlich zu sein scheinen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches England im 18. Jahrhundert