Siebzehntes Kapitel. - Gunzo wider Ekkehard. - Zu den Zeiten, da all das seither Erzählte an den Ufern des Bodensees sich zugetragen, sah fern in belgischen Landen im Kloster des heiligen Amandus sur l’Elnon ...

Zu den Zeiten, da all das seither Erzählte an den Ufern des Bodensees sich zugetragen, sah fern in belgischen Landen im Kloster des heiligen Amandus sur l’ElnonA1 ein Mönch in seiner Zelle. Tagaus, tagein, wenn die Pflicht der Klosterregel ihn freiließ, saß er dort wie festgebannt; Wintersturm war gekommen, die Flüsse zugefroren, Schnee, so weit das Auge reichte – er hatte dessen keine Acht; der Frühling trieb den Winter aus – es kümmerte ihn nicht; die Brüder plauderten von Krieg und schlimmer Botschaft aus dem befreundeten Land am Rhein – er hatte kein Ohr für sie. Auf seiner Zelle lag Stuhl und Schragen mit Pergamenten überdeckt, des Klosters ganze Bücherei war zu ihm herabgewandert, er las und las und las, als wollt’ er den letzten Grund der Dinge ergründen; – zur Rechten die Psalmen und heiligen Schriften, zur Linken die Reste heidnischer Weisheit, alles ward durchwühlt; dann und wann machte ein höhnisch Lächeln dem Ernst seiner Studien Platz, und er schrieb sich auf schmale Streifen Pergamentes hastig etliche Zeilen heraus. Waren es Goldkörner und Edelsteine, die er auf seiner Bergmannsarbeit aus den Schachten alten Wissens grub? Nein.

„Was mag dem Bruder Gunzo widerfahren sein?“ sprachen seine Genossen, „ehedem ist seine Zunge gegangen wie ein Mühlrad, und die Bücher haben Ruhe vor ihm gehabt: ›Sie können mir doch nur bieten, was ich längst weiß‹, hat er sich oft gerühmt – und jetzt? Jetzt knarrt und scharrt seine Feder, daß bis im vorderen Kreuzgang der Widerhall ihres Kratzens gehört wird. Gedenkt er des Kaisers Protonotar und Erzkanzler zu werden? sucht er den Stein der Weisen oder schreibt er seine italische Reise?“


Aber der Bruder Gunzo blieb an seinem Werk. Unverdrossen trank er seinen Wasserkrug leer und las seine Klassiker, – die ersten Gewitter kamen und mahnten, daß der Sommer mit seiner Schwüle vor der Türe stehe; er ließ donnern und blitzen und saß fest wie zuvor. Den Schlummer der Nacht brach er zuweilen und sprang auf zu seinem Tintenfaß, als hätt’ er im Traum Gedanken erhascht; oft waren sie wieder verschwunden, bevor ihm das Niederschreiben gelang, aber sein Sinn war fest aufs Ziel gerichtet. „Kommen wird einstens der Tag“ ... mit der homerischen Verheißung sich tröstend, schlich er auf sein Lager zurück.

Gunzo war im kräftigen Mannesalter, eine mäßig große, gedrungene Gestalt, wohlbeleibt; wenn er des Morgens vor seinem fein geschliffenen Metallspiegel stund und mehr als notwendig die Augen auf dem eigenen Abbild haften ließ, strich er oft seinen rötlichen Bart, als woll’ er zu Fehde und fährlichem Streithandel ausreiten.

Fränkisch Blut mit gallischem vermischt rollte in seinen Adern: das schuf ihm ein Stück von jener Beweglichkeit und Immerlebendigkeit, die dem Germanen reinen Stammes abgeht. Darum hatte er auch in währender Schreibarbeit mehr Federn zerbissen und Schnipfel zerzaust und Selbstgespräche geführt, als ein Genosse in deutschem Kloster in gleicher Frist getan hätte. Aber er hielt seines Fleisches natürliche Unruhe nieder und zwang seine Füße mannhaft, unter dem bücherschweren Tisch standzuhalten.

Es war ein linder Sommerabend; wiederum war seine Feder wie ein Irrlicht über das geduldige Pergament gehüpft, es knisterte vom Ziehen der Buchstaben – da hub sie an, langsamer zu gehen, – itzt eine Pause, dann noch einige Züge – und einen gewaltigen Schnirkel zog er über den unbeschriebenen übrigen Raum, daß die Tinte unfreiwillig einen Schwarm von Flecken gleich schwarzen Sternbildern drüber schwirrte. Er hatte das Wort Finis! geschrieben; mit langgedehntem Atemzug erhob er sich vom Stuhl gleich einem Mann, dem ein Zentnerstein vom Herzen gefallen, er überschaute, was schwarz auf weiß vor ihm lag: „Gelobt sei der heilige Amandus!“ rief er feierlich, „wir sind gerächt!“

Er hatte in diesem erhebenden Augenblick – eine Schmähschrift vollendet, eine Schmähschrift, zugeeignet der ehrwürdigen Bruderschaft auf der Reichenau, gerichtet gegen – Ekkehard, den Pörtner zu Sankt Gallen. Als der blonde Erklärer des Virgilius Abschied nahm von seinem Kloster und zur Herzogin übersiedelte, konnte es ihm unmöglich zu Sinne kommen – und hätt’ er sein Gedächtnis auch umgeschüttelt bis in die verborgensten Falten, daß ein Mann auf der Welt sei, dessen Dichten und Trachten darauf ausging, an ihm Rache zu nehmen, denn er war harmlos und sanft und tat keiner Mücke ein Leides. Und doch war es so; denn zwischen Himmel und Erde und im Gemüt eines Schriftgelehrten gehn viele Dinge vor, davon sich der Verstand der Verständigen nichts träumen läßt.

Die Geschichte hat ihre Launen im Erhalten wie im Zerstören. Die deutschen Lieder und Heldensagen, die durch des großen Kaiser Karl Fürsorge aufgezeichnet standen, mußten im Schutte der Zeiten untergehen, Gunzos Werk, das noch keinem der wenigen, die es gelesen, Freude bereitet, ist auf die Nachwelt gekommen208. Mag denn der ungeheuerliche Anlaß, der des welschen Gelehrten Rache aufrief, mit seinen eigenen Worten erzählt sein:

„Schon lange“ – also schreibt er seinen Reichenauer Freunden – „betrieb es der verehrungswerte teure König Otto bei den Fürsten Italiens, daß er mich in seine Reiche herüber berufe. Da ich aber keinem so untertan, noch auch so niedrigen Standes war, daß man mich hätte zwingen mögen, wandte er sich an mich mit bittender Anzeige, also daß er mein Versprechen als Unterpfand des Kommens empfing. So geschah es auch, als er Welschland verließ, daß ich ihm folgte. Und ich folgte ihm, gedenkend, daß mein Kommen keinem zum Schaden, vielen zu Nutzen gereichen möge, denn wozu treibt uns nicht die Liebe und der Wunsch, den Mitbrüdern genehm zu sein? Und ich zog meines Wegs, nicht wie ein Britanne gespickt mit den Geschossen des Tadels, sondern im Dienste der Liebe und Wissenschaft.

Über steiles Joch der Gebirge und abschüssige Schluchten und Täler kam ich endlich vor des heiligen Gallus Kloster an, und zwar so erschöpft, daß die vom eisigen Hauch der Bergluft erstarrten Hände den Dienst versagten und fremde Hilfleistung mich vom Saumtier heben mußte.

Des Ankommenden Hoffnung war friedlich Ausruhen am Ort klösterlicher Niederlassung. Auch sah ich dort häufiges Neigen der Häupter, sittig geordnete Kapuzen, sanftes Einherschreiten und seltenen Gebrauch der Rede, also daß ich keines Unheils gewärtig stund, nur daß des Juvenalis Spruch gegen die falschen Philosophen:

›Spärlich ist ihnen das Wort, – doch Bosheit steckt in dem Schweigen‹

heimlich an meinem Gemüt nagen wollte. Und wer sollte glauben, daß jenem Heiden vorahnende Kenntnis von kuttentragender Verkehrtheit inwohnte?

Doch freute ich mich harmlos meines Lebens, erwartend, ob nicht unter dem spärlichen Gemurmel der Brüder etliche Funken philosophischer Strebungen aufblitzen möchten. Es blitzte aber nichts auf, sie rüsteten am Rüstzeug der Hinterlist.

Unter anderen war auch ein junger Schülerknab’ anwesend und ein älterer, der – – je nun! er war, wie er war; sie hießen ihn einen braven Lehrer des Klosters, wiewohl er mir in die Welt zu schauen schien mit den Augen einer Turteltaube. Von diesem schmachtend blickenden Gelehrten habe ich nunmehr zu reden. Höret seine Tat. Ab- und zugehend machte er den Schüler zum Gefährten eines tückischen Anschlages.

›Nacht war’s, es nahte die Zeit des sorgenstillenden Schlummers,

Wohlgesättigt des Mahls, zollten wir Bacchus sein Recht –‹

da verführte mich ein ungünstig Geschick, daß ich im Hin- und Herreden lateinischen Tischgespräches eines Verstoßes im Gebrauch eines Kasus schuldig ward und einen Akkusativus setzte, wo ein Ablativus sich geziemt hätte.

Nun ward offenbar, in welcher Art Künsten jener vielberühmte Lehrer den ganzen Tag seinen Schüler unterwiesen. ›Solch Verbrechen wider Sprache und Grammatik verdiene die Schulgeißel!‹ also spottete das benannte Studentlein mich, den Erprobten, und kramte bei diesem Anlaß ein höhnisches Spottgedicht aus, das ihm eben jener Lehrer eingeblasen, also daß ein rauhes zisalpinisches Gelächter über den fremden Gastfreund durchs Refektorium erschallte.

Wem aber ist unbekannt, welcher Beschaffenheit die Verse übermütig gewordener Mönche sind? Was weiß ein solcher von der inneren Haushaltung eines Gedichtes, wo ein Stück Purpur ans andere zu setzen ist, auf daß es glänze und gleiße? was von der Würde der Dichtkunst? – er spitzt die Lippen und spuckt ein Poem aus, gleich dem LuciliusA2, den Horatius brandmarkt, daß er oftmals auf einem Fuß stehend zweihundert Verse diktierte und mehr noch, bevor ein Stündlein abgelaufen. Ermesset nun, ehrwürdige Brüder, welch ein Maß von Unrecht man mir angetan, und was der für ein Mensch sein muß, der seinem Nebenmenschen den Irrtum eines Ablativus vorhält!“

Der Mensch, der in harmlosem Scherz diesen Frevel begangen, war Ekkehard; wenig Wochen bevor ihn seines Schicksals Wendung auf den hohen Twiel rief, geschah die Untat. Mit des folgenden Morgens Frührot war das Tischgespräch mit dem übermütigen Welschen vergessen, aber in der Brust dessen, den sie des falschen Akkusativus überwiesen, saß ein Groll, so herb und nagend, wie der ob der Waffen Achills, der einst den Telamonier Aias in sein Schwert gejagt und noch bei den Schatten der Unterwelt seitab zürnen ließ; er zog aus dem Tal, das die Sitter durchströmt, nordwärts, er sah Bodensee und Rhein – und dachte des Akkusativus; er ritt in den altersgrauen Toren von Köln ein und ritt hinüber auf belgische Erde, der falsche Akkusativus ritt hinter ihm auf dem Bug seines Rosses wie ein Alp; die Klostermauern des heiligen Amandus taten ihm ihren Frieden auf: im Psalmsingen der Frühmette, in der Litanei der Vesperandacht stieg der Akkusativus vor ihm auf und heischte sein Sühnopfer.

Von allen unfrohen Lebenstagen prägen sich die am tiefsten der Seele ein, wo durch eigen Verschulden eine Beschämung veranlaßt ward; statt mit sich selber drüber zu grollen, wird allen, die unfreiwillige Zeugen waren, eine bittere Verstimmung zugewendet, das liebe Menschenherz gesteht sich so schwer, so schwer die eigene Schwäche, und manchem, der ruhig an Kampf und Totschlag zurückdenkt, schießt alles Blut zu Haupte beim Gedanken an ein töricht Wort, das ihm an einer Stelle entfuhr, wo er gern mit einem verständigen geglänzt.

Darum nahm Gunzo seine Rache an Ekkehard. Und er führte eine scharfe, tapfere Feder und hatte vieler Monde Frist auf sein Werk verwandt, daß es in seiner Art ein Meisterstück ward, eine schwarze Suppe von viel hundert gelahrten Brocken, reichlich gewürzt mit Pfeffer und Wermut und all den Bitterkeiten, die den Streitschriften geistlicher Herren vor denen anderer so lieblichen Schmack verleihen.

Und ging ein wohltuender Zug von Grobheit durchs Ganze, also daß dem Leser zumut’ werden kann, als höre er, wie in naher Scheune ein Mensch mit Flegeln der Drescher gedroschen werde – was von der feinen Art neuerer Zeit, wo das Gift in vergüldeten Pillen gereicht wird und die Streiter den Hut voreinand abziehen, eh’ sie anheben, sich die Rippen einzuschlagen, rühmlich absticht.

Es waren aber zwei Teile, der erste dem Ekkehard zum Nachweis, daß nur ein roher und unwissender Mensch sich an Verwechslung eines Kasus stoßen könne, der zweite der Welt zur Überzeugung, daß der Verfasser Gunzo der gelahrteste, weiseste und frömmste der Zeitgenossen.

Und darum hatte er im Schweiß seines Angesichtes die Klassiker gelesen und die heiligen Schriften, daß er alle Stellen verzeichnen möge, in denen gleichfalls dichterische Laune oder Nachlässigkeit einen fälschlichen Akkusativus gebraucht. Brachte auch der Beispiele aus Virgilius zwei, aus Homer eines, aus Terentius eines, aus Priscianus eines, ferner aus Persius eines, wo ein Vokativ statt eines Nominativ, und aus Sallustius eines, wo ein Ablativ statt des Genitiv gesetzt ward – desgleichen aus den Büchern Moses und den Psalmen. „Und, wenn solches sogar in den Reihen heiliger Schriften zu finden, wer ist so ruchlos, daß er solche Weise des Sprechens zu tadeln wage oder zu verändern? Mit Falschheit also glaubt des heiligen Gallus Mönchlein, daß mir die Kunst der Grammatik fern, mag meine Zunge auch dann und wann gehemmt sein durch die Gewohnheit meiner heimischen Sprache, die der lateinischen nur verwandt ist. Verstöße aber kommen vor durch Nachlässigkeit und menschliche Unvollendetheit im allgemeinen, wie Priscianus sehr richtig sagt: ›Ich glaube nicht, daß von menschlichen Erfindungen etwas nach allen Teilen Vollendetes erfunden werden möge.‹ Auch hat schon Horatius Nachlässigkeiten der Schreibart und Sprache bei bedeutenderen Männern entschuldigt: ›Zuweilen schlummert auch der gute Homer.‹ Und Aristoteles sagt in seinem Buch über die hermeneiaA3: ›Alles, was unsere Zunge ausspricht, ist nur ein Ausdruck für das, was unserer Seele eingeprägt ist. Der Begriff einer Sache aber ist früher vorhanden als der Ausdruck, und somit die Sache höher zu schätzen denn das Wort. Wo aber der Sinn dunkel, sollst du ihm mit Geduld und erläuterndem Verstand behilflich sein, die wahre Meinung zu ermitteln‹.“

Folgte sodann ein Schwall klassischer Beispiele von ungeschicktem und nachlässigem Ausdruck des Gedankens, deren Reihe mit dem Spruch des Apostels schließt, der sich selber ungeschickt im Reden, aber nicht ungeschickt an Wissen genannt.

„Betrachtet man hienach das Benehmen meines sanktgallischen Widersachers, so möchte man glauben, er sei einmal in den Garten eines weisen Mannes eingebrochen und habe vom Mistbeet einen Rettich gestohlen, der ihm den Magen verdorben und Galle angesetzt. Hüte darum jeder sein Gärtlein vor solchen Gesellen! Schlechte Gespräche verderben gute Sitten.

Möglich auch, daß er durchaus nicht anders sich benehmen konnte. Er hat wohl den ganzen Tag in den Schlupfwinkeln seiner Kutte nachgesucht, womit er den Gastfreund bewirten möge, aber weil er nichts anderes als verborgene List und Bosheit drin vorfand, setzte er eben davon ein Pröbchen vor. Schlechte Menschen haben schlechte Schätze.

Mit solchem Wesen stimmt denn sein äußeres Erscheinen, das wir sorgsam zu mustern nicht unterließen. Sein Antlitz trug einen fahlen Glanz wie schlechtes Metall, das zur Fälschung des echten dient, seine Haare gekräuselt, die Kapuze feiner und sauberer denn nötig, die Schuhe leicht – auf daß alle Anzeichen vorhanden, die dem heiligen Hieronymus Ärgernis gaben, da er schrieb: ›Leider sind auch in meinem Sprengel etliche Kleriker, deren Sorge darauf gerichtet ist, ob ihre Kleider herrlich duften, die Nägel ihrer Finger glänzen, das krause Haupthaar mit Balsam gesalbt und gesänftigt sei und der gestickte Schuh knapp am Füßlein sitze. Ein solcher Aufzug geziemt sich aber kaum für einen Stutzer und Bräutigam, geschweige für einen Geweihten des Herrn.‹

Weiter hab’ ich erwogen, ob nicht auch der Laut seines eigenen Namens mit seiner Handlungsweise übereinstimme. Und wie? Ekkehard oder Akhar hieß der Mann, als wäre ihm schon bei der Taufe der Name eines Übeltäters vorahnungsvoll aufgeprägt worden. Denn wer kennt nicht jenen Akhar, der aus der Beute von Jericho einen purpurnen Mantel entwendet und zweihundert Beutel Silbers samt einer güldenen Rute, also daß ihn Josua hinausführen ließ in ein abgelegen Tal und ganz Israel steinigte ihn, und alles, was er hatte, ward mit Feuer verbrannt? Solchen Vorgängers hat sich der Akhar von Sankt Gallen würdig erzeigt, dieweil, wer die Gebote einer höflichen Lebensart verachtet, so übel tut als ein Dieb: er veruntreut das Gold wahrer Weisheit.

Wäre es erlaubt, an die Seelenwanderung des Pythagoras zu glauben, so stünde außer allem Zweifel, daß die Seele jenes hebräischen Akhar in diesen Ekkhard gefahren, und sie wäre ernsthaft darob zu bedauern, denn besser den Körper eines Fuchses zum Aufenthalt erwählen als den eines hinterlistigen Mönches. All dies sei übrigens ohne Haß gesagt; mein Haß geht nur auf die dem Manne anklebende Schlechtigkeit, also nur auf ein Akzidens, nicht auf die Substanz selbst, in der wir ja nach den Worten der Schrift ein Ebenbild der Gottheit anzuerkennen haben“.

„Merket nun“, so fuhr Gunzo in seines Buches zweitem Teile fort, „wie unsinnig mein Feind gegen Nutz und Frommen der Wissenschaft gehandelt. Mehr als hundert geschriebene Bände führte ich bei meiner Reise über die Alpen mit mir, Waffen des Friedens, darunter des Marcianus blumenreiche Unterweisung in den sieben freien Künsten, des Plato unergründliche Tiefe im Timäus, des Aristoteles zu unseren Zeiten kaum aufgehellte dunkle Weisheit im Buch von der hermeneia, und Ciceros rednerische Würde in der Topik. Wie ernst und fruchtbringend hätte die Unterhaltung gedeihen mögen, wenn sie mich über solche Schätze befragt! Wie konnte ich glauben, daß sie mich, dem Gott so vieles verliehen, ob der Verwechslung eines Kasus durchhecheln würden, mich, der den Donat und Priscian von innen und außen kennt! Es mag freilich jener Aufgeblasene wähnen, daß er die ganze Grammatika in seiner Kapuze mit sich trage – teure Mitbrüder! kaum ihren Rücken hat er von ferne erschaut und wollte er eilen, einen Blick ihres hehren Angesichts zu erhaschen, er würde über den eigenen täppischen Fuß stolpernd zu Boden sinken. Die Grammatik ist ein hohes Weib, anders erscheint sie Holzhackern, anders einem Aristoteles.

Soll ich euch aber von der Schwester der Grammatik, von der Dialektik reden, die jener griechische Meister die Amme seines Geistes genannt? O edle Kunst, die den Toren in ihren Schlingen fängt, dem Weisen aber zeigt, wie er die Schlinge meide; die uns die verborgenen Fäden aufdeckt, durch welche das Sein mit dem Nichtsein verknüpft ist! Freilich davon weiß jener Kuttenträger nichts, – nichts von jener subtilen Feinheit, die mit neunzehn Gattungen von Schlüssen alles zu erledigen versteht, was je gedacht und was denkbar. Gott ist gütig, er entzieht ihm solches Wissen, weil er’s doch nur zu Lug und Trug nützen würde ...“

In solcher Weise wies der gelahrte Welsche seine Überlegenheit in allen freien Künsten nach; der Rhetorik und ihren Herrlichkeiten war ein Abschnitt gewidmet, worin wieder stark von solchen die Rede, denen die Göttin Minerva einmal von weitem im Traum erschienen, und von Toren, die da glauben, Kürze des Ausdrucks sei Zeichen von Weisheit. Dann aber ging’s auf Arithmetik, Geometrie und Astronomie, mit Einschaltung tiefsinniger Abhandlungen über die Frage, ob die Himmelskörper mit Seele, Vernunft und Anspruch auf Unsterblichkeit begabt, und ferner, ob damals, als Josua geboten: „Bewege dich nicht, Sonne, gegen Gabaon, noch du, Mond, gegen das Tal Aialon“, gleichzeitig auch den andern fünf Planeten Stillstand auferlegt worden, oder ob diese ihren Kreislauf fortsetzen durften.

Gründliche Prüfung dieses Problems gab dann Anlaß, auf die Harmonie der Sphären und damit auf die Musik, als letzte der sieben Künste, einzugehen, und so konnte das Schifflein der Rache auf wogendem Schwall der Gewässer endlich dem Ziele entgegensteuern.

„Wozu nun hab’ ich all dies angeführt?“ frug er zum Schlusse.

„Nicht um die Elemente der freien Künste darzutun, sondern um die Torheit eines Unwissenden bloßzulegen, der da vorzog, grammatischen Schnitzern nachzujagen, statt wahre Wissenschaft von seinem Gastfreund zu erlauschen. Wenn ihm auch innerlich die Kunst für ewig versagt ist, hätt’ er sich doch von außen einen Widerschein von mir erwerben können. Aber ihn blähte allzu großer Übermut, daß er vorzog, unter den Seinigen für einen Weisen zu gelten, gleich dem Frosche, der in seinem Sumpf zweifelsohne glaubt, daß er an Größe den Stier übertreffe. Ach, niemals ist der Mitleidwerte auf freien Höhen des Wissens gestanden und hat die Stimme Gottes zu sich reden gehört: in der Wildnis ist er geboren, unter blödem Murmeln aufgewachsen, und seine Seele bewahrt die Sitte der Tiere des Waldes; in tätigem Leben der Welt wollte er nicht beharren, zu innerlicher Beschaulichkeit ist er verdorben, der Feind des Menschengeschlechts hat ihm sein Zeichen aufgebrannt. Gern würde ich euch ermahnen, ihm die Hilfe heilender Arznei angedeihen zu lassen, aber ich fürchte, ich fürchte, seine Krankheit ist zu tief eingewurzelt.

›Und auf verhärtetes Fell wirkt selber die Nieswurz vergeblich‹

sagt Persius.

Möget ihr nun, ehrwürdige Brüder, aus allem, was ich mitteile, ersehen, ob ich ein solcher bin, der die Behandlung und das Gelächter jenes Toren verdient hat. Euerem Urteil stell’ ich ihn und mich anheim: Im Urteil der Gerechten schwindet der Tor in sein verdientes Nichts. Finis!“

„... Gelobt sei der heilige Amandus!“ sprach Gunzo nochmals, als das letzte Wort seines Werkes geschrieben vor ihm stand. Die alte Schlange hätte sicherlich ihre Freude an ihm gehabt, wenn sie ihn in seiner Gottähnlichkeit hätte belauschen können, da er den letzten Punkt anfügte. „Und Gott sah alles, was er gemacht hatte. Und es war sehr gut.“ Und Gunzo? – Er tat desgleichen.

Dann schritt er zu seinem Metallspiegel und beschaute sich lange, als wär’ es ihm von äußerster Wichtigkeit, das Antlitz dessen kennenzulernen, der den Ekkehard von Sankt Gallen vernichtet. Er verneigte sich achtungsvoll vor seinem Spiegelbild.

Die Glocke im Refektorium hatte längst zur Abendmahlzeit gerufen, Psalm und Tischgebet waren gebetet, schon saßen die Brüder beim sanften Hirsebrei, da erst trat Gunzo in den Saal. Sein Antlitz strahlte. Der Dekan deutete ihm schweigend vom gewohnten Platz hinüber in den Winkel, denn wer allzuoft versäumte, sich rechtzeitig einzufinden, der ward zur Buße von der Speisenden Gemeinschaft gesondert und sein Wein den Armen verabreicht209. Aber ohne Murren setzte sich Gunzo hinüber und trank sein belgisch Brunnenwasser, sein Büchlein lag ja vollendet oben, das tröstete.

Nach aufgehobenem Mahl zog er seiner Freunde einige zu sich auf die Zelle, geheimnisvoll, als gält’ es, verborgenen Schatz zu heben, er las ihnen das Werk vor.

Des heiligen Gallus Kloster mit seinen Büchern, Schulen, Gottesgelehrten war in damaliger Christenheit viel zu gut beleumdet, als daß die Jünger des heiligen Amandus nicht mit leiser Freude das Zischen von Gunzos Geschossen vernommen. Tüchtigkeit und vorragender Wandel beleidigt die Welt oft noch tiefer als Frevel und Sünde.

Darum nickten sie beifällig mit den grauen Häuptern, wie Gunzo die Kernstellen vortrug.

„Es wär’ schon lang’ an der Zeit gewesen, den Bären im Helvetierland einen Tanz aufzuspielen“, sprach der eine, „Übermut mit Grobheit gepaart verdient keine andere Musik.“

Gunzo las weiter. „Bene, optime, aristotelicissime!“ murmelten die Versammelten, als er geendet. „Vergnügte Mahlzeit, Bruder Akhar“, sprach ein anderer, „belgisch Gewürz zum helvetischen Käse der Alpen!“

Der Bruder Küchenmeister umarmte den Gunzo und weinte vor Rührung. So gelehrt und so tief und so schön sei noch nichts aus den Mauern des heiligen Amandus in die Welt hinausgegangen. Nur ein einziger der Brüder stand unbeweglich an der Mauer.

„Nun?“ fragte Gunzo.

„Wo bleibt die Liebe?“ sprach der Bruder leise, dann schwieg er. Gunzo fühlte den Vorwurf.

„Du hast recht, Hucbald!“ sprach er, „es soll geholfen werden. Die Liebe gebeut, für unsere Feinde zu beten. Ich werd’ noch ein Gebet für den armen Toren an den Schluß der Schrift setzen, das wird sich versöhnlich ausnehmen und weiche Gemüter bestechen. Wie?“

Der Bruder schwieg. Es war spät in der Nacht geworden. Sie gingen auf den Zehen aus der Zelle.

Gunzo wollte den, der von der Liebe gesprochen, zurückhalten, es war ihm an seinem Urteil gelegen, aber der wandte sich und folgte den andern.

„Matthäus dreiundzwanzig, fünfundzwanzigA4!“ sprach er vor sich hin, wie sein Fuß die Schwelle überschritten. Niemand hörte ihn.

Aber Gunzo, den Vielgelehrten, floh der Schlummer, wieder und wieder las er die Blätter seines Fleißes, er wußte bald, an welchem Fleck jedes einzelne Wort stand, und doch kamen seine Augen nicht los von den bekannten Zügen. Dann griff er zur Feder: „Einen frömmern Schluß!“ sprach er – „sei es denn!“ Er besann sich, dann durchmaß er die Stube mit bedachtsamem Schritt. „Es sollen künstliche Hexameter werden; wer hat je würdiger eine Beleidigung vergelten sehen?“

Jetzt setzte er sich hin und schrieb. Ein Gebet für seinen Feind wollte er schreiben. Aber wider seine Natur kann niemand. Da las er seine Blätter noch einmal durch – sie waren allzu gelungen. Dann schrieb er den Nachtrag. Der Hahn krähte ins Morgengrau, da war auch dieser vollendet; prasselnder Mönchsverse zwei Dutzend und ein halbes. Daß seine Gedanken vom Gebet für den Gegner auf ihn selbst und den Ruhm seiner Arbeit zu reden kamen, ist bei einem Mann von Selbstgefühl ein natürlicher Übergang.

Mit Salbung schrieb er die fünf letzten Zeilen:

„Zeuch nun hinaus in die Welt, mein Büchlein, und triffst du auf Leute,

Die mit hämischem Zahn mein glorreich Leben benagen,
Diesen zerschmettre das Haupt und wirf sie besiegt in den Staub hin,
Bis dein Verfasser dereinst zur verheißenen Seligkeit eingeht,
Die dem Manne gebührt, der sein Talent nicht verscharrt hat.“

Das Pergament war rauh und sträubte sich, er mußte die Rohrfeder breit aufdrücken, daß es die Buchstaben annahm.

Anderen Tages verpackte Gunzo seine geharnischte Epistel in eine Kapsel von Blech und diese in einen leinenen Umschlag. Ein Dienstmann des Klosters, der seinen Bruder erschlagen, hatte das Gelübde getan, zu den Gräbern von zwölf Heiligen zu wallen, den rechten Arm an die rechte Hüfte gekettet, und dort zu beten, bis ihm ein himmlisch Gnadenzeichen werde210. Er pilgerte rheinaufwärts. Dem hing Gunzo die Kapsel um; nach wenig Wochen ward sie richtig und unversehrt an der Klosterpforte der Reichenau dem Pörtner eingehändigt. Gunzo kannte seine Leute dort. Darum hatte er ihnen die Schrift gewidmet.

Der alte Moengal hatte dazumal auch Geschäfte im Kloster. Im Gaststüblein saß der belgische Pilgersmann, sie hatten ihm ein Fischsüpplein gereicht, mühsam arbeitete er sich dran ab, seine Ketten klirrten, wenn er den Arm hob.

„Geh’ du wieder heim, Mordbüßer“, sprach Moengal zu ihm, „und heirat’ die Witib des Erschlagenen, das wird eine bessere Sühne sein, als mit klirrendem Eisen einen Narrengang durch die weite Welt tun.“

Der Pilger schüttelte schweigend das Haupt, als dächte er, das schüfe ihm noch schwerere Ketten, als die der Schmied geschmiedet.

Moengal ließ sich beim Abt melden. „Er ist im Lesen vertieft“, hieß es. Doch ließ man ihn eintreten.

„Setzt Euch, Leutpriester“, sprach der Abt gnädig, „Ihr seid ein Freund von Gebeiztem und Gesalzenem – ich hab’ was für Euch.“

Er las ihm die frisch angekommene Schrift Gunzos vor. Der Alte horchte; seine Augenbrauen zogen sich in die Höhe, die Nasenflügel traten weit und weiter auf.

Den Abt schüttelte ein Lachen, wie er an die Schilderung von Ekkehards krausem Haar und seinem Schuhwerk kam. Moengal saß ernst, es zogen drei Falten auf der Stirn auf, wie Wolken vor dem Gewitter.

„Nun?“ sprach der Abt. „dem Bürschlein wird der Hochmut aus der Kutte geklopft! Sublim! ganz sublim! Und eine Fülle von Wissenschaft, das trifft. Darauf gibt’s gar keine Antwort.“

„Doch!“ sprach der Leutpriester finster.

„Welche?“ fragte der Abt gespannt.

Moengal machte eine schlimme Gebärde. „Einen Stechpalmstock von der Hecke schneiden“, rief er, „oder eine brave Hasel und rheinabwärts ziehen, bis zwischen dem schwäbischen Holz und des welschen Schreibers Rücken nur noch eine Armslänge Entfernung ist! Dann aber ...“ er schloß seine Rede sinnbildlich.

„Ihr seid grob, Leutpriester“, sprach der Abt, „und habet keinen Sinn für Gelehrsamkeit. So etwas kann freilich nur ein eleganter Geist schreiben. Respekt!“

„Hoiho!“ fing Moengal, der Alte, an, er war fuchswild geworden, „Gelehrsamkeit? ›Aufgeblasene Lippen und dabei ein boshaftig Herz sind als wie ein irden Gefäß mit Silberschaum überzogen‹, spricht Salomo. Gelehrsamkeit? So gelehrt ist mein Pfarrwald auch mit seinen Hagebuchen, der schreit auch hinaus, wie man in ihn hineingeschrieen, und ist wenigstens ein lieblich Echo. Wir kennen die belgischen Pfauen! kommen anderwärts auch vor. Die Federn sind gestohlen, und was sie selber krähen, trotz Rad und Schweif und Regenbogen am Steiß, ist heiser und bleibt heiser, da hilft kein Halskragenblähen. Vor meiner großen Gesundkur hab’ ich auch geglaubt, es sei gesungen statt gekrächzt, wenn einer mit Grammatik und Dialektik die Backen aufblies, – aber jetzt: ›Gute Nacht, Marcianus Capella!‹ heißt’s bei uns in Radolfs Zelle!“

„Ihr werdet wohl bald an Euren Heimweg denken müssen“, sprach der Abt, „es zieht schon ganz schwarz über Konstanz hin.“

Da merkte der Leutpriester, daß er mit seinen Ansichten von Gesundsein und von der Wissenschaft nicht an rechten Mann geraten war. Er empfahl sich.

„Hätt’st auch in deinem Kloster Benchor auf der grünen Insel bleiben können, irischer Hartknochen!“ dachte der Abt Wazmann und entließ ihn sehr kühl.

„Rudimann!“ rief er dann in den dunkeln Gang hinaus. Der Gerufene erschien.

„Ihr gedenket noch der Weinlese“, redete ihn der Abt an, „und des Streiches, den Euch ein gewisses Milchgesicht geschlagen, dem eine phantasiereiche Herzogin itzt gewisse Grundstücke zuwenden will ...“

„Ich gedenke des Streichs“, sprach Rudimann, verschämt schmunzelnd, wie eine Jungfrau, die nach dem Geliebten gefragt wird.

„Den Streich hat einer zurückgegeben, saftig und scharf, Ihr könnet zufrieden sein. Lest.“ Er reichte ihm des Gunzo Pergamentblätter.

„Mit Erlaubnis!“ sprach Rudimann und trat ans Fenster. Er hatte schon manchen braven Wein gekostet der Pater Kellermeister, seit daß er sein Amt führte, aber selbst damals, als ihm der Bischof von Cremona etliche Krüge dunkelbraun schäumenden Asti übersendet, hatte sein Antlitz nicht so rötlich froh gestrahlt wie jetzo.

„Es ist doch eine herrliche Gottesgabe um ein gründlich Wissen und einen schönen Stil“, sagte er. „Das Ekkehardlein ist fertig. Es kann sich nimmer an freier Luft sehen lassen.“

„Noch nicht ganz“, sagte der Abt, „aber was nicht ist, kann werden. Der gelehrte Bruder Gunzo hilft uns dazu. Seine Epistel darf nicht ungelesen vermodern, lasset etliche Abschriften nehmen, lieber sechs als drei. Der junge Herr muß von Hohentwiel weggebissen werden. Ich liebe die jungen Schnäbel nicht, die feiner singen wollen als die Alten. Schnee auf die Tonsur! das soll ihm gut tun. Wir werden unserem Mitbruder in Sankt Gallen ein Brieflein schicken, daß er ihm die Rückkehr anbefehle. Wie steht’s mit seinem Sündenregister?“

Rudimann hob bedächtig die linke Hand auf und begann mit den Fingern zu zählen. „Soll ich’s hersagen? Zum ersten: In währender Weinlese den Frieden unseres Klosters gestört, indem er ...“

„Halt!“ sprach der Abt, „das ist abgetan. Alles, was vor der Hunnenschlacht geschehen und anhängig worden, sei erledigt, ab und zur Ruhe! So haben’s einst die Burgunder in ihr Gesetz211 geschrieben, das soll auch bei uns noch gelten.“

„Dann ohne Fingerzählung“, sagte der Kellermeister. „Des heiligen Gallus Pörtner ist, seit er sein Kloster ließ, dem Hochmut und der Anmaßung untertan worden, ohne Gruß der Lippen geht er an Brüdern vorüber, deren Alter und Verstand seine Reverenz fordern, er hat sich herausgenommen, am heiligen Tag, da wir die Hunnen schlugen, die Heerpredigt zu halten, wiewohl ein so wichtig Amt der Rede einem der hochwürdigen Äbte zugestanden wäre; hat sich ferner herausgenommen, einen heidnischen Gefangenen zu taufen, wiewohl die Taufe vorgenommen werden soll vom ordentlichen Pfarrer des Bezirks, und nicht von einem, der an die Pforte des heiligen Gallus gehört.

Was aber aus stetiger Berührung des vorlauten Jünglings mit seiner neuen Gebieterin noch werden mag, weiß nur der, der Herz und Nieren prüft! Bereits hat man bei der Hochzeit jenes getauften Heiden wahrgenommen, wie er sich der einsamen Unterredung mit jener Herrin in Israel nicht entzieht und etlichemal geseufzt hat gleich einem angeschossenen Damhirsch. Auch hat man mit Betrübnis gesehen, wie eine unstet irrlichtelnde griechische Jungfrau, genannt Praxedis, um ihn her ihr Wesen treibt; was die Herrin unverdorben läßt, mag die Dienerin einreißen, von der nicht einmal sicher ist, ob sie eines orthodoxen Glaubens sich erfreue. Ein leichtfertig Weib aber ist bitterer denn der Tod, sie ist ein Strick der Jäger, ihr Herz ein Netz, ihre Hände sind Bande, nur wer Gott gefällt, mag ihr entrinnen.“

Es stund Rudimann, dem Beschützer der Obermagd Kerhildis, wohl an, daß er die Worte des Predigers so getreulich im Herzen trug.

„Genug“, sprach der Abt. „Hauptstück neunundzwanzig: Von der Rückberufung auswärts Weilender. Es wird durchschlagen. Mir ahnt und schwant, bald wird die wetterwendische Herrin droben um ihren Felsen herumflattern wie eine alte Schwalbe, der ihr Junges aus dem Nest gefallen, – Ade Herzkäfer! ... und Saspach wird des Klosters!“

„Amen!“ murmelte Rudimann.

Fußnoten

A1 Heute Saint-Amand-les-Eaux im französischen Departement Nord.

A2 Römischer Satiriker, 180–102 v. Chr. Die angezogene Äußerung in Horaz’ „Satiren“, 1, 4, 9 f.

A3 D.h. Auslegung.

A4 „Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln auswendig reinlich hattet, inwendig aber ist’s voll Raubes und Fraßes!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ekkehard