Zweiundzwanzigstes Kapitel. - Auf dem Wildkirchlein. - Jetzund, vielteurer Leser, umgürte deine Lenden, greif’ zum Wanderstab und fahr’ mit uns zu Berge. Aus den Niederungen des Bodensees ...

Jetzund, vielteurer Leser, umgürte deine Lenden, greif’ zum Wanderstab und fahr’ mit uns zu Berge. Aus den Niederungen des Bodensees zieht unsere Geschichte ins helvetische Alpenland hinüber: dort ragt der hohe Säntis vergnüglich in die Himmelsbläue, wenn er just’ nicht vorzieht, die Nebelkappe ums Haupt zu hüllen, und schaut lächelnd in die Tiefen, wo der Menschen Städte zu eines Ameisenhaufens Größe zusammenschrumpfen; und um ihn steht eine Landsgemeinde stolzer Gesellen versammelt von gleichem Schrot und Korn, die recken ihre kahlen Scheitel einander entgegen und blasen sich Nebelwolken zu, ein Rauschen und Sausen zieht durch ihre Schlüfte, und was sie über menschliches Dichten und Treiben sich zuflüstern, klang vor tausend Jahren schon ziemlich verächtlich und hat sich seither nicht um vieles gebessert.

Ohngefähr zehn Tage, nachdem die Mönche der Reichenau im Hohentwieler Burgturm an Stelle eines Gefangenen ein Häufchen Asche vorgefunden und viel Verhandlung gepflogen hatten, ob ihn in böser Mitternacht der Teufel bewältigt und zu Asche verbrannt, oder ob er entwichen sei, schritt ein Mann längs dem weißgrünschäumenden Sitterbach über sprießende Matten und Felsgestein bergaufwärts.


Er trug einen Mantel aus Wolfsfell über ein mönchisch Gewand, eine lederne Tasche, umgeschlagen, in der Rechten einen Speer. Oftmals stieß er die eherne Spitze ins Erdreich und stemmte sich am Schaft, die Waffe als Bergstock nutzend.

Rings um ihn stille tiefe Einsamkeit. Langgestreckte Nebelstreifen lagen über dem wilden Tal, wo die Sitter dem Seealpsee entspringt, aber hoch drüber weg schauten grimmige Steinwände, von spärlichem Grün umsäumt, himmelan. Die Berghalden, wo jetzt in schindelumhüllten Hütten ein fröhlich Hirtenvolk zahlreich nistet, waren damals zumeist öde und spärlich bewohnt; nur fern in der Niederung des Tals stund die Zelle des Abts von Sankt Gallen und wenig Behausungen dabei. Nach der blutigen Feldschlacht bei Zülpich war eine kleine Schar freiheitsliebender alemannischer Männer, die dem Franken ihren Nacken zu beugen nimmer erlernen mochten, in diese Einöde gezogen251; in zerstreuten Ansiedelungen saßen ihre Nachkommen und trieben in Sommerszeit ihre Herden zur Alp, kräftig verständige Bergbewohner, die unangetastet vom Lärm der Welt ein einfach freies Leben genossen und den folgenden Geschlechtern vererbten.

Steiler und rauher ward der Pfad, den der Mann einschlug. Jetzt stund er unter senkrecht aufstarrender Felswand; ein schwerer Wassertropfen war aus dem Kalkgestein auf sein Haupt niedergetrauft, da schaute er prüfend empor, ob der grauenhafte Überhang noch anhalte mit dem Einsturz, bis er vorüber. Aber Felswände vermögen länger im schiefen Zustand zu verharren als das, was Menschenhände bauen; es stürzte nichts herab als ein zweiter Tropfen.

Mit der Linken am Gestein sich anlehnend, schritt der Mann vorwärts. Immer schmäler ward der Steig, der schwarze Abgrund zur Seite rückte näher, schwindelnde Tiefe gähnte herauf ... jetzt schwand auch die letzte Spur eines Pfades. Zwei mächtige Fichtenstämme waren als Brücke über den Abgrund gelegt. „Es muß sein!“ sprach der Mann und schritt unverzagt drüber. Er atmete hoch auf, wie er drüben wieder Boden unter den Füßen verspürte, und machte Halt, um sich den grausigen Platz zu betrachten. Es war ein schmaler Felsvorsprung, über und unter ihm senkrechte gelbgraue Steinwand, in der Tiefe, kaum sichtbar, ein Silberstreif im Grün des Tales, der Waldbach Sitter, und scheu versteckt im Tannendunkel der meerfarbige Spiegel des Seealpsee. Genüber gepanzert und gewappnet die Schar der Bergesriesen – die Feder will zu fröhlichem Sang aufjodeln, da sie ihre Namen schreiben soll: der langgestreckte rätselvolle Kamor, die gewaltigen Mauern der Boghartenfirst und Sigels Alp und Maarwiese, auf deren Zinnen wie Moos auf den Dächern würziger Graswuchs grünt, dann der Hüter des Seegeheimnisses, der „alte Mann“ mit runzelgefurchter Steinstirn und weißumschneitem Haupt, des hohen Säntis Kanzler und Busenfreund.

„Ihr Berge des Herrn, benedeiet den Herrn!“ sprach der Wandersmann, ergriffen von der Wucht des Eindrucks. Viel hundert Bergschwalben flatterten aus den Spalten des Gesteins. Ihr Flug soll gute Vorbedeutung sein.

Er tat etliche Schritte vorwärts. Da war die Felswand mächtig zerklüftet, eine doppelte Höhle tat sich auf, aus rohem Schaft zusammengefügt stand ein schmucklos Kreuz dabei, Tannenstämme an der einen Höhlenwand zum Blockhaus geschichtet und nach Art der damals üblichen Kriegsgerüste oder Belagerungstürme mit zusammengefügtem Flechtwerk überdacht, deuteten auf menschliches Anwesen. Kein Laut unterbrach die Stille.

Der Fremde kniete vor dem Kreuz nieder und betete lang.

Es war Ekkehard, – der Ort, wo er betete, das Wildkirchlein.

Unversehrt war er auf seinem Bergrutsch, als ihn Praxedis befreit, in die Tiefe gefahren; der andere Morgen fand ihn erschöpft beim alten Moengal in Radolfzelle. „Ach, daß ich in der Wüste ein Hüttlein der Wandersleute haben könnte, so wollte ich mein Volk verlassen und mich von ihnen absondern, denn sie sind Lügner und treulos zusammen“, sprach er mit den Worten des Propheten252, nachdem er dem Leutpriester sein Leid geklagt.

Da wies ihm der Alte den Säntis.

„Hast recht“, sprach Moengal. „Der heilige Gallus hat’s ebenso gemacht. ›In der Einsamkeit will ich verharren und auf den warten, der meine Seele gesund machen soll253‹; er wär’ vielleicht kein Heiliger geworden, wenn er anders gesagt und getan hätte. Verbeiß’ deinen Schmerz. Wenn der Adler siech wird und seine Augen dunkeln und seine Federn zergehen wollen, steigt er himmelan, so weit ihn seine Schwingen tragen254. Sonnennähe verjüngt. Tue desgleichen. Ich weiß dir ein gut Plätzlein zum Gesunden.“

Er beschrieb ihm den Weg.

„Du wirst einen droben finden“, fuhr er fort, „der seit zwanzig Jahren nicht mehr viel von der Welt gesehen hat, er heißt Gottschalk. Grüß ihn von mir; so Gott will, sind seine Sünden vergeben.“

Der Leutpriester verschwieg aber, um welcher Sünden willen sein ehemaliger Freund dort Buße tat. Den hatte in teuern Zeiten das Kloster einst ins Welschland gesendet, Korn einzukaufen, da kam er gen Verona und ward gut aufgenommen vom streitsüchtigen Bischof Ratherius, und tat seine Andacht in der ehrwürdigen Kathedralkirche. Dort lag unverschlossen im güldenen Sarg der Leib der heiligen Anastasia, und die Kirche war leer und den Gottschalk verführte der Teufel, daß er nach Deutschland wollte ein Angedenken mitbringen, da nahm er von der Heiligen Leib soviel er unter seiner Kutte mitschleppen konnte255: einen Arm und einen Fuß und etliche Wirbelknochen, und fuhr heimlich von dannen256. Aber seine Ruhe war verloren von jener Stunde, in Wachen und Traum stand die Heilige vor ihm, sie ging an der Krücke verstümmelt und zerrissen und forderte ihren Arm zurück und ihren Fuß – über Schluchten und Alpenpässe folgte sie ihm, an der Schwelle des heimischen Klosters trat sie ihm dräuend entgegen; da warf er halb wahnsinnig die Reliquienbeute von sich und floh auf die Höhen beim Säntis, den Lebensrest büßend zu verbringen, und schuf sich dort seine Klause.

Zwei Tage hatte der alte Moengal seinen jungen Freund beherbergt, dann schaffte er ihn nächtlich über den See. „Geh’ mir nicht ins Kloster zurück“, sprach er beim Auseinandergehen, „daß dich das dumme Gerede nicht umbringt. Spott schadet mehr als Strafe. Es gehört dir ein Denkzettel, aber die frische Luft soll dir ihn bringen, die hat ein Recht dazu, die andern nicht.“ Speer und Wolfspelz schenkte er ihm zum Abschied.

Scheu und heimlich zog Ekkehard von dannen. Es war eine bittere Empfindung, da er nächtlich an seinem noch halb in Trümmern liegenden Kloster vorüberschlich; etliche Lichter glänzten zu ihm herüber, er beflügelte seinen Schritt. Auch an der Abtszelle im Gebirgsland zog er ohne Ankehr vorbei, er wollte von des Klosters Leuten nicht erkannt sein.

... Jetzt war sein Gebet beendigt. Er schaute erwartungsvoll nach dem Höhleneingang, ob Gottschalk, der Einsiedel, nicht heraustrete und den neuen Ankömmling begrüße. Es regte sich nichts, die Höhle stund leer. „Sancta Anastasia, ignosce raptori!“ „Heilige Anastasia, verzeihe deinem Räuber!“ war mit eingetrocknetem Kräutersaft an die lichte Felswand angeschrieben. Ein steingehauener Trog fing das herabtropfende Felswasser; es lief über den Rand herab.

Er trat in die Kammer. Etliche tönerne Schüsseln standen bei einer Steinplatte, die als Herd gedient haben mochte. Ein grobgarniges Fischnetz lag in der Ecke, Hammer, Spaten, ein verrostet Beil dabei, auch viel zugeschnittene Kienspäne.

Auf tannenen Scheitern war eine Streu geschüttelt, von Moder und Gewürm zerfressen. Zwei Ratten sprangen, vom Eintretenden verscheucht, in eine Spalte des Bodens.

„Gottschalk!“ rief Ekkehard durch die hohle Hand. Dann tat er einen Schrei, wie er unter Leuten im Gebirg’ als Anruf üblich ist. Aber niemand erschien. Nähere Umschau zeigte, daß der Einsiedel nicht erst seit heute die Klause verlassen. In einem Krug war Milch zur Kruste eingetrocknet. Da trat Ekkehard betrübt wieder auf den schmalen Streif Erdreich, der zwischen Höhle und Abgrund das Stehen ermöglichte. Sein Blick wandte sich zur Linken. In weiter Ferne blaute ein Stück Bodensee über den Bergrücken. Die Pracht der Gebirgswelt vermochte nicht ein Gefühl von unendlichem Weh zu bannen. Einsam und gottverlassen stand er auf der jachen Höhe. Er reckte sein Ohr, als müsse er eines Menschen Stimme erlauschen. Aber nur das einförmig leise Rauschen des Windes durch die Tannen der Tiefe tönte herauf.

Seine Augen wurden feucht.

Es war spät geworden. Wohin? ... Ein starker Hunger zerstreute seine Gedanken. Er trug noch für drei Tage Speise bei sich. Da setzte er sich vor die Höhle und verzehrte unter Tränen seinen Abendimbiß. Sein Berg warf lange blaue Schatten auf die Wände genüber, nur die steinernen Gipfel glühten noch im Sonnenlicht.

„Solang’ das Kreuz am Felsen steht, werd’ ich nie ganz verlassen sein!“ sprach er. Er trug etliches Gras vom Abhang zusammen und richtete sich ein Lager auf die Stelle des vermoderten. Kühle Nachtluft zog herauf. Da hüllte er sich in Moengals geschenkten Mantel und legte sich nieder. Der Schlaf ist ein gutes Heilmittel für die Leiden der Jugend. Er kam auch über Ekkehard trotz Herzeleid und einsamer Felswildnis.

Die erste Dämmerung des Morgens zog über dem Haupte des Kamor auf, nur der Tagstern257 schien noch in schöner Farbe, da fuhr Ekkehard aus dem Schlummer. Es war ihm, als hab’ er ein lustig scharfes Hirtenjauchzen gehört. Dann glänzte im tiefen dunkeln Grund der Höhle ein Licht auf. Er glaubte zu träumen, als läg’ er noch im Kerker, und Praxedis nahe befreiend. Aber das Licht kam näher, Fackelglanz brennenden Kienspans; eine hochgeschürzte Maid trug die einfache Leuchte. Er sprang auf. Unerschrocken stand sie vor ihm und sprach: „Gott willkommen!“

Es war ein keck halbwildes Wesen von gelblicher Hautfarbe und sprühenden Augen, aus den Flechten des dunkelschwarzen Haares glänzte eine schwere silberne Nadel in Form eines Löffels, der geflochtene Korb auf dem Rücken und der Alpstock in der Rechten bezeichnete die Bewohnerin der Berge.

„Heiliger Gallus beschirme mich vor neuer Versuchung!“ dachte Ekkehard, aber sie rief vergnügt: „Gott willkommen noch einmal! Der Vater wird recht froh sein, daß wir einen neuen Bergbruder haben. Man merkt’s an der wenigen Milch der Kühe, sagt er immer, daß der alte Gottschalk tot ist.“

Es klang nicht wie die Stimme eines weiblichen Dämon.

Ekkehard war noch schlaftrunken. Er gähnte. „Vergelt’s Gott!“ sprach die Maid. „Warum vergelt’s Gott?“ fragte er.

„Weil Ihr mich soeben nicht verschluckt habt!“ lachte sie, und eh’ er weiter fragen konnte, woher und wohin, sprang sie mit dem Kienspan zurück und verschwand in der Höhle.

Bald kam sie wieder. Ein graubärtiger Senn, in eine Decke von Lämmerfell gehüllt, folgte ihr.

„Der Vater will’s nicht glauben!“ rief sie Ekkehard entgegen.

Bedächtig schaute der Hirt auf den fremden Gast. Er war ein rauher Mann, der einst in grüner Jugendzeit beim altherkömmlichen Kraftspiel des Steinstoßens den hundertpfündigen Feldstein wohl über zwanzig Schritte weit von sich geschleudert, ohne einen Fuß zu verrücken; sein gebräuntes Antlitz und seine sehnigen nackten Arme waren itzt noch Denkzeichen alter ungeschwächter Kraft.

„Ihr wollt unser Bergbruder sein?“ sprach er gutmütig zu Ekkehard und reichte ihm die Hand. „Recht so!“

Ekkehard war verlegen ob der wilden Erscheinung.

„Ich gedachte den Bruder Gottschalk zu besuchen“, erwiderte er.

„Beim Strahl! da kommt Ihr zu spät“, sprach der Senn. „Der hat sich verfallen im vorigen Herbst258, es war eine böse Geschichte. Schaut auf!“ er wies ihm eine Felswand in die Tiefe, – „auf jenen Hang ist er ins Laubsammeln gegangen, ich hab’ ihm selber geholfen: da fuhr er auf einmal empor, als hätt’ ihn eine Schlange gebissen, gegenüber auf den hohen Kasten hat er gedeutet, ›Heilige Anastasia‹, rief er, ›du bist wieder ganz und stehst auf beiden Füßen und winkst mit beiden Armen!‹ ... auf und davon ist er gesprungen, als wär’ zwischen dem Fels unten und dem hohen Kasten drüben kein Tal und kein Abgrund, mit kyrie eleison! ging’s in die greuliche Tiefe – Gott hab’ ihn selig! Aber erst im heurigen Frühjahr haben wir den Leichnam gefunden, zerklemmt in den Felsen, und die Lämmergeier waren drüber und haben einen Arm und ein Bein vertragen, kein Mensch weiß wohin ...“

„Mach’ ihm keine Angst!“ sprach die Maid und stieß den Sennen an.

„Deswegen mögt Ihr Euch doch bei uns festsetzen“, sprach der Senn. „Ihr bekommt, was wir dem Gottschalk gaben, Milch und Käs und drei Ziegen in den Stall, die mögen grasen, wo sie wollen. Im Notfall mögt Ihr auch mehr heischen, wir hier oben sind keine Geizkrägen und Musmehlspalter. Ihr predigt uns dafür an den Sonntagen und sprecht den Segen über Alm und Weiden, daß Wetter und Bergsturz kein Verderb bringen, und läutet die Tagszeit.“

Ekkehard sah zweifelhaft in den starren Höhlenraum. Es tat ihm wunderwohl, Menschen in der Nähe zu wissen, aber rätselhaft war’s, woher sie kamen. „Sind Eure Almen in des Berges Tiefe?“ fragte er lächelnd.

„Er weiß nicht, wo die Ebenalp steht!“ sprach das Hirtenkind mitleidig. „Ich will’s Euch zeigen!“

Ihr Kienspan brannte noch.

Sie wandte sich dem Innern der Höhle zu, die Männer folgten ihr. Da ging’s durch enge dunkle Wölbung ins Innere des Berges, niedergestürztes Gestein sperrte den Pfad, oft mußten sie gebückt weiter kriechen. Scharfe rötliche Streiflichter zuckten auf den Kanten der Wände, – dann fiel fahler Schimmer des Tages herein. Es ging in die Höhe, dort öffnete sich ein Ausgang. Die Hirtin stieß ihren Span an die seltsam geformten Tropfsteingebilde, die von der Decke niederhingen, daß er erlosch ... noch etliche Schritte, und sie stunden auf weiter herrlicher Alp.

Würziger Duft von Alpenpflanzen umströmte sie, da blühte Mannstreu und Knabenkraut und blauer Eisenhut, der prächtige Alpenschmetterling Apollo mit dem rotleuchtenden Auge auf den Flügeln wiegte sich über den Blumenkelchen – nach enger Höhlennacht erquickte ein weites, unendliches Rundbild den Blick.

Noch lag der Frühnebel in den Tälern, schwer, unbeweglich, zusammengeballt, als hätte überall ein gewaltiges Meer geströmt, und wäre im Augenblick, da es zu sprühendem Schaum aufwogte, versteinert worden; aber klar und scharf schnitten die Häupter der Berge ihren Umriß in das tiefe Blau der Himmelsdecke, wie riesige Inseln dem Schoß des Nebelmeers entsteigend. Auch der Bodensee war umnebelt, in leisem Duft türmten sich die Reihen der fernen Gebirge an rätischer Landmark mit ihren zackigen Felshörnern übereinand. Friedlich tönte weidender Herden Geläut von den Halden herauf. In Ekkehards Gemüt klang es wie ein stolz demütiges Morgengebet.

„Ihr bleibet bei uns“, sprach der alte Senn, „ich seh’ Euch’s an den Augen an.“

„Ich bin ein landfremder Mann“, erwiderte Ekkehard traurig, „mich hat der Abt nicht gesendet.“

„Das gilt gleich“, rief der Alte. „Wenn’s uns recht ist und dem Säntis dort droben, so hat niemand was drein zu reden. Des Abts Twing und Bann reicht nicht in unsere Höhen, wir zahlen ihm den Herdenzins, wenn seine Vögte am Milchprüfungstag259 zur Schau unserer Senntümer heraufkommen, weil’s alter Brauch ist, aber sonst: ›Sein’ Grund und Boden pflanz’ ich nicht, nach seiner Pfeife tanz’ ich nicht260‹, heißt’s hierzulande.“

„Schaut her!“ – er wies Ekkehard eine graue Bergspitze, die aus langgestreckten Eisfeldern einsam aufragte – „das ist der hohe Säntis, der ist Herr in den Bergen, vor dem schwenken wir den Hut, sonst vor niemand. Dort zur Rechten ist der blaue Schnee; da war früher Alm und Weide und saß ein übermütiger Mann drauf, der war ein Riese und ihm wuchsen die Herden und der Stolz, daß er sprach: ›ich will König sein über alles, was mein Auge umfaßt!‹ Aber in des Säntis Tiefen hub sich ein Donnern und Beben und der Felsgrund regte sich und Eisströme rannen hervor und deckten den Riesen samt Hütte und Stall und Vieh und Alm, und vom blauen Schnee weht’s jetzt noch frierend herunter, – ein Denkzeichen, daß neben dem Alten der Berge keiner zur Herrschaft berufen!“

Der Hirt schuf Ekkehard Vertrauen. Trotzige Kraft und gutes Herz strömte in seinen Worten. Sein Kind hatte einen Strauß Alpenrosen gepflückt und reichte sie Ekkehard dar.

„Wie heißt du?“ fragte er.

„Benedicta“, sprach sie.

„Das ist ein guter Name“, sagte Ekkehard und steckte die Alpenrosen in den Gürtel seiner Kutte; „ich bleibe bei euch!“

Da schüttelte ihm der alte Senne die Rechte, daß sie in ihren Grundfesten erbebte, dann griff er das Alphorn, das er an rohhäutigem Riemen auf der Schulter trug, und blies ein seltsam klingendes Zeichen. Aus Höhen und Tiefen klang’s antwortend herüber, die benachbarten Sennen kamen herbei, starke wilde Hirten, und standen zu dem Alten, den sie in der Frühlingszeit seiner Tüchtigkeit halber zum Alpmeister und Aufseher über die Bergweiden der Ebenalp erwählt.

„Wir haben einen Bergbrüder überkommen“, sprach er, „es wird keiner von euch dawider schelten und tosen261?“

Und sie erhoben alle die Hände als Zeichen der Zustimmung und gingen auf Ekkehard zu und hießen ihn willkommen, und er ward gerührt und machte das Zeichen des Kreuzes über sie.

So ward Ekkehard Einsiedel auf dem Wildkirchlein und wußte eigentlich selber nicht wie. Der Senn von der Ebenalp hielt Wort und half ihm, sich einzurichten, und stellte ihm drei Ziegen ein und wies ihm den Pfad zwischen Kluft und Spalt zum Seealpsee hinunter, wo die großen Forellen schwimmen, und schindelte ihm die Lücken zu, die tropfend Gewässer und Unbill des Wetters in das Dach von Gottschalks Blockhaus geschlagen. Mählich gewöhnte sich Ekkehard an die Enge des Raumes vor seiner Behausung, und wie der nächste Sonntag kam, trug er das hölzerne Kreuz ins Innere der vorderen Höhle, wand einen Kranz Blumen drum, zog die Glocke, die aus Gottschalks Zeiten am Eingang hing – (sie trug das Zeichen Tanchos, des tückischen Glockengießers von Sankt Gallen), und als seine Sennen mit Buben und Mägdlein beisammen waren, hielt er der kleinen Gemeinde eine Predigt über das Evangelium von der Verklärung und sprach darüber, daß ein jeder Mensch, der mit rechtem Sinn zu Bergeshöhen steige, ein verklärter werde. „Und wenn auch Moses und Elias nicht zu uns herabtreten“, rief er, „so haben wir den Säntis und den Kamor bei uns stehen, das sind auch Männer eines alten Bundes und es ist gut bei ihnen sein!“

Seine Worte waren groß und keck, und er wunderte sich, daß sie ihm so entströmten, denn es war schier ketzerisch und er hatte in keinem Kirchenvater solch Gleichnis gelesen. Aber den Sennen war’s recht und den Bergen auch und niemand tat Einsprache.

Des Mittags kam Benedicta, das Hirtenkind; ein silbern Kettlein schmückte das Sonntagsmieder, das wie ein Panzer die Brust umschloß. Sie brachte einen saubern eschenholzenen Milchkübel, drauf war in kunstlosen Linien eine Kuh geschnitzt. „Den schickt Euch der Vater“, sagte sie, „darum, daß Ihr so auferbaulich geprediget und von den Bergen Gutes gesprochen – und wenn Euch einer was Leides tun will, sollt Ihr wissen, wo die Ebenalp steht.“

Sie warf etliche Handvoll Haselnüsse aus ihrer Schurztasche in das Milchgefäß: „die hab’ ich für Euch gepflückt“, sagte sie, „und ich weiß noch mehr, wenn sie Euch schmecken“.

Bevor sich Ekkehard bedanken konnte, war sie in der Höhlentiefe verschwunden.

„Schwarzbraun sind die Haselnüss’,

Und schwarzbraun bin auch ich,

Und wenn mich einer lieben will,

So muß er sein wie ich“,

tönte verklingend ihr schalkhafter Gesang durch die Klause.

Ekkehard lächelte wehmütig.

Aber ganz war der Sturm in seinem Herzen noch nicht geschwichtigt; es hallte und tönte in ihm nach wie der Donner des Alpengewitters, der an ferner Bergwand zu neuem Dröhnen sich zusammenrafft.

Eine riesige Felsplatte war bei der Höhle niedergestürzt, schmelzendes Schneewässer hatte sie im Frühling losgenagt, sie sah aus wie die Decke eines Grabmals. Dort saß er oft, er nannte sie stillschweigend das Grab seiner Liebe; oft kam’s ihm vor, als ruhe die Herzogin und er selber in kühlem Schlaf der Toten darunter, und er saß drauf und schaute über die tannumsäumten grünen Rücken nach dem Bodensee hinüber und träumte. Es war ihm nicht gut, daß er den See von seiner Klause erschauen konnte, wunde Rückerinnerung durchschmerzte sein Inneres. Oft wollt’ er zornig aufbrausen, oft bog er sich abendlich um die Ecke seines Felsens in der Richtung des Untersees und hauchte Grüße hinaus262. Wem galten sie?

Der Traum der Nacht war wirr und bewegt. Er sah sich wieder in der Burgkapelle und die ewige Lampe schwebte über der Herzogin Haupt wie damals, und wie er auf seine Gebieterin zustürzen wollte, hatte sie das Antlitz der Waldfrau und lachte ihm höhnisch ins Gesicht; und wenn er frühmorgens von seinem Streulager aufsprang, hörte er sein eigen Herz pochen und das Wort Frau Hadwigs: „O Schulmeister, warum bist du kein Kriegsmann worden?“ verfolgte ihn, bis die Sonne hoch am Himmel stand oder der Anblick Benedictas es verscheuchte.

Oft warf er sich ins kurze schwellende Gras am Abhang und überdachte die letzten Monate; in läuternder Schärfe der Alpenluft prägten sich Gestalten und Ereignisse klar vor seinem Denken, es peinigte ihn das Gefühl, daß er sich zag und scheu und töricht benommen und nicht einmal die Aufgabe gelöst, eine Geschichte zu erzählen, wie Herr Spazzo und Praxedis. „Ekkehard, du bist lächerlich geworden“, sprach er höhnisch leise zu sich selber und vermeinte dabei, er müsse an den Felswänden sein Gehirn anrennen.

Melancholisch Gemüt zehrt lang’ an erlittener Beschädigung und vergißt in seinem Brüten, daß tadelhafte Tat nur durch nachfolgende bessere im Gemüt der Menschen verwischt wird.

Darum war Ekkehard noch nicht reif für die klärenden Wonnen der Einsamkeit. Der haftende Eindruck vergangenen Leids tat eine seltsame Wirkung; wenn er in seiner Höhlenstille saß, glaubte er Stimmen zu hören, die spottend mit ihm plauderten von törichten Hoffnungen und den Täuschungen der Welt, Flug und Ruf der Vögel klang ihm wie kreischender Schrei der Dämonen und sein Gebet half nicht dawider. Wenn Schauer der Wildnis den Geist erfüllt, täuscht sich Ohr und Auge und glaubt die alten Sagen, daß alles von Mitte der Luft bis hernieder und die Erde selber, da wo sie unbauhaft263, erfüllt sei vom Reigentanz ewig lebender Geister.

Es war eine weiche würzige Spätsommernacht, er wollte sich auf sein einfach Lager werfen, da schien der Mond in scharfem Glanz die Höhle an, zwei weiße Wolken zogen langsam einander nach, er hörte, wie sie zueinander sprachen, und die eine Wolke war Frau Hadwig, die andere Praxedis. „Ich will doch sehen, wie die Ruhestatt eines flüchtigen Toren aussieht“, sprach die vordere weiße Wolke und streifte eilend über die Scheitel der wagrechten Wände und stand gegenüber der Höhle über dem Kamor, dann senkte sie sich nieder zu den Tannen, die talab in unzähligen Reihen standen: „Er ist’s!“ rief die Wolke, „greifet den Frevler!“ und die Tannen wurden lauter Mönche, tausend und aber tausend, und wurden lebendig und zogen wimmelnd aus und begannen die Abhänge des Wildkirchlein zu ersteigen, psalmend und rutenschwingend – da sprang Ekkehard schauernd auf und griff seinen Speer – itzt war’s, als wenn Irrlichter aus der Höhlentiefe vorhüpften: „hinaus aus den Alpen!“ rief’s hinter ihm – alle Adern fieberten, da rannte er fort über den schmalen Steg an den dräuenden Felsüberhängen hinaus in die Nacht wie ein Verzweifelter. Noch stand die zweite Wolke beim Mond: „Ich kann dir nicht helfen“, sprach sie mit Praxedis’ Stimme, „ich weiß den Weg nicht ...“

Er rannte bergab, das Leben war ihm eine Qual, und doch tastete er am abspringenden Boden und stemmte den Speer ein, um nicht hinabzustürzen und den herankletternden Spukgestalten in die Hände zu fallen.

Der nächtliche Rutsch den Hohentwiel hinab war ein Kinderspiel gegen dieses Klimmen; über schwindelnden Abgrund, der Gefahr unwissend, kam er zur Tiefe. Die Ziegen stürzen dort in zerschmetterndem Fall zu Tale, wenn sie die Augen von Gras und Berghang weg zur halsbrechenden Schlucht wenden.

Jetzt stand er unten; da lag geheimnisvoll lockend der grüne Seealpsee, vom Mondlicht umzittert. Von den verfaulten Stämmen am Ufer ging ein gespenstig Scheinen. Es ward trüb vor Ekkehards Blick. „Nimm du mich auf!“ rief er, „mein Herz will Ruhe!“

Er rannte hinein in die stille glatte Flut, – aber der Boden wich nicht unter ihm, wohltätig kühlend drang ihm des Bergsees Frische durch Mark und Bein.

Schon stund er bis an die Brust im Wasser, da hemmte er seinen Schritt. Wirr schaute er auf, die weißen Wolken waren verschwunden, vom Mond in Duft zerlöst, traurig prächtig funkelte Stern an Stern ihm zu Häupten.

In kühn phantastischer Linie schwang die Möglisalp ihren bis zur höchsten Höhe grasumwachsenen Gipfel mondaufwärts; ihr zur Linken ruhig und ernst das durchfurchte Haupt des alten Mann, zur Rechten aus gedoppeltem Eisfeld sich emportürmend die graue Pyramide des Säntis, Zacken und Felshörner ringsum wie furchtbare Schrecken der Nacht. Da knieete Ekkehard auf den Steinboden des Sees, daß ihm die Flut über dem Haupt zusammenschlug, dann tauchte er wieder auf und stund unbeweglich, die Arme hoch erhoben wie ein Beter264.

Der Mond ging über dem Säntis unter, bläulicher Schimmer leuchtete auf dem alten Schnee der Gletscher, da zuckte ein stechender Schmerz durch Ekkehards Gehirn, die Berge um ihn tanzten und schwankten, sausendes Getön strömte durch die Wälder, aufschäumte der See, viel tausend werdende Frösche in schwarzer Kaulquappengestalt wimmelten in den Wogen ... Aber in tauiger Schöne stieg die Gestalt eines Weibes265 empor und entschwebte bis zum Gipfel der Möglisalp, dort saß sie im samtweichen Grün und strich das Wasser aus dem langen triefenden Haar und flocht sich einen Kranz aus Alpenblumen, in den Schluchten hob sich ein Krachen, der Säntis reckte sich auf, der alte Mann zur Rechten nicht minder, Gestalten himmelstürmenden Ursprungs tobten sie gegeneinand, der Säntis griff seine Wände und schleuderte sie hinüber, und der alte Mann riß sich sein Haupt ab und warf’s auf die Säntispyramide – itzt stund der Säntis zur Rechten und der alte Mann floh vor ihm zur Linken, aber die Jungfrau des Sees saß in lächelnder Ruhe auf ihrer Alpe und spottete der steinernen Zweikämpfer und rang ihr felsgelbes Gelock, draus entströmte perlender Wasserfall und strömte stärker und strömte wilder und wirbelte die Maid mit den feuchten Augen rauschend hinab in den See – da schwichtigte sich das Toben der Berge, der Altmann griff sein weggeworfenes Haupt und setzte es auf und wandelte schmerztraurig jodelnd zurück zur Kluft, in die er gehörte, und der Säntis stund wieder am alten Platz und seine Schneefelder leuchteten wie vordem.

... Als Ekkehard des andern Tages erwachte, lag er in seiner Höhle, von fiebrigem Frost durchschüttelt – in den Knieen todmüde Zerbrochenheit.

Die Sonne stand in der Mittagshöhe.

Benedicta huschte draußen vorbei und sah ihn zitternd daliegen, den Wolfspelz umgeschlagen. Die Kutte hing triefend und wasserschwer über einem Felsstück.

„Wenn Ihr wieder Forellen im Seealpsee fangen wollt, Bergbruder“, sprach sie, „so laßt mich’s wissen, daß ich Euch führe. Der Handbub, der Euch vor Sonnenaufgang begegnete, hat gesagt, Ihr seid den Berg heraufgewankt wie ein Nachtwandler.“

Sie ging und läutete die Mittagglocke für ihn.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ekkehard