Zweites Kapitel. - Die Jünger des heiligen Gallus. - Des andern Tages fuhr die Herzogin samt Praxedis und großer Gefolgschaft im lichten Schein des Frühmorgens über den Bodensee. ...

Des andern Tages fuhr die Herzogin samt Praxedis und großer Gefolgschaft im lichten Schein des Frühmorgens über den Bodensee. Der See war prächtig blau, die Wimpel flaggten lustig, und war viel Kurzweil auf dem Schiff. Wer sollt’ auch traurig sein, wenn er über die kristallklare Wasserfläche dahinschwebt, die baumumsäumten Gestade mit Mauern und Türmen ziehen im bunten Wechsel an ihm vorbei, fern dämmern die schneeigen Firnen und der Widerschein des weißen Segels verzittert im Spiele der Wellen?

Keines wußte, wo das Ziel der Fahrt. Sie waren’s! aber so gewohnt.


Wie sie an der Bucht von Rorschach10 anfuhren, hieß die Herzogin einlenken. Zum Ufer steuerte das Schiff, übers schwanke Brett stieg sie ans Land. Und der Wasserzoller kam herbei, der dort den Welschlandfahrern das Durchgangsgeld abnahm, und der Weibel des Marktes und wer immer am jungen Hafenplatz seßhaft war, sie riefen der Landesherrin ein rauhes: „Heil Herro! Heil Liebo11!“ zu und schwangen mächtige Tannenzweige. Grüßend schritt sie durch die Reihen und gebot ihrem Kämmerer, etliche Silbermünzen auszuwerfen, aber es galt kein langes Verweilen. Schon standen die Rosse bereit, die waren zur Nachtzeit insgeheim vorausgeschickt worden; wie alle im Sattel saßen, sprach Frau Hadwig: „Zum heiligen Gallus!“ Da schauten sich die Dienstleute verwundert an: Was soll uns die Wallfahrt? Zum Antworten war’s nicht Zeit, schon ging’s im Trab das hügelige Stück Landes hinauf, dem Gotteshause entgegen.

Sankt Benedikt und seine Schüler haben die bauliche Anlage ihrer Klöster wohl verstanden. Land ab, Land auf, so irgendwo eine Ansiedelung steht, die gleich einer Festung einen ganzen Strich beherrscht, als Schlüssel zu einem Tal, als Mittelpunkt sich kreuzender Heerstraßen, als Hort des feinsten Weinwuchses: so mag der Vorüberwandernde bis auf weitere Widerlegung die Vermutung aussprechen, daß sotanes Gotteshaus dem Orden Benedicti zugehöre oder vielmehr zugehört habe, denn heutigentages sind die Klöster seltener und die Wirtshäuser häufiger, was mit steigender Bildung zusammenhängt.

Auch der irische Gallus hatte einen löblichen Platz erwählt, da er, nach Waldluft gierig12, in helvetischer Einöde sich festsetzte; ein hochgelegenes Tal, durch dunkle Bergrücken von den milderen Gestaden des Sees gesondert, steinige Waldbäche brausen vorüber, und die riesigen Wände des Alpsteins, dessen Spitzen mit ewigem Schnee umhüllt im Gewölke verschwinden, erheben sich als schirmende Mauer zur Seite.

Es war ein sonderbarer Zug, der jene Glaubensboten von Albion und Erin aufs germanische Festland führte. Genau besehen ist’s ihnen kaum zu allzu hohem Verdienst anzurechnen. „Die Gewohnheit, in die Fremde zu ziehen, ist den Briten so in die Natur gewachsen, daß sie nicht anders können13“, schrieb schon in Karl des Großen Tagen ein unbefangener schwäbischer Mann. Sie kamen als Vorfahren der heutigen Touristen, man kannte sie schon von weitem am fremdartig zugeschnittenen Felleisen14. Und ein mancher blieb haften und ging nimmer heim, wiewohl die ehrsamen Landesbewohner ihn für sehr unnötig halten mochten. Aber die größere Zähigkeit, das Erbteil des britischen Wesens, lebensgewandte Kunst, sich einzurichten, und beim Volk die mystische Ehrfurcht vor dem Fremden gab ihren Strebungen im Dienst der Kirche Bestand.

Andere Zeiten, andere Lieder! Heute bauen die Enkel jener Heiligen den Schweizern für gutes eidgenössisches Geld die Eisenbahn15.

Aus der schmucklosen Zelle an der Steinach, wo der irische Einsiedel seine Abenteuer mit Dornen, Bären und gespenstigen Wasserweibern bestand, war ein umfangreich Kloster emporgewachsen. Stattlich ragte der achteckige Turm der Kirche aus schindelgedeckten Dächern der Wohngebäude; Schulhäuser und Kornspeicher, Kellerei und Scheunen waren daran gebaut, auch ein klappernd Mühlrad ließ sich hören, denn aller Bedarf zum Lebensunterhalt muß in des Klosters nächster Nähe bereitet werden, auf daß es den Mönchen nicht notwendig falle, in die Ferne zu schweifen, was ihrem Seelenheil undiensam. Eine feste Ringmauer mit Turm und Tor umschloß das Ganze, minder des Zierats als der Sicherheit halber, maßen mancher Gewaltige im Land das Gebot: „Laß dich nicht gelüsten deines Nachbars Gut!“ dazumal nicht allzustrenge einhielt.

Es war Mittagszeit vorüber, schweigende Ruhe lag über dem Tal. Des heiligen Benedikt Regel ordnet für diese Stunde, daß ein jeder sich still auf seinem Lager halte, und wiewohl von der gliederlösenden Glut italischer Mittagssonne, die Menschen und Tier in des Schlummers Arme treibt, diesseits der Alpen wenig zu verspüren, folgten sie im Kloster doch pflichtgemäß dem Gebot16.

Nur der Wächter auf dem Torturm stand, wie immer, treulich und aufrecht im mückendurchsummten Stüblein.

Der Wächter hieß Romeias und hielt gute Wacht. Da hörte er durch den nahen Tannwald ein Roßgetrabe; er spitzte sein Ohr nach der Richtung. „Acht oder zehn Berittene!“ sprach er nach prüfendem Lauschen; er ließ das Fallgatter vom Tor herniederrasseln, zog das Brücklein, was über den Wassergraben führte, auf und langte sein Horn vom Nagel. Und weil sich einiges Spinnweb’ drin festgesetzt hatte, reinigte er dasselbe.

Jetzt kamen die vordersten des Zuges am Waldsaum zum Vorschein. Da fuhr Romeias mit der Rechten über die Stirn und tat einen sonderbarlichen Blick hinunter. Das Endergebnis seines Blickes war ein Wort: „Weibervölker!?“ – er sprach’s halb fragend, halb als Ausruf, und lag weder Freudigkeit noch Auferbauung in seinem Worte. Er griff sein Horn und blies dreimal hinein. Es war ein ungefüger stiermäßiger Ton, den er hervorlockte, und war dem Hornblasen deutlich zu entnehmen, daß weder Musen noch Grazien die Wiege des Romeias zu Villingen im Schwarzwald umstanden hatten.

Wenn einer im Wald sich umgeschaut hat, so hat er sicher schon das Getrieb eines Ameisenhaufens angesehen. Da ist alles wohlgeordnet und geht seinen gemeinsamen Gang und freut sich der Ruhe in der Bewegung: itzt fährst du mit deinem Stab darein und scheuchest die vordersten: da bricht Verwirrung aus, Rennen und wimmelnder Zusammenlauf – alles hat der eine Stoß verstört. Also und nicht anders fuhr der Stoß aus Romeias Horn aufjagend ins stille Kloster.

Da füllten sich die Fenster am Saal der Klosterschulen mit neugierigen jungen Gesichtern, manch lieblicher Traum in einsamer Zelle entschwebte, ohne seinen Schluß zu finden, manch tiefsinnige Meditation halbwachender Denker desgleichen; der böse Sindolt, der in dieser Stunde auf seinem SchragenA1 des Ovidius verboten Büchlein „Von der Kunst, zu lieben“ zu ergründen pflegte, rollte eiligst die pergamentnen Blätter zusammen und barg sie im schützenden Versteck seines Strohsacks.

Der Abt Cralo sprang aus seinem Lehnstuhl und reckte seine Arme der Decke seines Gemachs entgegen, ein schlaftrunkener Mann; auf schwerem Steintisch stund ein prachtvoll silbern Wasserbecken17, darein tauchte er den Zeigefinger und netzte die Augen, des Schlummers Rest zu vertreiben. Dann hinkte er zum offenen Söller seines Erkers und schaute hinab.

Und er ward betrüblich überrascht, als wär’ ihm eine Walnuß aufs Haupt gefallen: „Heiliger Benedikt, sei mir gnädig, meine Base, die Herzogin!“

Sofort schürzte er seine Kutte, strich den schmalen Buschel Haare zurecht, der ihm inmitten des kahlen Scheitels noch stattlich emporwuchs gleich einer Fichte im öden Sandfeld18, hing das güldene Kettlein mit dem Klostersigill um, nahm seinen Abtsstab von Apfelbaumholz, dran der reichverzierte Elfenbeingriff erglänzte, und stieg in den Hof hernieder.

„Wird’s bald?“, rief einer der Berittenen draußen. Da gebot er dem Wächter, daß er die Angekommenen nach ihrem Begehr frage. Romeias tat’s.

Jetzt ward draußen ins Horn gestoßen, der Kämmerer Spazzo ritt als Herold ans Tor und rief mit tiefer Stimme:

„Die Herzogin und Verweserin des Reichs in Schwabenland entbeut dem heiligen Gallus ihren Gruß. Schaffet Einlaß!“

Der Abt seufzte leise auf. Er stieg auf Romeias’ Warte; an seinen Stab gelehnt gab er denen vor dem Tor den Segen und sprach:

„Im Namen des heiligen Gallus dankt der unwürdigste seiner Jünger für den erlauchten Gruß. Aber sein Kloster ist keine Arche, drin jegliche Gattung von Lebendigem, Reines und Unreines, Männlein und Weiblein Eingang findet. Darum – ob auch das Herz von Betrübnis erfüllt wird – ist Einlaßschaffen ein unmöglich Ding. Der Abt muß am Tag des Gerichts Rechenschaft ablegen über die seiner Hut vertrauten Seelen. Die Nähe einer Frau, und wär’ sie auch die erlauchteste im Lande, und der hinfällige Scherz der Kinder dieser Welt wär’ allzu große Versuchung für die, so zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit trachten müssen. Beschweret das Gewissen des Hirten nicht, der um seine Lämmer Sorge trägt. Kanonische Satzung sperrt das Tor.

Die gnädige Herzogin wird in Trogen oder Rorschach des Klosters Villa zu ihrer Verfügung finden ...“

Frau Hadwig saß schon lange ungeduldig im Sattel; jetzt schlug sie mit der Reitgerte ihren weißen Zelter, daß er sich mäßig bäumte, und rief lachenden Mundes:

„Spart die Umschweife, Vetter Cralo, ich will das Kloster sehen!“

Wehmütig hub der Abt an: „Wehe dem, durch welchen Ärgernis in die Welt kommt. Ihm wäre heilsamer, daß an seinem Hals ein Mühlstein ...“

Aber seine Warnung kam nicht zu Ende. Frau Hadwig änderte den Ton ihrer Stimme: „Herr Abt, die Herzogin in Schwaben muß das Kloster sehen!“ sprach sie scharf.

Da ward es dem Schwergeprüften klar, daß weiterer Widerspruch kaum möglich ohne große Gefahr für des Gotteshauses Zukunft. Noch sträubte sich sein Gewissen. Wenn einer in zweifelhafter Lage aus sich selber keine Auskunft zu schöpfen weiß, ist’s dem schwanken Gemüt wohltätig, andere zu gutem Rat beizuziehen, das nimmt die Verantwortung und deckt den Rücken.

Darum rief Herr Cralo jetzt hinunter: „Da Ihr hartnäckig darauf besteht, muß ich’s der Ratsversammlung der Brüder vortragen. Bis dahin geduldet Euch!“

Er schritt zurück über den Hof, im Herzen den stillen Wunsch, daß eine Sündflut vom Himmel die Heerstraße zerstören möge, die so leichtlich unberufenen Besuch herbeiführe. Sein hinkender Gang war eilig und aufgeregt, und es ist nicht zu verwundern, daß berichtet wird, er sei in selber Zeit in dem Klostergang auf- und abgeflattert wie ein Schwälblein vor dem Gewitter19.

Fünfmal erklang jetzt das Glöcklein von des heiligen Othmar Kapelle neben der Hauptkirche und rief die Brüder zum Kapitelsaal. Und der einsame Kreuzgang belebte sich mit einherwandelnden Gestalten; gegenüber vom sechseckigen Ausbau, wo unter säulengetragenen Rundbogen der Springquell anmutig in die metallene Schale niederplätscherte, war der Ort der Versammlung, eine einfache graue Halle; auf erhöhtem Ziegelsteinboden hob sich des Abtes Marmorstuhl, dran zwei rohe Löwenköpfe ausgehauen, Stufen führten hinauf. Vergnüglich streifte das Auge von dort an den dunkeln Pfeilern und Säulen vorüber ins Grün des Gärtleins im innern Hofe; Rosen und Malven blühten drin empor; die Natur sucht gütig auch die heim, die sich ihr abgekehrt.

In scharfem Gegensatz der Farbe hoben sich die weißen Kutten und dunkelfarbigen Oberkleider vom Steingrau der Wände; lautlos traten die Berufenen ein, flüchtig Nicken des Hauptes war der gegenseitige Gruß; wärmender Sonnenstrahl fiel durchs schmale Fenster auf ihre Reihen.

Es waren erprobte Männer, ein heiliger und Gott wohlgefälliger Senat20.

Der mit dem schmächtigen Körper und dem scharfen, von Fasten und Nachtwachen geblaßten Antlitz war Notker, der Stammler; ein wehmütig Zucken spielte um seine Lippen, lange Übung der Askesis hatte seinen Geist der Gegenwart entrückt. Früher hatte er gar schöne Singweisen erdacht, jetzt war er verdüstert und ging in der Stille der Nacht den Dämonen nach, mit ihnen zu kämpfen; in der Krypta des heiligen Gallus hatte er jüngst den Teufel erreicht und so darniedergeschlagen, daß er mit lautem Auwehschrei in einen Winkel sich barg; und seine Neider sagten, auch sein schwermütiges Lied, „Media vitaA2“ sei unheimlichen Ursprungs und vom bösen Feind geoffenbart als Lösegeld, da er ihn in seiner Zelle siegreich zusammengetreten unter starkem Fuße festhielt.

Aber neben ihm lächelte ein gutmütig ehrenfest Gesicht aus eisgrauem Bart herfür; der starke Tutilo war’s, der saß am liebsten vor der Schnitzbank und schnitzte die wunderfeinen Bildwerke in Elfenbein, noch gibt das Diptychon mit Marias Himmelfahrt und dem Bären des heiligen Gallus Zeugnis von seiner Kunst. Aber wenn ihm der Rücken sich krümmen wollte von der Arbeit Last, zog er singend hinab auf die Wolfsjagd oder suchte einen ehrlichen Faustkampf zur Erholung, er focht lieber mit bösen Menschen als mit nächtlichem Spuk und sagte oft im Vertrauen zu seinem Freund Notker: „Wer so manchem in Christenheit und Heidenschaft ein blaues Denkzeichen verabreicht, wie ich, kann der DämonomachiaA3 entbehren.“

Auch Ratpert kam herzu, der lang’ erprobte Lehrer der Schule, der immer unwillig auffuhr, wenn ihn das Kapitelglöcklein von seinen Geschichtsbüchern abrief. In vornehmer Haltung trug er das Haupt; er und die beiden andern waren ein Herz und eine Seele, ein dreiblättriger Klosterklee, so verschieden auch ihr Wesen21. Weil er unter den letzten in den Saal trat, kam Ratpert neben seinen Widersacher zu stehen, den bösen Sindolt, der tat, als sähe er ihn nicht, und flüsterte seinem Nachbar etwas zu; der war ein klein Männlein mit einem Gesicht wie eine Spitzmaus und kniff den Mund zusammen, denn Sindolt hatte ihm soeben zugeraunt, im großen Wörterbuch des Bischofs Salomo22 sei zu der Glosse: „Rabulista bedeutet einen, der über jeglich Ding der Welt disputieren will“, von unbekannter Hand zugeschrieben worden: „Wie Radolt, unser Denkmann.“

Aus dem Dunkel im Saalesgrund ragte Sintram hervor, der unermüdliche Schönschreiber, dessen Schriftzüge die ganze zisalpinische Welt bewunderte23; die größten von Sankt Gallus Jüngern an Maß des Körpers waren die Schotten, die am Eingang ihren Stand nahmen, Fortegian und Failan, Dubslan und Brendan und wie sie alle hießen, eine untrennbare Landsmannschaft, aber mißvergnügt über Zurücksetzung; auch der rotbärtige Dubduin stand dabei, der trotz der schweren eisernen Bußkette nicht zum Propst gewählt ward und zur Strafe für seine beißenden Schmähverse auf die deutschen Mitbrüder drei Jahre lang den dürren Pfirsichbaum im Klostergarten begießen mußte.

Und Notker, der Arzt, stund unter den Versammelten, der erst jüngst des Abts hinkendem Fuß die große Heilkur verordnet hatte mit Einreibung von Fischgehirn und Umschlag einer frisch abgezogenen Wolfshaut, auf daß die Wärme des Pelzes die gekrümmten Sehnen gerad biege24: sie hießen ihn das Pfefferkorn ob seiner Strenge in Handhabung der Klosterzucht; – und Wolo, der keine Frau ansehen konnte und keine reifen Äpfel25, und Engelbert, der Einrichter des Tiergartens, und Gerhard, der Prediger, und Folkard, der Maler: Wer kennt sie alle, die löblichen Meister, bei deren Aufzählung schon das nächstfolgende Klostergeschlecht wehmütig bekannte, daß solche Männer von Tag zu Tag seltener würden?

Jetzo bestieg der Abt seinen ragenden Steinsitz, und sie ratschlagten, was zu tun. Der Fall war schwierig. Ratpert trat auf und wies aus den Aufzeichnungen vergangener Zeit nach, auf welche Art einst dem großen Kaiser Karl ermöglicht worden, in des Klosters Inneres zu kommen26. „Damals“, sprach er, „ward angenommen, er sei ein Ordensbruder, solang’ er in unsern Räumen weile, und alle taten, als ob sie ihn nicht kenneten; kein Wort ward gesprochen von kaiserlicher Würde und Kriegstaten oder demütiger Huldigung, er mußte einherwandeln wie ein anderer auch, und daß er des nicht beleidigt war, ist der Schutzbrief, den er beim Abzug über die Mauern hineinwarf, Zeuge.“

Aber damit war das große Bedenken, daß jetzt eine Frau Einlaß begehrte, nicht gelöst. Die strengeren Brüder murrten, und Notker, das Pfefferkorn, sprach: „Sie ist die Witib jenes Landverwüsters und Klosterschädigers, der den kostbaren Kelch bei uns als Kriegssteuer erhob27 und höhnend dazu sagte: ›Gott ißt nicht und trinkt nicht, was nützen ihm die güldenen Gefäße?‹ Laßt ihr das Tor geschlossen!“

Das war jedoch dem Abt nicht recht. Er suchte einen Ausweg. Die Beratung ward stürmisch, sie sprachen hin und her. Der Bruder Wolo, da er hörte, daß von einer Frau die Rede, schlich leis von dannen und schloß sich in seine Zelle.

Da hob sich unter den jüngeren einer und erbat das Wort.

„Sprechet, Bruder Ekkehard28“, rief der Abt.

Und das wogende Gemurmel verstummte; alle hörten den Ekkehard gern. Er war jung an Jahren, von schöner Gestalt und fesselte jeden, der ihn schaute, durch sittige Anmut; dabei weise und beredt, von klugverständigem Rat und ein scharfer Gelehrter. An der Klosterschule lehrte er den Virgilius, und wiewohl in der Ordensregel geschrieben stund: zum Pörtner soll ein weiser Greis erwählt werden, dem gesetztes Alter das Irrlichtelieren unmöglich macht, damit die Ankommenden mit gutem Bescheid empfangen seien, so waren die Brüder eins, daß er die erforderlichen Eigenschaften besitze, und hatten ihm auch das Pörtneramt übertragen.

Ein kaum sichtbares Lächeln war über seinen Lippen gelegen, dieweil die Alten sich stritten. Jetzt erhob er seine Stimme und sprach:

„Die Herzogin in Schwaben ist des Klosters Schirmvogt und gilt in solcher Eigenschaft als wie ein Mann. Und wenn in unserer Satzung streng geboten ist, daß kein Weib den Fuß über des Klosters Schwelle setze: man kann sie ja darüber tragen.“

Da heiterten sich die Stirnen der Alten, als wäre jedem ein Stein vom Herzen gefallen, beifällig nickten die Kapuzen, auch der Abt war des verständigen Wortes nicht unbewegt und sprach:

„Fürwahr, oftmals offenbart der Herr einem Jüngeren das Dienlichste29, Bruder Ekkehard, Ihr seid sanft wie die Taube, aber klug wie die Schlange, so sollt Ihr des eigenen Rats Vollstrecker sein. Wir geben Euch Dispens.“

Dem Pörtner schoß das Blut in die Wangen, er verbeugte sich, seinen Gehorsam anzudeuten.

„Und der Herzogin weibliche Begleitung?“ frug der Abt weiter. Da wurde der Konvent eins, daß für diese auch die freimütigste Gesetzesauslegung keine Möglichkeit des Eintritts eröffne. Der böse Sindolt aber sprach: „Die mögen indessen zu den Klausnerinnen auf den Irenhügel gehen; wenn des heiligen Gallus Herde von einer Landplage heimgesucht wird, soll die fromme Wiborad auch ein Teil daran leiden.“

Der Abt pflog noch eine lange flüsternde Verhandlung! mit Gerold, dem Schaffner, wegen des Vesperimbisses; dann stieg er von seinem Steinsitz und zog mit der Brüder Schar den Gästen entgegen. Die waren draußen schon dreimal um des Klosters Umfriedung herumgeritten und hatten sich mit Glimpf und Scherz des Wartens Ungeduld vertrieben.

In der Tonweise: „Justus germinavit“ kamen jetzt die eintönigen schweren Klänge des Lobliedes auf den heiligen Benedictus aus dem Klosterhof zu den Wartenden gezogen, das schwere Tor knarrte auf, heraus schritt der Abt, paarweise langsamen Ganges der Zug der Brüder, die beiden Reihen erwiderten sich die Strophen des Hymnus.

Dann gab der Abt ein Zeichen, daß der Gesang verstumme. „Wie geht’s Euch, Vetter Cralo“, rief die Herzogin leichtfertig vom Roß, „hab’ Euch lange nicht gesehen. Hinket Ihr noch?“

Cralo aber sprach ernst: „Es ist besser, der Hirt hinke als die Herde30. Vernehmet des Klosters Beschluß.“

Und er eröffnete die Bedingung, die sie auf den Eintritt gesetzt. Da sprach Frau Hadwig lächelnd: „Solang’ ich den Scepter führe in Schwabenland, ist mir ein solcher Vorschlag nicht gemacht worden. Aber Eures Ordens Vorschrift soll von uns kein Leides geschehen, welchem der Brüder habt Ihr’s zugewiesen, die Landesherrin über die Schwelle zu tragen?“

Sie ließ ihr funkelnd Auge über die geistliche Heerschar streifen. Wie sie auf Notker, des Stammlers, unheimlich Schwärmerantlitz traf, flüsterte sie leise der Griechin zu: „Möglich, daß wir gleich wieder umkehren!“

Da sprach der Abt: „Das ist des Pörtners Amt, dort steht er.“

Frau Hadwig wandte den Blick in der Richtung, die des Abts Zeigefinger wies, gesenkten Hauptes stund Ekkehard; sie erschaute die sinnige Gestalt im rotwangigen Schimmer der Jugend, es war ein langer Blick, mit dem sie über die gedankenbewegten Züge und das wallende gelbliche Haupthaar und die breite Tonsur streifte.

„Wir kehren nicht um!“ nickte sie zu ihrer Begleiterin, und bevor der kurzhalsige Kämmerer, der meistenteils den guten Willen und das Zuspätkommen hatte, vom Gaul herab und ihrem Schimmel genaht war, sprang sie anmutig aus dem Bügel, trat auf den Pörtner zu und sprach: „So tut, was Eures Amtes!“

Ekkehard hatte sich auf eine Anrede besonnen und gedachte mit Anwendung tadellosen Lateins die sonderbare Freiheit zu rechtfertigen, aber wie sie stolz und gebietend vor ihm stand, versagte ihm die Stimme, und die Rede blieb, wo sie entstanden – in seinen Gedanken. Aber er war unverzagten Mutes und umfaßte mit starkem Arm die Herzogin, die schmiegte sich vergnüglich an ihren Träger und lehnte den rechten Arm auf seine Schulter. Fröhlich schritt er unter seiner Bürde über die Schwelle, die kein Frauenfuß berühren durfte, der Abt ihm zur Seite, Kämmerer und Dienstmannen folgten, hoch schwangen die dienenden Knaben ihre Weihrauchfässer, und die Mönche wandelten in gedoppelter Reihe, wie sie gekommen, hinterdrein, die letzten Strophen ihres Loblieds singend.

Es war ein wundersam Bild, wie es vor und nachmals in des Klosters Geschichte nicht wieder vorkam, und ließen sich von Freunden unnützer Worte an den Mönch, der die Herzogin trug, ersprießliche Bemerkungen anknüpfen über das Verhältnis der Kirche zum Staat in damaligen Zeiten und dessen Änderung in der Gegenwart ...

Die Naturverständigen sagen, daß durch Annäherung lebender Körper unsichtbar wirkende Kräfte tätig werden, ausströmen, ineinander übergehen und seltsamliche Beziehungen herstellen. Das mochte sich auch an der Herzogin und dem Pörtner bewähren; dieweil sie sich in seinen Armen wiegte, gedachte sie leise: „Fürwahr, noch keinem hat Sankt Benedikts Kapuze anmutiger gesessen als diesem31“, und wie er im kühlen Klostergang seine Bürde mit schüchternem Anstand absetzte, fiel ihm nichts auf, als daß ihm die Strecke vom Tor bis hierher noch niemals so kurz vorgekommen.

„Ich bin Euch wohl schwer gefallen?“ sprach die Herzogin sanft.

„Hohe Herrin, Ihr mögt kecklich sagen, wie da geschrieben steht: mein Joch ist sanft und meine Bürde ist leicht“, war seine Erwiderung.

„Ich hätte nicht gedacht“, sprach sie darauf, „daß Ihr die Worte der Schrift zu einer Schmeichelrede anwendet. Wie heißet Ihr?“

Er antwortete: „Sie nennen mich Ekkehard.“

„Ekkehard! ich danke Euch!“ sagte die Herzogin mit anmutvoller Handbewegung.

Er trat zurück an ein Bogenfenster im Kreuzgang und schaute hinaus ins Gärtlein. War’s ein Zufall, daß ihm jetzt der heilige Christophorus vor die Gedanken trat?

Dem deuchte seine Bürde auch leicht, da er anhub, das fremde Kindlein auf starker Schulter über den Strom zu tragen, aber schwer und schwerer senkte sich die Last auf seinen Nacken und preßte ihn hinab in die brausende Flut, tief, tief, daß sein Mut sich neigen wollte zu verzweifeln ...

Der Abt hatte einen köstlichen Henkelkrug bringen lassen, damit ging er selber zum Springquell, füllte ihn und trat vor die Herzogin: „Der Abt soll den Fremden das Wasser darbringen, ihre Hand zu netzen“, sprach er, „und sich samt der ganzen Brüderschaft zur Fußwaschung –“

„Wir danken“, fiel ihm Frau Hadwig in die Rede. Sie sprach’s mit entschiedenem Ton. Indes hatten zwei der Brüder eine Truhe herabgeholt, sie stand geöffnet im Gang. Drein griff jetzt der Abt, zog eine funkelneue Kutte herfür und sprach: „So ernenne ich denn unseres Klosters erlauchten Schirmvogt zum Mitglied und zugeschriebenen Bruder und schmück’ ihn dessen zum Zeugnis mit des Ordens Gewandung32.

Frau Hadwig fügte sich. Leicht bog sie das Knie, da sie die Kutte aus seinen Händen empfing; sie warf das ungewohnte Kleidungsstück um, es stand ihr gut, faltig war’s und weit, wie die Regel besagt: Der Abt soll ein scharfes Auge haben, daß die Gewänder nicht zu kurz seien für ihre Träger, sondern wohlgemessen.

Reizend sah das lichte Frauenantlitz aus der dunkeln Kapuze“.

„Für Euch gilt das Gleiche!“ rief nun der Abt zu der Herzogin Gefolge. Da hatte der böse Sindolt seine Freude dran, Herrn Spazzo einzukleiden. „Und wißt Ihr auch“, raunte er ihm ins Ohr, „was die Kutte für Euch zu bedeuten hat? – Daß Ihr die Gelüste der Welt abschwöret und einen mäßigen, armen und keuschen Wandel gelobet für immerdar!“

Herr Spazzo war schon mit dem rechten Arm in das faltige Ordensgewand gefahren, schnell zog er ihn wieder zurück: „Halt’ an“, zürnte er, „da muß ich Einsprache tun!“ Sindolt schlug ein Gelächter auf, da merkte der Kämmerer, es sei so ernst nicht gemeint, und sprach: „Bruder, Ihr seid ein Schalk!“

Bald prangten auch die Gefolgsmänner im Schmuck des Ordenskleides, manchem der neuerschaffenen Mönche hing der lange Bart ordnungswidrig bis an den Gürtel, und das sittige Niederschlagen des Blicks gelang noch nicht ganz nach Vorschrift33.

Der Abt geleitete seine Gäste zuerst zur Kirche.

Fußnoten

A1 Auf seinem Lager.

A2 „Mitten im Leben“ (sind wir vom Tode umfangen). Vgl. Scheffels Anmerkung 188, wo der gesamte Text mitgeteilt ist.

A3 Des Kampfes mit Dämonen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ekkehard