Siebentes Kapitel. - Virgilius auf dem hohen Twiel. - Wenn einer seine Übersiedlung an neuen Wohnsitz glücklich bewerkstelligt hat, dann ist’s ein anmutig und reizend Geschäft, sich wohnlich einzurichten. ...

Wenn einer seine Übersiedlung an neuen Wohnsitz glücklich bewerkstelligt hat, dann ist’s ein anmutig und reizend Geschäft, sich wohnlich einzurichten.

Ist auch gar nicht so gleichgültig, in was Stube und Umgebung einer haust, und wessen Fenster auf die Heerstraße zielen, wo die Lastwagen fahren und die Steine geklopft werden, bei dem halten sicherlich mehr graue und verstäubte als buntfarbige Gedanken Einkehr.


Darüber hatte sich nun Ekkehard keine Sorge zu machen, denn die Herzogsburg auf dem Twiel lag luftig und hoch und einsam, – aber ganz zufrieden war er auch nicht, als ihm Frau Hadwig tags nach seiner Ankunft seinen Wohnsitz anwies.

Es war ein groß luftig Gemach mit säulendurchteiltem Rundbogenfenster, aber an demselben Gang gelegen, an den auch der Herzogin Saal und Zimmer stießen. Der Eindruck, den einer aus abgeschiedener Klosterzelle mitnimmt, läßt sich nicht über Nacht verwischen. Und Ekkehard gedachte, wie er oftmals möge von seiner Betrachtung abgezogen werden, wenn geharnischter Fußtritt und Sporenklang oder leises Huschen dienender Mägde an seiner Tür vorüberstreife, oder wenn er sie selber, die Herrin der Burg, möge einhergehen hören – unbefangen wandte er sich an Frau Hadwig: „Ich hab’ ein Anliegen, hohe Frau!“

„Redet“, sagte sie mild.

„Möchtet Ihr mir nicht zu sotanem Gelaß ein fern gelegen Stüblein zuweisen, – und wenn’s unterm Dach oder in einem der Warttürme wäre. Der Wissenschaft, wie des Gebetes Pflege heischt einsame Stille, Ihr kennet ja des Klosters Brauch.“

Da legte sich eine leise Falte über Frau Hadwigs Stirn, eine Wolke war’s nicht, aber ein Wölklein. „Ihr sehnet Euch danach, oftmals allein zu sein?“ frug sie spöttisch. „Warum seid Ihr nicht in Sankt Gallen geblieben?“

Ekkehard neigte sich und schwieg.

„Halt an“, rief Frau Hadwig, „es soll Euch geholfen werden. Seht Euch das Gelaß an, in dem Vincentius, unser Kapellan, bis an sein selig End’ gehaust hat, der hat auch so einen Raubvogelgeschmack gehabt und war lieber der höchste auf Twiel als der bequemste. Praxedis, hol’ den großen Schlüsselbund und geleite unsern Gast.“

Praxedis tat nach dem Gebot. Das Gemach des seligen Kapellans war hoch oben im viereckigen Hauptturm der Burg; langsam stieg sie mit Ekkehard die finstere Wendeltreppe hinauf, der Schlüssel knarrte schwer im lang’ nicht gedrehten Schloß. Sie traten ein. Da sah’s gut aus.

Wo ein gelehrter Mann gehaust, braucht’s ein Stück Zeit, um seine Spuren zu verwischen. Es war ein mäßiger Geviertraum, weiße Wände, wenig Hausrat, Staub und Spinnweb allenthalb; auf dem Eichentisch stand ein Büchslein mit Schreibsaft, längst war’s eingetrocknet, im Winkel ein Krug, drin vielleicht einst Wein gefunkelt, auf einem Brett der Wandnische glänzten einige Bücher, aufgeschlagene Pergamentrollen lagen dabei, aber, o Leidwesen! der Sturm hatte das Fensterlein zerschlagen, der Patz in Vincentius’ Stube war seit seinem Tod für Sonne und Regen, Mücken und Vögel frei geworden; eine Schar Tauben war eingezogen, in ungestörter Besitzergreifung hatten sie sich zwischen der Bücherweisheit angesiedelt, auf den Briefen des heiligen Paulus und auf Julius Cäsars „Gallischem Krieg“ nisteten sie und schauten verwundert den Eingetretenen entgegen.

Der Tür gegenüber war mit Kohle ein Sprüchlein an die Wand geschrieben. „Martha, Martha, du machst dir um vielerlei Sorge und Unruh’!“ las Ekkehard; „soll das des Verstorbenen letzter Wille sein?“ frug er seine liebliche Wegweiserin.

Praxedis lachte: „‘s war gar ein behaglicher Herr“, sprach sie, „der Herr Vincentius selig. Ruhe ist mehr wert als ein Talent Silbers116, hat er oft gesagt. Die Frau Herzogin aber hat ihm arg zugesetzt, immer gefragt und was anderes gefragt: heut von den Sternen am Himmel, morgen von Arzneikraut und Heilmitteln, übermorgen aus der Heiligen Schrift und Überlieferung der Kirche – ›wozu habt Ihr studiert, wenn Ihr keinen Bescheid wisset?‹ dräute sie, und Herr Vincentius hat einen schweren Stand gehabt –“

Praxedis deutete schalkhaft mit dem Zeigefinger nach der Stirn –

„Mitten im Land Asia“, hat er meistens erwidert, „liegt ein schwarzer Marmelstein; wer den aufhebt, der weiß alles und braucht nicht mehr zu fragen ... Er war aus Bayerland, der Herr Vincentius, den Bibelspruch hat er wohl zu seinem Trost hingeschrieben.“

„Pflegt die Herzogin so viel zu fragen?“ sprach Ekkehard zerstreut.

„Ihr werdet’s wahrnehmen“, sagte Praxedis.

Ekkehard musterte die zurückgebliebenen Bücher. „Es tut mir leid um die Tauben, die werden abziehen müssen.“

„Warum?“

„Sie haben das ganze erste Buch des, Gallischen Kriegs’ verdorben, und der Brief an die Korinther ist mit untilgbaren Flecken belastet ...“

„Ist das ein großer Schaden?“ frug Praxedis.

„Ein sehr großer!“

„O ihr arme böse Tauben“, scherzte die Griechin, „kommt her zu mir, eh’ der fromme Mann euch hinausjagt unter die Häher und Falken.“

Und sie lockte den Vögeln, die unbefangen in der Büchernische verblieben waren, und wie sie nicht kamen, warf sie einen weißen Wollknäuel auf den Tisch, da flog der Tauber herüber, vermeinend, es sei eine neue Taube angekommen, und ging dem Knäuel mit gemessenen Schritten entgegen, zwei vor und einen zurück, und verbeugte sich und grüßte mit langgezogenem Gurren. Praxedis aber nahm den Knäuel an sich, da flog ihr der Vogel auf den Kopf.

Da hub sie leise an, eine griechische Singweise zu summen; es war das Lied des alten, ewig jungen Sängers von TejosA1:

„Ei sieh, du holdes Täubchen,
Wo kommst du hergeflogen?
Woher die Salbendüfte,
Die du, die Luft durchwandelnd,
Aushauchst und niederträufelst?
Wer bist du? was beliebt dir?“

Ekkehard horchte hoch auf und warf einen schier erschrockenen Blick von dem Kodex, den er durchblätterte, herüber; wäre sein Aug’ für natürliche Anmut geübter gewesen, so hätt’ es wohl länger auf der Griechin haften dürfen. Der Tauber war ihr auf die Hand gehüpft, sie hielt ihn mit gebogenem Arm in die Höhe – Anakreons alter Landsmann, der dereinst den parischen Marmorblock zur Venus von Knidos umschuf, hätte das Bild dauernd seinem Gedächtnis eingeprägt.

„Was singt Ihr?“ fragte Ekkehard. „Das klingt ja wie fremde Sprache.“

„Warum soll’s nicht so klingen?“

„Griechisch?!“

„Warum soll ich nicht Griechisch singen?“ gab ihm Praxedis schnippisch zurück.

„Bei der Leier des Homerus“, sprach Ekkehard verwundert, „wo in aller Welt habt Ihr das erlernet, unserer Gelehrsamkeit höchstes Ziel?“

„Zu Hause! ...“ sagte Praxedis gelassen und ließ die Taube zurückfliegen.

Da schaute Ekkehard noch einmal in scheuer Hochachtung herüber. Bei Aristoteles und Plato war’s ihm seither kaum eingefallen, daß auch zur Zeit noch lebende Menschen griechischer Zunge auf der Welt seien. Wie eine Ahnung zog’s durch seinen Sinn, daß hier etwas verkörpert vor ihm stehe, das ihm trotz aller geistlichen und weltlichen Weisheit fremd, unerreichbar ...

„Ich glaubte als Lehrer gen Twiel zu kommen“, sprach er wehmütig, „und finde meine Meister. Wollt Ihr von Eurer Muttersprache mir nicht auch dann und wann ein Körnlein zuwenden?“

„Wenn Ihr die Tauben nicht aus der Stube verjagt“, sprach Praxedis. „Ihr könnt ja ein Drahtgitterlein vor die Nische ziehen, wenn sie Euch ums Haupt fliegen wollen.“

„Am eines reinen Griechisch willen ...“ wollte Ekkehard erwidern, aber die Türe der engen Klause war aufgegangen. –

„Was wird hier von Tauben und reinem Griechisch verhandelt?“ klang Frau Hadwigs scharfe Stimme. „Braucht man so viel Zeit, um diese vier Wände anzuschauen? Nun, Herr Ekkehard, taugt Euch die Höhle?“

Er nickte bejahend.

„Dann soll sie gesäubert und in Stand gesetzt werden“, fuhr Frau Hadwig fort. „Auf, Praxedis, die Hände gerührt und vor allem das Taubenvolk verjagt!“

Ekkehard wollte es wagen, ein Wort für die Tauben einzulegen.

„Ei so“, sprach Frau Hadwig, „Ihr wünschet allein zu sein und Tauben zu hegen. Soll man Euch nicht auch eine Laute an die Wand hängen und Rosenblätter in Wein streuen? Gut, wir wollen sie nicht verjagen; aber heute abend sollen sie gebraten unsern Tisch zieren.“

Praxedis tat, als habe sie nichts gehört.

„Wie war’s mit dem reinen Griechisch?“ frug nun die Herzogin. Unbefangen erzählte ihr Ekkehard, um was er die Griechin angegangen, da zogen die Stirnfalten wieder bei Frau Hadwig auf: „Wenn Ihr so wißbegierig seid, so mögt Ihr mich fragen“, sagte sie, „auch mir ist die Sprache geläufig.“ Ekkehard sprach nichts dagegen. In ihrer Rede lag meistens eine Schärfe, die das Wort der Erwiderung im Munde abschnitt. –

Die Herzogin war streng und genau in allem. Schon in den ersten Tagen nach Ekkehards Ankunft entwarf sie, einen Plan, in welcher Art sie zur Erlernung der lateinischen Sprache vorschreiten wolle. Da fanden sie es am besten, eine Stunde des Tages der löblichen Grammatik zu bestimmen, eine zweite der Lesung des Virgilius. Auf letztere freute sich Ekkehard sehr, er gedachte sich zusammenzufassen und mit Aufbietung von Wissen, Schärfe und Feinheit der Herzogin die Pfade des Verständnisses zu ebnen.

„Es ist doch kein unnütz Werk“, sprach er, „was die alten Poeten getan; wie mühsam wäre es, eine Sprache zu erlernen, wenn sie uns nur im Wörterbuch überliefert wäre, wie die Getreidekörner in einem Sack, und wir die Mühe hätten, Mehl daraus zu malen und Brot daraus zu backen ... Der Poet aber stellt alles wohlgefügt an seinen Platz, da ist sein ersonnener Plan und Inhalt, und die Form klingt lieblich drein wie Saitenspiel; woran wir uns sonst die Zähne auszureißen hätten, das schlürfen wir aus Dichters Hand wie Honigseim, und es schmeckt süße.“

Das Herbe der Grammatik zu lindern, wußte Ekkehard keinen Ausweg. Für jeden Tag schrieb er der Herzogin die Aufgabe auf ein Pergamentblatt, sie war des Lernens begierig, und wenn die Frühsonne über dem Bodensee aufstieg und ihre ersten Strahlen auf den hohen Twiel warf, stund sie schon in des Fensters Wölbung und lernte, was ihr vorgeschrieben war, leise und laut, bis zu Ekkehards Saal klang einst ihr einförmig Hersagen: amo, amas, amat, amamus ...

Praxedis aber hatte schwere Stunden. Sich zur Anregung, aber ihr zu nicht geringer Langeweile, befahl ihr Frau Hadwig, jeweils das gleiche Stück Grammatik zu lernen. Kaum Schülerin, freute es sie, mit dem, was sie erlernt, ihre Dienerin zu meistern, und nie war sie zufriedener, als wenn Praxedis ein Hauptwort für ein Beiwort ansah oder ein unregelmäßig Zeitwort regelmäßig abwandelte.

Des Abends kam die Herzogin hinüber in Ekkehards Gemach. Da mußte alles bereit sein zur Lesung des Virgil, Praxedis kam mit ihr, und da in Vincentius’ nachgelassenen Büchern ein lateinisch Wörterbuch nicht vorhanden war, ward sie mit Anfertigung eines solchen beauftragt, denn sie hatte in jungen Tagen des Schreibens Kunst erlernt. Frau Hadwig war dessen minder erfahren: „Wozu wären die geistlichen Männer“, sprach sie, „wenn ein jeder die Kunst verstünde, die ihrem Stand zukommt? Schmieden sollen die Schmiede, fechten die Krieger und schreiben die Schreiber, und soll kein Durcheinander entstehen.“ Doch hatte Frau Hadwig sich wohlgeübt, ihren Namenszug in künstlich verschlungenen großen Buchstaben den siegelbehangenen Urkunden als Herrin des Landes beizufügen.

Praxedis zerteilte eine Pergamentrolle in kleine Blätter, zog auf jedes Blatt zwei Striche, also, daß drei Abteilungen geschaffen wurden, um nach Ekkehards Vortrag jedes lateinische Wort einzutragen, daneben das deutsche, in die dritte Reihe das entsprechende griechisch. Letzteres war der Herzogin Anordnung, ihm zu beweisen, daß die Frauen auch ohne seine Beihilfe schon löbliche Kenntnis erworben.

So begann der Unterricht117.

Die Türe von Ekkehards Gemach nach dem Gang hin hatte Praxedis weit aufgesperrt. Er ging hin und wollte sie zulehnen, die Herzogin aber hielt ihn zurück: „Kennet Ihr die Welt noch nicht?“

Ekkehard wußte nicht, was das heißen solle.

Jetzt las er ihnen das erste Buch von Virgilius’ Heldendichtung. Äneas, der Troer, hub sich vor ihren Augen, wie ihn siebenjährige Irrfahrt umhergeschleudert auf dem Tyrrhener Meer und wie es so unsäglicher Mühsal gekostet, des römischen Volkes Gründer zu werden. Es kam der Zorn der Juno, wie sie an Äolus bittweise sich wendet und dem Gebietiger von Wind und Sturm die schönste ihrer Nymphen verspricht, wenn er der Troer Schiffe verderben wolle – Gewitter, Sturm, Schiffbruch, Zerschellen der Kiele, ringsum schwimmen umher sparsam in unendlicher Meeresflut Waffen des Kriegs und Gebälk und troischer Prunk durch die Brandung. Und der Wogen Gemurr dringt zu Neptunus hinunter, tief in Grund, er kommt emporgestiegen und schaut die Verwirrung, des Äolus Winde jagt er mit Schimpf und Schande nach Hause, wie der Aufruhr beim Wort des verdienten Mannes legt sich das Toben der Wässer, an Libyens Küste landet der Schiffe Rest ...

Soweit hatte Ekkehard gelesen und erklärt. Seine Stimme war voll und tönend und klang ein wohltuend Gefühl inneren Verständnisses durch. Es war spät geworden, die Lampe flackerte, da hob Frau Hadwig den Vortrag auf.

„Wie gefällt meiner Herrin des heidnischen Poeten Erzählung?“ frug Ekkehard.

„Ich will’s Euch morgen sagen“, sprach sie. Sie hätte es auch schon heute sagen können, denn fest und bestimmt stand der Eindruck des Gelesenen ihrem Gemüte eingeprägt, sie tat’s aber nicht, um ihn nicht zu kränken. „Lasset Euch was Gutes träumen“, rief sie dem Weggehenden nach.

Ekkehard aber ging noch hinauf in des Vincentius Turmstube. Die war sauber hergerichtet, die letzte Spur vom Nisten der Tauben getilgt; er wollte sich sammeln zu stiller Betrachtung, wie ehemals im Kloster, aber sein Haupt war heiß, vor seiner Seele stand die hohe Gestalt der Herzogin, und wenn er sie recht ins Auge faßte, so schaute auch Praxedis’ schwarzäugig Köpflein über ihrer Herrin Schulter zu ihm herüber – „was aus all dem noch werden soll?“ Er trat ans Fenster, eine kühle Herbstluft wehte ihm entgegen, ein dunkler eherner unendlicher Himmel spannte sich über das schweigende Land, die Sterne funkelten, nah, fern, licht, matt; so groß hatte er das Himmelsgewölbe noch niemals erschaut – auf Bergesgipfeln ändert sich das Maß der Dinge – lang’ stand er so, da ward’s ihm unheimlich, als wollten ihn die Gestirne hinaufziehen zu sich, als sollt’ er leicht und geflügelt der Stube entschweben ... er schloß das Fenster, bekreuzte sich und ging schlafen.

Des andern Tages kam Frau Hadwig mit Praxedis, der Grammatik zu pflegen. Sie hatte Wörter gelernt und Deklinationen und wußte ihre Aufgabe. Aber sie schien zerstreut.

„Habt Ihr etwas geträumt?“ frug sie den Lehrer, wie die Stunde abgelaufen war.

„Nein.“

„Gestern auch nicht?“

„Nein.“

„Ist schade, es soll eine Vorbedeutung in dem liegen, was einer in den ersten Tagen am neuen Wohnort träumt ... Höret“, fuhr sie nach einer Pause fort, „seid Ihr nicht ein recht ungeschickter Mensch?“

„Ich?“ fuhr Ekkehard betroffen auf.

„Ihr geht mit Dichtern um, warum habt Ihr nicht einen anmutigen Traum ersonnen und mir erzählt; Dichtung ist soviel wie Traum, es hätt’ mir Freude gemacht.“

„Ihr befehlet“, sprach Ekkehard, „so Ihr mich wieder fraget, will ich einen Traum erzählen, auch wenn ich ihn nicht geträumt habe.“

Solcherlei Gespräch war für Ekkehard neu, unklar.

„Ihr habt mir Eure Ansicht vom Virgilius gestern vorenthalten“, sprach er.

„Ja so“, sprach Frau Hadwig. „Höret, wenn ich Herrin im Römerland gewesen, ich weiß nicht, ob ich nicht die Gesänge verbrannt und den Mann für immer schweigen geheißen hätte ...“

Ekkehard sah sie starr verwundert an.

„Es ist mein Ernst!“ fuhr sie fort. „Wißt Ihr warum? – weil er die Götter seines Landes schlecht macht. Ich hab’ gute Acht gehabt, wie Ihr der Juno Reden gestern vortruget. Des Herrn aller Götter Ehefrau – und trägt eine Wunde im Gemüt, daß ein troischer Hirtenknab’ sie nicht für die Schönste erklärt, und ist nicht imstande, aus eigener Macht einen Sturm zu befehlen, daß die paar Schifflein zertrümmert werden, und muß den Äolus durch Antragung einer Nymphe verführen ... und Neptun will Herrscher der Meere sein und läßt sich von fremdem Gewind Sturm und Wetter in sein Reich blasen und merkt’s erst, wie es fast vorbei ist – was ist all das für ein Wesen? Als Herzogin sag’ ich Euch, in dem Reich, dessen Götter gescholten werden, möcht’ ich den Scepter nicht führen.“

Ekkehard schien um eine Antwort verlegen. Was das Altertum an Schriftwerk überliefert, stand ihm da als ein Festes, Unerschütterliches, wie altes Gebirg’; er war zufrieden, sich in Bedeutung und Verständnis einzuarbeiten, – nun solche Zweifel!

„Erlaubet, Herrin“, sprach er, „wir haben noch nicht weit gelesen, es steht zu hoffen, daß Euch die Menschen der Äneis besser gefallen. Wollet auch bedenken, daß zur Zeit, wo Augustus, der Kaiser, seine Untertanen aufzeichnen ließ, das Licht der Welt zu Bethlehem zu leuchten anhub; es geht die Sage, daß auch auf Virgilius ein Strahl davon gefallen, da mochten ihm die alten Götter nicht mehr groß sein ...“

Frau Hadwig hatte gesprochen nach dem ersten Eindruck. Mit dem Lehrer streiten mochte sie nicht.

„Praxedis“, sprach sie scherzend, „was ist deine Meinung?“

„Mein Denken geht nicht so hoch“, sprach die Griechin. „Mir kam alles so natürlich vor, drum war mir’s lieb. Und am besten hat mir gefallen, wie die Frau Juno ihrer Nymphe den Äolus zum Ehgemahl verschafft; wenn er auch ein wenig alt ist, so ist er doch ein König der Winde und sie ist gewißlich gut bei ihm versorgt gewesen ...“

„Gewiß! –“ sprach Frau Hadwig und winkte ihr, zu schweigen. „Nun wissen wir doch auch, wie Kammerfrauen den Virgilius lesen.“

Ekkehard war durch der Herzogin Widerspruch zu größerem Eifer gereizt. Mit Begeisterung las er am Abend des weiteren, wie der fromme Äneas auf Erspähung des libyschen Landes auszog und ihm seine Mutter Venus entgegentritt in Gewand und Waffen einer Sparterjungfrau, den leichten Bogen um die Schulter, den wallenden Busen kaum in des aufgeschürzten Gewandes Knüpfung verborgen – und wie sie des Sohnes Schritt der tyrischen Fürstin entgegenlenkt. Und weiter las er, wie Äneas zu spät die göttliche Mutter erkannte – vergebens ruft er ihr nach, sie aber hüllt ihn in Nebel, daß er unerkannt zur neuen Stadt gelange ... wo die Tyrerin zu Junos Ehren den mächtigen Tempel gründet, steht er und schaut, von Künstlerhand gemalt, die Schlachten von Troja; am leeren Abbild vergangener Kampfarbeit weidet sich seine Seele.

Jetzt naht sie selber, Dido, die Herrin des Landes, antreibend das Werk und die künftige Herrschaft:

„Und an der Pforte der Göttin, bedeckt vom Gewölbe des Tempels,
Sah sie, mit Waffen umschart, auf des Thrones hochragendem Sessel,
Urteil sprach sie den Männern und Recht, und die Mühen der Arbeit
Teilte sie jeglichem gleich nach Billigkeit ...“

„Leset mir das nochmals“, sprach die Herzogin. Ekkehard wiederholte es.

„Steht’s so geschrieben?“ frug sie. „Ich hätte nichts eingewendet, wenn Ihr’s selber so eingeschaltet hättet. Glaubt’ ich doch schier ein Abbild eigener Herrschaftführung zu hören ... Mit den Menschen Eures Dichters bin ich wohl zufrieden.“

„Es wird wohl leichter sein, sie abzuzeichnen als die Götter“, sprach Ekkehard. „Es gibt so viel Menschen auf der Welt ...“

Sie winkte ihm, fortzufahren. Da las er, wie des Äneas Gefährten herankamen, der Königin gastlichen Schutz anstehend, und wie sie ihres Führers Ruhm künden, der, von der Wolke verhüllt, nahe stand.

Und Dido öffnet ihre Stadt den Hilfesuchenden, und der Wunsch steigt in ihr auf: Wäre doch selbst der König, vom selbigen Sturme gedränget, euer Äneas allhier! also, daß sehnendes Verlangen den Helden treibt, die Wolke zu durchbrechen ...

Doch wie Ekkehard begonnen hatte:

„Kaum war solches gesagt, als schnell des umwallenden Nebels Hülle zerreibt ...“

da kam ein schwerer Tritt den Gang herauf: Herr Spazzo, der Kämmerer, trat ein, er wollte die neuen Studien seiner Gebieterin beaugenscheinigen – beim Wein mochte er auch gesessen haben: sein Aug’ war starr, der Gruß erstarb ihm auf den Lippen. Es war nicht seine Schuld. Schon in der Frühe hatte er ein Brennen und Zucken in der Nase verspürt, und das bedeutet sonder Widerrede einen trunkenen Abend.

„Bleibet stehen!“ rief die Herzogin, „und Ihr, Ekkehard, leset weiter.“

Er las, ernst, mit Ausdruck:

„Siehe! da stand Äneas und strahlt’ in der Helle des Tages,
Hehr an Schulter und Haupt, wie ein Gott, denn die himmlische Mutter
Hatt’ anmutige Locken dem Sohn und blühender Jugend
Purpurlicht und heitere Würd’ in die Augen geatmet:
So wie das Elfenbein durch Kunst sich verschönet, wie Silber
Prangt und parischer Stein in des rötlichen Goldes Umrandung.
Drauf zur Königin wandt’ er das Wort und allen ein Wunder
Redet er plötzlich und sprach: ›Hier schauet mich, welchen Ihr suchet,
Mich, den Troer Äneas, gerettet aus libyscher Woge.‹“

Herr Spazzo stand verwirrt. Um Praxedis’ Lippen schwebte ein verhaltenes Kichern.

„Wenn Euch der Weg wieder herführt“, rief die Herzogin, „so wählet eine schicklichere Stelle zum Eintritt, daß wir nicht versucht werden, zu glauben, Ihr seid Äneas, der Troer, gerettet aus libyscher Woge!“

Herr Spazzo trat seinen Rückzug an. „Äneas, der Troer!“ murmelte er im Gang; „hat wieder einmal ein rheinfränkischer Landfahrer sich einen erlogenen Stammbaum gemacht? Troja!? – umwallender Nebel? ... Äneas, der Troer, wir werden eine Lanze brechen, wenn wir uns treffen! Mord und Brand!“

Fußnoten

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?????, ????? ??????? usw.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ekkehard