Viertes Kapitel. - Im Kloster. - Frau Hadwig hatte inzwischen am Grab des heiligen Gallus ihre Andacht verrichtet. Dann gedachte der Abt, ihr einen Gang im schattigen Klostergarten vorzuschlagen; ...

Frau Hadwig hatte inzwischen am Grab des heiligen Gallus ihre Andacht verrichtet. Dann gedachte der Abt, ihr einen Gang im schattigen Klostergarten vorzuschlagen; aber sie bat, ihr zuvörderst den Kirchenschatz zu zeigen. Der Frauen Gemüt, wie hoch es auch genaturt sein mag, erfreut sich allzeit an Schmuck, Zierat und prächtiger Gewandung. Da wollte der Abt mit einiger Ausrede ihren Sinn ablenken, vermeinend, sie seien nur ein arm Klösterlein und seine Base werde auf ihren Fahrten im Reich und am Kaiserhof schon Preiswürdigeres erschaut haben: es half ihm nicht.

Sie traten in die Sakristei.


Er ließ die gebräunten Schränke öffnen, da war viel zu bewundern an purpurnen Meßgewändern, an Priesterkleidern mit Stickerei und gewirkten Darstellungen aus heiliger Geschichte. War auch manches darauf abgebildet, was noch nahe an römisches Heidentum anstreifte, zum Beispiel die Hochzeit des Merkurius mit der PhilologieA1.

Hernach wurden die Truhen aufgeschlossen, da glänzte es vom Schein edler Metalle, silberne Ampeln gleißten herfür und Kronen, Streifen getriebenen Goldes zur Einfassung der Evangelienbücher und der Altarverzierung53; Mönche des Klosters hatten sie, ums Knie gebunden, aus welschen Landen über unsichere Alpenpfade sicher eingebracht; – köstliche Gefäße in seltsamen Formen, Leuchter in Delphinengestalt, säulengetragene Schalen, Leuchttürmen gleich, Weihrauchbehälter und viel anderes – ein reicher Schatz. Auch ein Kelch von Bernstein war dabei54, der schimmerte lieblich, so man ihn ans Licht hielt; am Rand war ein Stück ausgebrochen.

„Als mein Vorgänger Hartmuth am Sterben lag“, sprach der Abt, „ward’s gepulvert und ihm mit Wein und Honig eingegeben, das Fieber zu stillen.“

Mitten im Bernstein saß ein Mücklein, so fein erhalten, als wär’s erst neulich hereingeflogen, und hat sich dies Insekt, wie es in vorgeschichtlichen Zeiten vergnüglich auf seinem Grashalm saß und vom zähflüssigen Erdharz überströmt ward, auch nicht träumen lassen, daß es in solcher Weise auf die Nachwelt übergehen werde.

Auf derlei stummes Zeugnis wirkender Naturkraft ward aber damals kein aufmerkend Auge gerichtet; wenigstens war der Kämmerer Spazzo, der ebenfalls mit Sorgfalt alles musterte, mit andern Dingen beschäftigt. Er dachte, um wieviel ergötzlicher es sein möcht’, mit diesen frommen Männern in Fehde zu liegen und, statt als Gastfreund einzureiten, Platz und Schatz mit stürmender Hand zu nehmen. Und weil er schon manchen Umschlag vornehmer Freundschaft erlebt, bereitete er sein Gemüt auf diese Möglichkeit, faßte den Eingang der Sakristei genau ins Aug’ und murmelte: „Also vom Chor die erste Pforte zur Rechten!“

Der Abt mochte auch der Ansicht sein, daß lang’ fortgesetzter Anblick von Gold und Silber Hunger nach Besitz errege; er ließ die letzte Truhe, welche der Kostbarkeiten vorzüglichste barg, nicht mehr erschließen und drängte, daß sie ins Freie kamen.

Sie lenkten ihre Schritte zum Klostergarten. Der war weitschichtig angelegt und trug an Kraut und Gemüse viel nach Bedarf der Küche; zudem auch nützliches Arzneigewächs und heilbringende Wurzeln.

Beim Baumgarten war ein großer Raum abgeteilt für wild Getier und Gevögel, wie solches teils in den nahen Alpen hauste, teils als Geschenk fremder Gäste dem Garten verehrt war55.

Da erfreute sich Frau Hadwig am ungeschlachten Wesen der Bären: in närrischen Sprüngen kletterten sie am Baum ihres Twingers auf und nieder; daneben erging sich ein kurznasiger Affe, der mit einer Meerkatze zusammen an einer Kette durchs Leben tollte, – zwei Geschöpfe, von denen ein Dichter damaliger Zeit sagt, daß weder das eine noch das andere eine Spur nutzbringender Anlage als Berechtigungsgrund seines Vorhandenseins aufzuweisen vermöge56.

Ein alter Steinbock stund in seines Raumes Enge, der Sohn der Hochalpe senkte sein Haupt, still und geduckt; seit er die schneidige Luft der Gletscher entbehren mußte, war er blind geworden, denn nicht jedweder gedeiht in den Niederungen der Menschen.

In anderem Behältnis waren dickhäutige Dachse angebaut; der böse Sindolt lachte, wie sie vorüberkamen: „Sei gegrüßt, du kleines, niederträchtig Getier“, sprach er, „du erlesen Wildbret der Klosterknechte!“

Wieder anderswo pfiff es durchdringend. Ein Rudel Murmeltiere lief den Ritzen zwischen den künstlich geschichteten Felsen zu. Frau Hadwig hatte solch kurzweilig Geschöpf noch nicht erschaut. Da erklärte ihr der Abt deren Lebensart:

„Die schlafen mehr als jede andere Kreatur“, sprach er; „auch wenn sie wachen, mögen sie ohne Phantasieren nicht sein, und so der Winter herzustreicht, lesen sie allenthalb Halm und Heu zusammen, und eines von ihnen legt sich auf den Rücken, richtet die vier Füße ob sich, die andern legen auf es alles, so sie zusammengeraspelt haben, nehmen es danach beim Schweif und ziehen’s wie einen geladenen Frachtwagen zu ihrer Höhle57.“

Da sprach Sindolt zum dicken Kämmerer Spazzo: „Wie schade, daß Ihr keine Bergmaus geworden, das wär’ eine anmutige Verrichtung für Euch!“

Wie der Abt sich abgewendet, hub der böse Sindolt eine neue Art der Erklärung an: „Das ist unser Tutilo!“ sprach er und deutete auf einen Bären, der soeben seinen Nebenbär rücklings zu Boden geworfen, – „das der blinde Thieto!“ er deutete auf den Steinbock; eben wollte er auch seinem Abte die Ehre einer nicht schmeichelhaften Vergleichung erweisen, da fiel ihm die Herzogin in die Rede: „Wenn Ihr alles zu vergleichen wisset, habt Ihr auch für mich ein Sinnbild?“

Sindolt ward verlegen. Zum guten Glück stand bei den Kranichen und Reihern ein schmucker Silberfasan und wiegte sein perlgrau glänzend Gefieder im Sonnenschein.

„Dort!“ sprach Sindolt.

Aber die Herzogin wandte sich zu Ekkehard, der träumerisch in das Gewimmel der Tierwelt schaute: „Einverstanden?“ frug sie. Er fuhr auf: „O Herrin“, sprach er mit weicher Stimme, „wer ist so vermessen, unter dem, was da kreucht und fleucht, ein Sinnbild für Euch zu suchen?“

„Wenn Wir’s aber verlangen ...“

„Dann weiß ich nur einen Vogel“, sprach Ekkehard, „wir haben ihn nicht und niemand hat ihn; in klaren Mitternächten fliegt er hoch zu unsern Häuptern und streift mit den Schwingen den Himmel. Der Vogel heißt Caradrion; wenn seine Fittiche sich zur Erde senken, soll ein siecher Mann genesen: da kehret sich der Vogel zu dem Manne und tut seinen Schnabel über des Mannes Mund, nimmt des Mannes Unkraft an sich und fährt auf zur Sonne und läutert sich im ew’gen Licht: da ist der Mann gerettet58.“

Der Abt kam wieder herbei und unterbrach weitere Sinnreden. Auf einem Apfelbaum saß ein dienender Bruder, pflückte die Äpfel und sammelte sie in Körbe. Wie sich die Herzogin zum Schatten der Bäume wandte, wollte er herniedersteigen, aber sie winkte ihm, zu bleiben. Jetzt ertönte es wie Gesang zarter Knabenstimmen in des Gartens Niederung: die Zöglinge der innern Klosterschule kamen heran, der Herzogin ihre Huldigung zu bringen; blutjunge Bürschlein, trugen sie bereits die Kutte, und mancher hatte die Tonsur aufs eilfjährige Haupt geschoren. Wie sie aber in Prozession daherzogen, die rotbackigen Äbtlein der Zukunft, geführt von ihren Lehrern, den Blick zur Erde niedergeschlagen, und wie sie so ernst und langsam ihre Sequenzen sangen: da flog ein leiser Spott über Frau Hadwigs Antlitz, mit starkem Fuß stieß sie den nahestehenden Korb um, daß die Äpfel lustig unter den Zug der Schüler rollten und an ihren Kapuzen emporsprangen. Aber unbeirrt zogen sie ihres Weges; nur der kleinsten einer wollte sich bücken nach der lockenden Frucht, doch streng hielt ihn sein Nebenmännlein am Gürtel59.

Wohlgefällig sah der Abt die Haltung des jungen Volkes und sprach: „Disziplin unterscheidet den Menschen vom Tier60! und wenn Ihr der Hesperiden Äpfel unter sie werfen wolltet, sie blieben fest.“

Frau Hadwig war gerührt. „Sind alle Eure Schüler so gut gezogen?“ frug sie.

„So Ihr Euch überzeugen wollt“, sprach der Abt, „die großen in der äußeren Schule wissen nicht minder, was Zucht und Gehorsam ist.“

Die Herzogin nickte. Da führte sie der Abt zur äußern Klosterschule, wo zumeist vornehmer Laien Söhne und diejenigen erzogen wurden, die sich weltgeistlichem Stand widmen wollten.

Sie traten in die Klasse der Ältesten ein. Auf der Lehrkanzel stand Ratpert, der Vielgelehrte, und unterwies seine Jugend im Verständnis von Aristoteles’ „Logica“. Geduckt saßen die Schüler über ihren Pergamenten, kaum wandten sich die Häupter nach den Eingetretenen. Der Lehrmeister gedachte Ehre einzulegen. „Notker Labeo!“ rief er. Der war die Perle seiner Schüler, die Hoffnung der Wissenschaft; auf schmächtigem Körper ein mächtiges Haupt, dran eine gewaltige Unterlippe kritisch in die Welt hervorragte, das Wahrzeichen strenger Ausdauer auf den steinigen Pfaden des Forschens und Ursache seines Übernamens.

„Der wird brav“, flüsterte der Abt, „die ganze Welt sei ein Buch, hat er schon im zwölften Jahre gesagt, und die Klöster die klassischen Stellen drin61.“

Der Aufgerufene ließ seine klugen Äuglein über den griechischen Text hingleiten und übersetzte mit gewichtigem Ernst den stagiritischen Tiefsinn:

„... Findest du an einem Holze oder Steine einen als Linie laufenden Strich, der ist der eben liegenden Teile so gemeine March. Spaltet sich an dem Striche der Stein oder das Holz entzwei, so sehen wir strichweise zwei Durchschnitte an dem sichtbaren Spalte, die vorher nur ein Strich und Linie waren. Und überdies sehen wir zwo neue Oberflächen, die also breit sind, als dick der Körper war, da man vor die neue Oberfläche nicht sah. Darum erhellet, daß dieser Körper vorhin zusammenhängend war62.“

Aber wie dieser Begriff des Zusammenhängenden glücklich herausgeklaubt war, streckten etliche der jungen Logiker die Köpfe zusammen und flüsterten und flüsterten lauter, – selbst der Klosterschüler Hepidan, der unbeirrt von Notkers trefflicher Verdeutschung seine ganze Mühe aufwandte, einen Teufel mit doppeltem Flügelpaar und Ringelschwanz in die Bank einzuschneiden, stellte seine Arbeit ein ... itzt wandte der Lehrmeister sich an den Folgenden: „Wie wird aber die Oberfläche eine gemeine March?“ Da las der seinen griechischen Text, aber die Bewegung in den Schulbänken ward stärker, es summte und brummte wie ferne Sturmglocken, zur Übersetzung kam’s nicht mehr, plötzlich stürmten die Zöglinge Ratperts lärmend vor, sie stürmten auf die Herzogin ein, rissen sie von des Abts und ihres Kämmerers Seite: „Gefangen! gefangen!“ schrie die holde Jugend und begann sich mit den Schulbänken zu verschanzen: „Gefangen! wir haben die Herzogin in Schwaben gefangen! Was soll ihr Lösegeld sein?“

Frau Hadwig hatte sich schon in mancherlei Lebenslagen befunden. Daß sie als Gefangene unter Schulknaben fallen könne, war ihr noch nicht zu Sinn gekommen. Weil die Sache neu war, hatte sie Reiz für sie; sie fügte sich.

Ratpert, der Lehrmeister, holte aus seinem Holzverschlag eine mächtige Rute hervor, schwang sie dräuend zur Umkehr und rief, ein zweiter Neptunus, die virgilischen VerseA2 ins Getümmel:

„So weit hat das Vertrauen auf euer Geschlecht euch verleitet?
Himmel und Erde sogar, ohn’ alles Geheiß von mir selber,
Wagt ihr zu mischen, ihr Winde, und solchen Tumult zu erheben?!
Quos ego!!“

Erneuter Halloruf war die Antwort. Schon war der Saal durch Schulbänke und Schemel abgesperrt. Herr Spazzo überlegte den Gedanken eines Sturms und kräftiger Faustschläge an die Haupträdelsführer. Der Abt war sprachlos, die Keckheit war ihm lähmend in die Glieder gefahren.

Die hohe Gefangene stand am andern Ende des Hörsaals in einer Fensternische, umringt von ihren fünfzehnjährigen Entführern.

„Was soll das alles, ihr schlimmen Knaben?“ frug sie lächelnd.

Da trat einer der Aufrührer vor, beugte sein Knie und sprach demütig: „Wer als Fremder kommt, ist sonder Schutz und Friede, und friedlose Leute hält man gefangen, bis sie sich der Unfreiheit lösen63.“

„Lernt ihr das auch aus euern griechischen Büchern?“

„Nein, Herrin, das ist deutscher Brauch.“

„So will ich mich denn auslösen“, lachte Frau Hadwig, erfaßte den rotwangigen Logiker und zog ihn zu sich heran, ihn zu küssen; der aber riß sich von ihr los, sprang in den Kreis der lärmenden Genossen und rief:

„Die Münze kennen wir nicht!“

„Was heischet ihr denn für ein Lösegeld?“ fragte die Herzogin. Sie war der Ungeduld nahe.

„Der Bischof Salomo von Konstanz war auch unser Gefangener“, sprach der Schüler, „der hat uns drei weitere Vakanztage erwirkt im Jahre und eine Rekreation an Fleisch und Brot, und hat’s in seinem Testament gebrieft und angewiesen64.“

„O nimmersatte Jugend!“ sprach Frau Hadwig, „so muß ich’s zum mindesten dem Bischof gleichtun. Habt ihr schon Felchen aus dem Bodensee verspeist?“

„Nein!“ riefen die Jungen.

„So sollt ihr jährlich sechs Felchen zum Angedenken an mich erhalten. Der Fisch ist gut für junge Schnäbel.“

„Gebt Ihr’s mit Brief und Siegel?“

„Wenn’s sein muß!“

„Langes Leben der Frau Herzogin in Schwaben! Heil ihr!“ rief’s von allen Seiten, „Heil, sie ist frei!“ Die Schulbänke wurden in Ordnung gestellt, der Ausgang gelichtet, springend und jubelnd geleiteten sie die Gefangene zurück. Im Hintergrund flogen die Pergamentblätter der „Logica“ als Freudenzeichen in die Höhe, selbst Notker Labeos Mundwinkel neigten sich zu einem gröblichen Lachen, und Frau Hadwig sprach: „Sie waren recht huldvoll, die jungen Herren; wollet die Rute wieder in Verschlag tun, Herr Professor!“

An ein Weitererklären des Aristoteles war heut nicht mehr zu denken. Ob die Ausgelassenheit der Schüler nicht in nahem Zusammenhang mit ihrem Studium der Logik stand? Der Ernst ist oftmals ein gar zu dürrer, blattloser, hohler Stamm, sonst hätt’ die Torheit nicht Raum, ihn üppig grün zu umranken ...

Wie die Herzogin mit dem Abt den Hörsaal verlassen, sprach dieser: „Es übrigt noch, Euch des Klosters Bücherei zu zeigen, die Arzneikammer lernbegieriger Seelen, das Zeughaus für die Waffen des Wissens.“ Aber Frau Hadwig war ermüdet, sie dankte. „Ich muß mein Wort halten“, sprach sie, „und die Schenkung an Eure Schulknaben urkundlich machen. Wollet die Handfeste aufsetzen lassen, daß wir sie mit Unterschrift und Sigill versehen.“

Herr Cralo führte seinen Gast nach seinen Gemächern. Den Kreuzgang entlang wandelnd, kamen sie an einem Gelaß vorüber, des Türe war offen. An kahler Wand stand eine niedere Säule, von der in halber Mannshöhe eine Kette niederhing. Über dem Portal war in verblaßten Farben eine Gestalt gemalt, sie hielt in magern Fingern eine Rute. „Wen der Herr lieb hat, züchtigt er; er stäupet einen jeglichen, den er zum Sohne annimmt“ (Hebr. XII, 6), war in großen Buchstaben darunter geschrieben.

Frau Hadwig warf dem Abt einen fragenden Blick zu.

„Die Geißelkammer65!“ sprach er.

„Ist keiner der Brüder zur Zeit einer Strafe verfallen“, fragte sie, „es möcht’ ein lehrreich Beispiel sein ...“

Da zuckte der böse Sindolt mit dem rechten Fuß, als wär’ er in einen Dorn getreten, rückte sein Ohr rückwärts, wie wenn von dort eine Stimme ihm riefe, sprach: „Ich komme sogleich“, und enteilte ins Dunkel des Ganges.

Er wußte warum.

Notker, der Stammler, hatte nach jähriger Arbeit die Abschreibung eines Psalterbuchs vollendet und es mit zierlich feinen Federzeichnungen geziert; das hatte der neidische Sindolt nächtlicherweile zerschnitten und die Weinkanne drüber geschüttet. Drob war er zu dreimaliger Geißelstrafe verdammt, der letzten Vollzug stand noch aus: er kannte das Örtlein und die Bußwerkzeuge, die ihrem Rang nach an der Wand hingen, vom neunfältigen „Skorpion“ herab bis zur einfachen „Wespe“.

Der Abt drängte, daß sie vorüberkamen. Seine Prunkgemächer waren mit Blumen geschmückt. Frau Hadwig warf sich in den einfachen Lehnstuhl, auszuruhen vom Wechsel des Erschauten. Sie hatte in wenig Stunden viel erlebt. Es war noch eine halbe Stunde zum Abendimbiß.

Wer zu dieser Frist einen Rundgang durch des Klosters Zellen gemacht, der hätte sich überzeugen mögen, wie kein einziger Bewohner des Stiftes unberührt vom Eindruck des vornehmen Besuchs geblieben. Auch die weltabgeschiedensten Gemüter fühlen, daß einer Frau Huldigung gebührt.

Dem grauen Tutilo war’s beim Empfang schwer aufs Herz gefallen, daß der linke Ärmel seiner Kutte mit einem Loch geschmückt war; sonst wär’s wohl bis zum nächsten hohen Festtag ungeflickt geblieben, aber itzt galt kein Verzug; mit Nadel und Zwirn gewaffnet saß er auf dem Schragen und besserte den Schaden.

Und weil er gerade im Zug war, legte er auch seinen Sandalen eine neue Sohle an und festigte sie mit Nägeln. Er summte eine Melodei, daß die Arbeit besser gedieh.

Radolt, das Denkmännlein, ging mit gerunzelter Stirn auf seiner Zelle auf und nieder, vermeinend, es werde sich eine Gelegenheit ergeben, in frei ersonnener Rede des hohen Gastes Ruhm zu preisen. Den Eindruck unmittelbaren Ergusses zu erhöhen, studierte er sie vorher. Er wollte des Tacitus Spruch von den Germanen66 zugrund’ legen: „Sie glauben auch, daß den Frauen etwas Heiliges und Zukunftvoraussehendes inwohne, darum verschmähen sie niemals ihren Rat und fügen sich ihren Bescheiden.“ Es war dies fast das einzige, was er aus Hörensagen von den Frauen wußte, aber er zwinkte mit den Eichhörnleinsaugen und war sicher, von dort unter etlichen bissigen Ausfällen auf seine Mitbrüder einen Übergang zum Lob der Herzogin zu finden. Leider blieb die Gelegenheit zur Anbringung einer Rede aus, weil er sie nicht zu finden verstand.

In anderer Zelle saßen der Brüder sechs unter dem riesigen Elfenbeinkamm67, der an eiserner Kette von der Decke herabhing, – Abt Hartmuths nützliche Stiftung – die vorgeschriebenen Gebete murmelnd, erwies einer dem andern den Dienst sorglicher Glättung des Haupthaares. Ward auch manch überwachsene Tonsur in jener Zeit zu strahlendem Glanze erneut.

In der Küche aber ward unter Gerold, des Schaffners, Leitung eine Tätigkeit entwickelt, die nichts zu wünschen übrigließ.

Jetzo läutete das Glöcklein, dessen Ton auch von den frömmsten Brüdern noch keiner unwillig gehört, der Ruf zur Abendmahlzeit. Abt Cralo geleitete die Herzogin ins Refektorium. Sieben Säulen teilten den luftigen Saal hälftig ab, an vierzehn Tischen standen, wie Heerscharen der streitenden Kirche, des Klosters Mitglieder, Priester und Diakonen; sie erwiesen dem hohen Gast keine sonderliche Aufmerksamkeit.

Das Amt des Vorlesers68 vor dem Imbiß stund in dieser Woche bei Ekkehard, dem Pörtner. Der Herzogin zu Ehren hatte er den vierundvierzigsten Psalm erkoren; er trat auf und sprach einleitend: „Herr, öffne meine Lippen, auf daß mein Mund dein Lob verkünde“, und alle sprachen’s ihm murmelnd nach, als Segen zu seiner Lesung.

Nun erhub er seine Stimme und begann den Psalm, den die Schrift selber einen lieblichen Gesang nennet:

„Es quillet mein Herz eine schöne Rede, ich will reden mein Gedicht dem Könige, meine Zunge sei der Griffel des Geschwindschreibers.

Der Schönste bist du von den Söhnen des Menschen, Anmut ist gegossen über deine Lippen, denn Gott hat dich gesegnet ewig.

Gürte um die Hüfte dein Schwert, du Held, deinen Ruhm und deinen Schmuck. Und geschmückt zeuch aus, ein Hort der Wahrheit, Milde und des Rechts.

Ja, Wunder wird zeigen deine Rechte! Deine Pfeile seien geschärft, Völker sollen unter dir stürzen, die im Herzen Feinde des Königs sind.

Dein Thron vor Gott steht immer und ewig, ein gerechter Scepter ist der Scepter deines Reichs.

Du liebest das Recht und hassest das Unrecht, drum hat dich Gott, dein Gott, gesalbt mit dem Öl der Freude, mehr denn alle Genossen; Myrrhen, Aloe und Cassia duften all deine Kleider, aus elfenbeinernen Palästen erfreuen Saiten dich ...69“

Die Herzogin schien die Huldigung zu verstehen; als wenn sie selber mit den Worten des Psalms angeredet wäre, hefteten sich ihre Augen auf Ekkehard. Aber auch dem Abt war’s nicht entgangen, da gab er ein Zeichen abzubrechen, und der Psalm blieb unbeendet, als sich männiglich zu Tisch setzte.

Das aber konnte Herr Cralo nicht hindern, daß Frau Hadwig dem emsigen Vorleser befahl, an ihrer Seite Platz zu nehmen; es war zwar der Rangstufung folgend der Sitz zu ihrer Linken dem alten Dekan Gozbert zugedacht, aber dem war’s schon lang zumute, als käm’ er auf glühende Kohlen zu sitzen, denn er hatte mit Frau Hadwigs seligem Gemahl dereinst einen gröblichen Wortwechsel gepflogen, wie der dem Klosterschatz das unfreiwillige Kriegsanlehen auflegte, und war von damals auch der Herzogin giftig gestimmt, – kaum merkte er die Absicht, so drückte er sich vergnüglich seitwärts und schob den Pörtner auf den Dekanssitz. Neben Ekkehard kam der Herzogin Kämmerer Spazzo zu sitzen, dem zur Seite der Mönch Sindolt.

Die Mahlzeit begann. Der Küchenmeister, wohl wissend, wie bei Ankunft fremder Gäste Erweiterung der schmalen Klosterkost gestattet sei, hatte es nicht beim üblichen Mus mit Hülsenfrüchten70 bewenden lassen. Auch der strenge Küchenzettel des seligen Abt Hartmuth ward nicht eingehalten.

Wohl erschien zuerst ein dampfender Hirsebrei, auf daß, wer gewissenhaft bei der Regel71 bleiben wollte, sich daran ersättige; aber Schüssel auf Schüssel folgte, bei mächtigem Hirschziemer fehlte der Bärenschinken nicht, sogar der Biber vom obern Fischteich hatte sein Leben lassen müssen; Fasanen, Rebhühner, Turteltauben und des Vogelherds kleinere Ausbeute folgten, der Fische aber eine unendliche Auswahl, so daß schließlich ein jeglich Getier, watendes, fliegendes, schwimmendes und kriechendes, auf der Klostertafel seine Vertretung fand.

Und mancher der Brüder kämpfte damals einen schweren Kampf in seines Gemütes Tiefe; selbst Gozbert, der alte Dekan ... des Hirsebreis war er gesättigt und hatte mit mächtigem Stirnrunzeln des Hirsches Braten und des Bären Schinken weggeschoben, als wär’s eine Versuchung des bösen Feindes: aber wie auch ein schön bräunlich gebraten Birkhuhn in seine Nähe gestellt ward, da schlug der Bratenduft träumerisch an seine Nase, mit dem Duft hielten die Geschichten seiner Jugend bei ihm Rückkehr: wie er selber vor vierzig Jahren dem Weidwerk oblag und in frühem Morgennebel dem balzenden Auerhahn nachstellte, und die Geschichte von des Försters Töchterlein, die ihm damals begegnet, und ... zweimal noch kämpfte er des Arms Bewegung zurück, das drittemal hielt’s nimmer, des Birkhuhns Hälfte lag vor ihm und ward in Eile verzehrt.

Der Kämmerer Spazzo hatte Beifall nickend der Schüsseln mannigfache Zahl erscheinen sehen, ein großer Rheinlank72, der Fische besten einer, war schier unter seinen Händen verschwunden, fragend schaute er sich nach einigem Getränk um, da zog Sindolt, sein Nachbar, ein steinern Krüglein herbei, schenkte ihm den metallenen Becher voll, stieß mit ihm an und sprach: „Des Klosterweins Auslese!“ Herr Spazzo gedachte einen mächtigen Zug zu tun, aber es schüttelte ihn wie Fieberfrost, und den Becher absetzend, sagte er: „Da möchte der Teufel Klosterbruder sein!“ Der böse Sindolt hatte ihm ein saures Apfelweinlein mit dem Saft von Brombeeren gemischt vorgesetzt. Wie aber Herr Spazzo ihm schier mit einem Faustschlag gelohnt hätte, holte er, ihn zu sänftigen, des dunkelroten Valtelliners einen Henkelkrug. Der Valtelliner ist ein wackerer Wein, in dem schon der Kaiser Augustus seinen Schmerz über die Varusschlacht niedergetrunken73; und allmählich versöhnte sich Herr Spazzo, trank auch auf das Wohlergehen des Bischofs von Chur, dem das Kloster diesen Wein verdankte, ohne daß er ihm sonst näher bekannt war, seinen Becher leer, und Sindolt tat wacker Bescheid.

„Was sagt euer Patron zu solchem Trinken?“ fragte der Kämmerer.

„Sankt Benedikt war ein weiser Mann“, sprach Sindolt. „Darum schrieb er in sein Gesetz: Wiewohl zu lesen steht, daß der Wein überhaupt kein Trunk für Mönche sei, so mag dies doch heutigentages keinem einzigen mehr mit Überzeugung eingeredet werden. Darum, und schwächlicheren Gemütes Hinfälligkeit erwägend, ordnen wir dem einzelnen eine halbe Maß für den Tag zu. Keiner aber soll trinken bis zur Sättigkeit, denn der Wein macht auch den Weisesten abtrünnig vom Pfade der Weisheit ...74“

„Gut!“ sprach Spazzo und trank seinen Becher aus.

„Wißt Ihr aber auch“, frug Sindolt, „was den Brüdern zu tun vorgeschrieben steht, in deren Gegend wenig oder gar kein Rebensaft gedeihen mag? Die sollen Gott loben und preisen und nicht murren.“

„Auch gut!“ sprach Spazzo und trank wiederholt seinen Becher aus.

Der Abt suchte inzwischen seine fürnehme Base nach Kräften zu unterhalten. Er fing an, Herrn Burkhards trefflichen Eigenschaften einen Nachruf zu halten. Aber Frau Hadwigs Antworten waren karg und einsilbig. Da merkte der Abt, daß alles seine Zeit habe, namentlich die Liebe einer Witib zum verstorbenen Ehemann. Er wandte das Gespräch und fragte, wie ihr des Klosters Schulen gefallen.

„Mich dauert das junge Völklein“, sprach die Herzogin, „daß es in jungen Tagen so vieles erlernen muß. Ist das nicht wie eine Last, die Ihr ihnen aufbürdet, an der sie zeitlebens keuchend schleppen müssen?“

„Erlaubet, edle Base“, erwiderte der Abt, „daß ich Euch als Freund und Blutsverwandter gemahne, weniger in den Tag hinein zu reden. Das Studium der Wissenschaft ist dem jungen Menschen kein lästiger Zwang, es ist wie Erdbeeren; je mehr er genießt, desto größer der Hunger.“

„Was hat aber die heidnische Kunst Logica mit der Gottesgelahrtheit zu schaffen?“ frug Frau Hadwig.

„Die wird in rechten Händen zur Waffe, die Kirche Gottes zu schützen“, sprach der Abt. „Mit ihren Künsten haben der Ketzer viele die Gläubigen angefochten, jetzt fechten wir mit gleichem Rüstzeug wider sie, und glaubet mir, ein sauber Griechisch oder Latein ist eine feinere Waffe als unsere einheimische Sprache, die sich auch in des Gewandtesten Hand nur wie eine Keule schwingt.“

„Ei“, sprach die Herzogin, „müssen Wir noch bei Euch lernen, was fein sei? Ich habe seither gelebt, ohne Latein zu sprechen, Herr Vetter.“

„Es möcht’ Euch nicht schaden, wenn Ihr’s noch lerntet“, sprach der Abt. „Und wenn die ersten Wohlklänge der Latinität Euer Gehör erquickt haben, werdet Ihr zugeben, daß unsere Muttersprache ein junger Bär ist, der nicht stehen und gehen lernt, wenn ihn nicht klassische Zunge beleckt75. Zudem lehrt alter Römer Mund Weisheit, fraget einmal den Mann zu Eurer Linken.“

„Ist’s wahr?“ wandte sich Frau Hadwig an Ekkehard, der schweigend dem Zwiespruch gelauscht hatte.

„Es wäre wahr, hohe Herrin!“ sprach er mit Feuer, „so es Euch vonnöten wäre, Weisheit zu lernen.“

Frau Hadwig drohte mit dem Finger: „Habt Ihr selber denn Erquickung aus den alten Pergamenten geschöpft?“

„Erquickung und Glück!“ sprach Ekkehard, und seine Augen leuchteten. „Glaubet mir, Herrin, es tut in allen Lebenslagen wohl, sich bei den Klassikern Rats zu erholen; lehrt uns nicht Cicero auf den verschlungenen Pfaden weltlicher Klugheit den rechten Steg wandeln? Schöpfen wir nicht aus Sallust und Livius Anweisung zu Mannesmut und Stärke, aus Virgils Gesängen die Ahnung unvergänglicher Schönheit? Die Schrift ist uns Leitstern des Glaubens, die Alten aber leuchten zu uns herüber wie das Spätrot einer Sonne, die auch nach ihrem Niedergang noch mit erquickendem Widerschein in des Menschen Gemüt strahlt ...“

Ekkehard sprach mit Bewegung. Die Herzogin hatte seit dem Tag, als der alte Herzog Burkhard um ihre Hand anhielt, keinen Menschen mehr gesehen, der für etwas begeistert war. Sie trug einen hohen Geist in sich, der sich leicht auch Fremdartigem zuwandte. Griechisch hatte sie in jungen Tagen der byzantinischen Werbung wegen schnell gelernt. Latein flößte ihr eine Art Ehrfurcht ein, weil es ihr fremd war. Unbekanntes imponiert, Erkenntnis führt auf den wahren Wert, der meist geringer ist als der geahnte. Mit dem Namen Virgilius war auch der Begriff des Zauberhaften verbunden ...

In jener Stunde stieg in Hadwigs Herz der Entschluß auf, Lateinisch zu lernen. Zeit dazu hatte sie. Wie sie ihren Nachbarn Ekkehard noch einmal angeschaut hatte, wußte sie auch, wer ihr Lehrer sein sollte ...

Der stattliche Nachtisch, auf dem Pfirsiche, Melonen und trockene Feigen geprangt hatten, war verzehrt. Lebhaftes Gespräch an den andern Tischen deutete auf nicht unfleißiges Kreisen des Weinkrugs.

Auch nach der Mahlzeit – so wollte es des Ordens Regel – war zur Erbauung der Gemüter ein Abschnitt aus der Schrift oder dem Leben heiliger Väter zu verlesen.

Ekkehard hatte am Tag zuvor das Leben des heiligen Benediktus begonnen, das einst Papst Gregorius abgefaßt. Die Brüder rückten die Tische zusammen, der Weinkrug stand unbewegt und es ward still in der Runde. Ekkehard fuhr mit dem zweiten Kapitel76 fort:

„Eines Tages aber, dieweil er allein war, nahte ihm der Versucher. Denn ein schwarzer kleiner Vogel, der gemeiniglich Krähe geheißen ist, begann um sein Haupt zu flattern und setzte ihm so unablässig zu, daß ihn der heilige Mann mit der Hand hätte ergreifen mögen, so er ihn fangen gewollt.

Er aber schlug das Zeichen des Kreuzes, da wich der Vogel.

Wie aber derselbe Vogel verschwunden war, folgte eine so große Versuchung des Fleisches, wie sie der heilige Mann noch niemalen erprobt. Denn vor langer Zeit hatte er eine gewisse Frau erschauet. Diese stellte ihm der böse Feind jetzo vor die Augen des Geistes und entzündete das Herz des Knechtes Gottes durch jene Gestalt mit solchem Feuer, daß eine verzehrende Liebe in ihm zu glühen begann und er, von Lust und Sehnsucht bewältigt, seinen Einsiedelstand jäh zu verlassen gedachte.

Da warf plötzlich des Himmels Gnade einen Schein auf ihn, daß er zu sich selber rückkehrte. Und er sah ihm zur Seite ein dicht Gebüsch von Brennesseln und Dörnern stehen, zog sein Gewand aus und warf sich nackt in die Stacheln des Gedörns und den Brand der Nesseln, bis daß er am ganzen Körper verwundet von dannen ging.

Also löschete er des Geistes Wunde durch die Wunden der Haut und siegte ob der Sünde ...“

Frau Hadwig war von dieser Vorlesung nicht erbaut; sie ließ ihre Augen gelangweilt im Saal die Runde machen. Der Kämmerer Spazzo – deuchte auch ihm die Wahl des Kapitels unpassend, oder war ihm der Valtelliner zu Häupten gestiegen? – schlug unversehens dem Vorleser das Buch zu, daß der holzbeschlagene Deckel klappte, hob ihm seinen Pokal entgegen und sprach: „Soll leben der heilige Benedikt!“ und wie ihn Ekkehard vorwurfsvoll ansah, stimmte schon die jüngere Mannschaft der Klosterbrüder lärmend ein, sie hielten den Trinkspruch für ernst; da und dort ward das Loblied auf den heiligen Mann intoniert, diesmal als fröhlicher Zechgesang, und lauter Jubel klang durch den Saal.

Dieweil aber Abt Cralo bedenklich umschaute und Herr Spazzo immer noch beschäftigt war, mit den jungen Klerikern auf das Wohl ihres Schutzpatrons zu trinken, neigte sich Frau Hadwig zu Ekkehard und frug ihn mit nicht allzulauter Stimme:

„Würdet Ihr mich das Lateinische lehren, junger Verehrer des Altertums, wenn ich’s lernen wollte77?“

Da klang es in Ekkehards Herz wie ein Widerhall des Gelesenen: „Wirf dich in die Nesseln und Dornen und sag’ nein!“ er aber sprach:

„Befehlet, ich gehorche!“

Die Herzogin schaute den jungen Mönch noch einmal mit einem sonderbar flüchtigen Blicke an, wandte sich dann zum Abt und sprach über gleichgültige Dinge.

Die Klosterbrüder zeigten noch kein Verlangen, des Tages günstige Gelegenheit unbenutzt verstreichen zu lassen. In des Abts Augen mochte ein gnädig milder Schein leuchten, und der Kellermeister schob auch keinen Riegel für, wenn sie mit leeren Krügen die Stufen hinabstiegen. Am vierten Tisch begann der alte Tutilo gemütlich zu werden und erzählte seine unvermeidliche Geschichte mit den zwei Räubern78; immer lauter klang seine starke Stimme durch den Saal: „Der eine also zur Flucht sich gewendet – ich ihm nach mit meinem Eichpfahl – er Spieß und Schild weg zu Boden, – ich ihn am Hals gefaßt – den weggeworfenen Spieß in seine Faust gedrückt: du Schlingel von einem Räuber, zu was bist auf der Welt? Fechten sollst mit mir! ...“

Aber sie hatten’s schon allzuoft hören müssen, wie er dann dem Kampfgenötigten den Schädel eingeschlagen, und zupften und nötigten an ihm, sie wollten ein schönes Lied anstimmen; wie er endlich mit dem Haupte nickte, stürmten etliche hinaus: bald kamen sie wieder mit Instrumenten. Der brachte eine Laute, jener ein Geiglein, worauf nur eine Saite gespannt, ein anderer eine Art Hackbrett mit eingeschlagenen Metallstiften, zu deren Anschlag ein Stimmschlüssel dienlich war, wiederum ein anderer eine kleine zehnsaitige Harfe, Psalter hießen sie das seltsam geformte Instrument und sahen in seiner dreieckigen Gestalt ein Symbol der Dreieinigkeit79.

Und sie reichten ihm seinen dunkeln Taktstab von Ebenholz. Da erhob sich lächelnd der graue Künstler und gab ihnen das Zeichen zu einer Musica, die er selbst in jungen Tagen aufgesetzet; mit Freudigkeit hörten’s die andern80. Nur Gerold, dem Schaffner, ward’s mit dem Aufklingen der Melodien melancholisch zu Gemüte, er überzählte die abgetragenen Schüsseln und die geleerten Steinkrüge, und wie ein Text zur Singweise flog’s ihm durch den Sinn: Wieviel hat dieser Tag verschlungen an Klostergeld und Gut81? Leise schlug er mit sandalenbeschwertem Fuße den Takt, bis der letzte Ton verklang.

Zu unterst am Tische saß ein stiller Gast mit blaßgelbem Angesicht und schwarzkrausem Gelock; er war aus Welschland und hatte von des Klosters Gütern im Lombardischen die Saumtiere mit Kastanien und Öl herübergeleitet. In wehmütigem Schweigen ließ er die Flut der Töne über sich erbrausen.

„Nun, Meister Johannes“, sprach Folkard, der Maler, zu ihm, „ist die welsche Feinfühligkeit jetzt zufrieden gestellt? Den Kaiser Julianus mutete einst unserer Vorväter Gesang an wie das Geschrei wilder VögelA3, aber seitdem haben wir’s gelernt. Klingt’s Euch nicht lieblicher als Sang der Schwanen82?“

„Lieblicher – als Sang der Schwanen – –“ wiederholte der Fremde wie im Traum. Dann erhob er sich und schlich leise von dannen. Es hat’s keiner im Kloster zu lesen bekommen, was er in jener Nacht noch ins Tagebuch seiner Reise eintrug:

„Diese Männer diesseits der Alpen“, schrieb er, „wenn sie auch den Donner ihrer Stimmen hoch gegen Himmel erdröhnen lassen, können sich doch nimmer zur Süße einer gehobenen Modulation erschwingen. Wahrhaft barbarisch ist die Rauheit solch abgetrunkener Kehlen; wenn sie durch Beugung und Wiederaufrichtung des Tons einen sanften Gesang zu ermöglichen suchen, schauert die Natur und es klingt wie das Fahren eines Wagens, der in Winterszeit über gefrorenes Pflaster dahin knarrt ...83“

Herr Spazzo gedachte, was löblich begonnen, auch löblich zu enden, er schlich sich fort über den Hof in das Gebäude, wo Praxedis und die Dienerinnen waren, und sprach: „Ihr sollet zur Herzogin kommen, und zwar gleich“ – sie lachten erst ob seiner Kutte, folgten ihm aber zum Saal, und war keiner, der sie von der Schwelle zurückhielt. Und wie die Mägdlein an des Refektoriums Eingang sichtbar wurden, entstand ein Gemurmel und ein Kopfwenden im Saal, als sollte jetzo ein Tanzen und Springen anheben, wie es diese Wände noch nicht erschaut.

Herr Cralo, der Abt, aber wandte sich an die Herzogin und sprach: „Frau Base?!“ – und sprach’s mit so duldender Wehmut, daß sie aus ihren Gedanken auffuhr. Und sie sah auf einmal ihren Kämmerer und sich selber in der Mönchskutte mit andern Augen an denn zuvor, und schaute die Reihen trinkender Männer, dem entferntesten verdeckte der Kapuze vorstehender Rand das Antlitz, daß es aussah, als werde der Wein in leeren Gewandes Abgrund geschüttet, und die Musik klang ihr gellend in die Ohren, als würde hier ein Mummenschanz gefeiert, der schon allzulang’ gedauert ...

Da sprach sie: „Es ist Zeit schlafen zu gehen!“ und ging mit ihrem Gefolg nach dem Schulhaus hinüber, wo ihr Nachtlager sein sollte.

„Wißt Ihr auch, was des Tanzens Lohn gewesen wär’?“ frug Sindolt einen der Mönche, der ob dieser Wendung der Dinge höchlich betrübt schien. Der schaute ihn starr an. Da machte ihm Sindolt eine unverkennbare Gebärde, die hieß: „Geißelung“!

Fußnoten

A1 Unter dieser Allegorie hatte der Afrikaner Martianus Capella im 5. Jahrhundert eine Enzyklopädie der sieben freien Künste gegeben, die im Mittelalter als Schulbuch viel benutzt ward; Notker Labeo übersetzte sie ins Deutsche. Eine Alba mit Darstellungen daraus hatte Hadwig nach Kapitel 90 der „Casus S. Galli“ dem Ekkehard geschenkt.

A2 „Äneis“ 1, 132 ff. Worte Neptuns.

A3 Flavius Julianus Apostata, Kaiser 361–363, vergleicht in seinem „Misopogon“ den Gesang der Alemannen dem Rufe rauh krächzender Vögel.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ekkehard