Neunzehntes Kapitel. - Burkard, der Klosterschüler. - Rudimann, der Kellermeister, war kein falscher Rechner. Eine Rolle Pergament in einem Lachsrachen muß Neugier erregen. ...

Rudimann, der Kellermeister, war kein falscher Rechner. Eine Rolle Pergament in einem Lachsrachen muß Neugier erregen. Während Herr Spazzo den Reichenauer Klosterwein getrunken, war seine Gebieterin mit Praxedis im stillen Closet an Entzifferung der Gunzoschen Schrift gesessen; die Schülerinnen Ekkehards hatten des Lateinischen genug gelernt, um die Hauptsachen zu verstehen; was grammatisch unklar blieb, errieten sie, was nicht zu erraten war, setzten sie nach eigenem Gutdünken zusammen.

Praxedis war empört: „Ist denn die Nation der Gelehrten überall wie in Byzanzium?“ sprach sie. „Erst die Mücke zum Elefanten gemacht und dann einen Feldzug gegen das selbstgeschaffene Ungetüm begonnen! Das Reichenauer Geschenk schmeckt essigsauer.“ – Sie verzog den lieblichen Mund wie damals, da sie Wiborads Holzäpfel kosten mußte.


Frau Hadwig war sonderbar bewegt. Ein unheimlich Gefühl sagte ihr, daß in Gunzos Blättern ein Geist sein Wesen treibe, der nicht vom Guten, aber sie gönnte Ekkehard die Demütigung.

„Ich glaube, er hat die Zurechtweisung verdient“, sprach sie.

Da sprang Praxedis auf: „Unser braver Lehrer verdient manche Zurechtweisung“, rief sie, „aber das sollte unsere Sache sein. Wenn wir ihm seine blöde Schwerfälligkeit wegschulmeistern, tun wir ein gutes Werk. Aber wenn einer mit dem Balken im Aug’ dem andern den Splitter vorwirft, das ist zu arg. Die bösen Mönche haben das nur angebracht, um ihn anzuschwärzen. Darf ich’s zum Fenster hinauswerfen, gnädige Herrin?“

„Wir haben Euch weder um Ekkehards Erziehung noch um Werfung eines Gastgeschenks zum Fenster hinaus ersucht“, sprach die Herzogin bitter. Praxedis schwieg.

Die Herzogin konnte sich von der eleganten Schmähschrift lange nicht trennen. Ihre Gedanken waren dem blonden Mönch nicht mehr zugewendet wie damals, als er sie über den Hof des heimischen Klosters trug. Im Augenblick überschwenglichen Gefühls nicht verstanden werden, ist gleich der Verschmähung, der Stachel weicht nicht wieder. Wenn sie ihn jetzt erschaute, pochte das Herz nicht in höherem Schlag; oft war’s Mitleid, was ihre Blicke ihm noch zuführte, aber nicht jenes süße Mitleid, aus dem die Liebe aufsprießt wie aus kühlem Grunde die Lilie – es barg einen bösen Keim von Geringschätzung in sich.

Durch Gunzos Schmähschrift ward auch das Wissen, das die Frauen seither hoch an ihm gehalten, in Staub gezogen, was blieb noch Gutes? Das stille Weben und Träumen seiner Seele verstand die Herzogin nicht, zarte Scheu ist in anderer Augen Torheit. Daß er in der Frühe ausgegangen, das hohe Lied zu lesen, war zu spät; er hätte das im vorigen Herbst tun sollen ...

Der Abend dunkelte.

„Ist Ekkehard heimgekehrt?“ fragte die Herzogin.

„Nein“, sprach Praxedis, „Herr Spazzo auch nicht.“

„Dann nimm den Leuchter“, befahl Frau Hadwig, „und trage die Pergamentblätter auf Ekkehards Turmstube. Er darf nicht ununterrichtet bleiben von seiner Mitbrüder Werken.“

Die Griechin gehorchte, aber unfroh. In der Turmstube droben war schwüle Hitze. Ungeordnet lagen Bücher und Gerätschaften umher. Auf dem Eichentisch war das Evangelium des Matthäus aufgeschlagen: „Am Geburtsfest des Herodes aber tanzte der Herodias Tochter vor der Gesellschaft, und sie gefiel dem Herodes, daß er ihr mit einem Eidschwur verhieß zu geben, um was sie bitten wollte, und sie sprach: ›Gib mir auf einer Schüssel den Kopf Johannes des Täufers!‹ ...“

Die priesterliche Stola, Ekkehards Weihnachtsgeschenk von der Herzogin, lag daneben, die goldgewirkten Fransen hingen über das Fläschlein mit Jordanwasser, das ihm der alte Thieto einst mitgegeben.

Da schob Praxedis alles zurück und legte Gunzos Epistel auf den Tisch; es tat ihr leid, wie sie alles geordnet. Beim Fortgehen wandte sie sich, tat das Fenster auf, riß ein Zweiglein von dem üppig am Turm sich emporschlingenden Efeugerank und warf’s drüber hin.

Ekkehard war spät heimgekommen. Er hatte den wunden Cappan gepflegt; noch größere Arbeit war es ihm, des Hunnen langes Ehegemahl zu trösten. Nachdem das erste Wehgeheul verstummt und ihre Tränen getrocknet, war bis nach Sonnenuntergang ihre Rede nur ein einziger großer Fluch auf den Klostermeier, und wenn sie ihren starken Arm gen Himmel hob und von Augauskratzen und Bilsenkraut in die Ohren gießen und Zähneeinschlagen sprach, und ihre braunen Zöpfe wildbedrohlich im Winde flatterten, so bedurfte es eindringlichen Zuspruchs, sie zu beruhigen. Doch war’s gelungen.

In der Stille der Nacht las Ekkehard die Blätter, die ihm die Griechin in seine Stube gelegt. Seine Hand spielte mit einer wilden Rose, die er heimgehend im Tannenwald gepflückt, während sein Auge die geharnischten Angriffe des welschen Gelehrten aufnahm.

Woher mag es kommen, dachte er und sog den Duft der Blume ein, daß so vieles der Tinte Entsprossenes seinen Ursprung nicht verleugnen kann? Alle Tinte kommt vom Gallapfel und aller Gallapfel vom bösen Wespenstich ...

Mit heiterem Antlitz legte er schließlich die gelben Pergamentblätter weg: Eine gute Arbeit – eine recht fleißige gute Arbeit – o, der Wiedehopf ist auch eine wichtige Person unter dem fliegenden Getier. Aber die Nachtigall hat kein Ohr für seinen Gesang ... Er schlief ausgezeichnet gut nach seiner Lesung.

Wie er des andern Morgens von der Burgkapelle zurückschritt über den Hof, traf er auf Praxedis.

„Wie geht’s Euch, Hunnentäufer?“ sprach sie leicht, „ich bin ernstlich um Euch besorgt. Es hat mir geträumt, ein großer brauner Meerkrebs sei den Rhein herauf geschwommen und aus dem Rhein in den Bodensee, und vom Bodensee sei er auf unsere Burg gekrochen und hätt’ schneidige Scheren und hätt’ Euch drein geklemmt und scharf ins Fleisch geschnitten. Der Seekrebs heißt Gunzo. Habt Ihr noch viel so gute Freunde?“

Ekkehard lächelte.

„Ich mißfalle manchem Mann, der mir auch nicht gefallen kann“, sprach er. „Wer an rußige Kessel anstößt, kann leichtlich schwarz werden.“

„Scheint Euch aber ganz gleichgültig zu sein“ – sprach Praxedis. „Ihr solltet Euch schon heut auf eine Antwort besinnen. Siedet den Krebs rot ab, dann beißt er nimmer.“

„Die Antwort“, erwiderte Ekkehard, „hat ein anderer für mich gegeben. Wer zu seinem Bruder spricht: ›Rakka!‹ wird des hohen Rates schuldig sein, und wer sagt: ›du Narr!‹ wird des höllischen Feuers schuldig sein.“

„Ihr seid recht fromm und mild“, sagte Praxedis, „aber sehet zu, wie weit Ihr damit in der Welt kommet. Wer sich seiner Haut nicht wehret, dem wird sie abgezogen. Auch den schlechten Feind sollt Ihr nicht gering anschlagen: Sieben Wespen zusammen stechen ein Roß tot.“

Die Griechin hatte recht. Stumme Verachtung unwürdigen Angreifers gilt allzuleicht für Schwäche. Aber es war Ekkehards Natur so.

Praxedis trat einen Schritt auf ihn zu, daß er betroffen zurückwich. „Soll ich Euch noch einen guten Rat geben, Ehrwürdigster?“ sprach sie. Er nickte schweigend.

„Ihr schreitet wieder viel zu ernst einher; es möchte einer glauben, Ihr wollet mit Sonne und Mond Kegel schieben, wenn Ihr des Weges kommt. ‘s ist heißer Sommer jetzt, die Kapuze macht Euch schwül. Lasset Euch ein linnen Gewand beschaffen und meinetwegen auch den Schloßbrunnen übers Haupt rieseln, aber seid fröhlich und guter Dinge. Die Herrin möchte sonst recht gleichgültig für Euch werden.“

Ekkehard wollte ihr die Hand reichen; es deuchte ihm zuweilen, als sei Praxedis sein guter Engel. Da kam langsamen Hufschlages Herr Spazzo in den Burghof eingeritten. Sein Haupt senkte sich dem Sattelknopf entgegen, bleiernes Lächeln war über das müde Antlitz gegossen, halb schlief er.

„Euer Gesicht hat sich namhaft verändert seit gestern“, rief ihm Praxedis zu. „Warum fliegen keine Funken mehr unter Faladas Huf?“

Er schaute mit stieren Augen zu ihr herab. Es flimmerte vor seinem Blick.

„Bringt Ihr auch ein erklecklich Schmerzensgeld mit, Herr Kämmerer?“ fragte Praxedis.

„Schmerzensgeld? für wen?“ fragte Herr Spazzo stumpf.

„Für den armen Cappan! Ich glaube, Ihr habt eine Hand voll Mohnkörner gegessen, daß Ihr nimmer wisset, warum Ihr ausgeritten ...“

„Mohnkörner?“ sprach Herr Spazzo mit dem gleichen Ausdruck, „Mohnkörner? Nein. Aber Meersburger, roten Meersburger, ungefügigen, hundertschlündig224 zu trinkenden roten Meersburger! ja!“

Er stieg schwerfällig vom Roß und zog sich in seine Gemächer zurück. Der Bericht über seiner Sendung Erfolg blieb unerstattet. Praxedis schaute dem Kämmerer nach, sie begriff den Grund seiner bleischweren Gemütstimmung nicht ganz.

„Habt Ihr noch nie davon erzählen gehört, daß einem gesetzten Manne Gras, Blumen und Klee und aller Kräuter Meisterschaft, die Würze und aller Steine Kraft, der Wald und alle Vögelein – nicht so zur Erquickung frommen als ein alter Wein?“ sprach Ekkehard zur Ergänzung. „Aber schon der jüdische Prophetenknabe sprach zum König Darius, da die Kriegsleute und Amtmänner aus Morgenland um den Thron standen und stritten, wer der stärkste sei: der Wein ist der stärkste, der überwältigt die Männer, die ihn trinken, und führt ihre Gemüter in Irrtum.“

Praxedis hatte sich weggewendet und stand an den Zinnen der Mauerbrüstung.

„Seht einmal hinunter, Sonne der Wissenschaft“, sprach sie zu Ekkehard, „was kommt dort für ein sauber geistlich Männlein gewandelt?“

Ekkehard beugte sich über die Mauer und schaute an der senkrecht aufstrebenden Felswand hinab. Zwischen den Stauden am Burgweg wandelte ein braunlockiger Knabe; er trug ein Mönchsröcklein, das bis an die Knöchel reichte, Sandalen am nackten Fuß, einen ledernen Ranzen auf dem Rücken, den eisenbeschlagenen Wanderstab in der Hand. Ekkehard kannte ihn noch nicht.

Nach einer Weile stand er am Burgtor.

Er hielt die Hand vor die Augen und schaute in das weite schöne Land hinaus. Dann trat er in den Hof und ging gemessenen Schrittes auf Ekkehard zu.

Es war Burkard, der Klosterschüler, Ekkehards Schwestersohn, der von Konstanz herüberkam, seinem jungen Oheim einen Ferienbesuch abzustatten.

Er machte ein feierlich Gesicht und sprach den Begrüßungsspruch, als hätte er ihn auswendig gelernt.

Ekkehard küßte den wohlerzogenen Schüler, der in den fünfzehn Jahren seines Lebens noch keinen einzigen dummen Streich begangen. Burkard richtete Grüße von Sankt Gallen aus und brachte eine Epistel Meister Ratperts, der sich behufs vergleichender Studien von Ekkehard Auskunft erbat, in welcherlei Fassung und Wortlaut er gewisse schwierige Stellen im Virgilius zu übersetzen pflege. „Heil, Gedeihen und Fortschritt in der Erkenntnis225!“ lautete des Briefes Abschiedsgruß.

Ekkehard begann ein langes Fragen nach seinen dortigen Brüdern. Aber Praxedis fiel ihm in die Rede.

„Lasset doch den frommen jungen Mann ausruhen. Trockene Zunge erzählt nicht gern. Kommmit mir, Männlein, du sollst uns ein lieberer Besuch sein als der böse Rudimann von der Reichenau.“

„Vater Rudimann?“ sprach der Knabe, „den kenne ich auch.“

„Woher?“ fragte Ekkehard.

„Er ist vor wenig Tagen bei uns gewesen und hat dem Abt ein großes Schreiben überbracht und eine Schrift; es soll vieles über Euch drin stehen, liebwerter Ohm, und nicht lauter Schönes.“

„Hört!“ sprach Praxedis.

„... und wie er Abschied genommen, ist er nur bis zur Kirche gegangen; dort hat er gebetet, bis daß es dunkel war. Er muß aber alle Gänge und Schliche im Kloster kennen, wie die Glocke die Schlafstunde angeläutet, ist er heimlich und auf den Zehen ins große Dormitorium geschlichen, um zu lauschen, was die Brüder vor Einschlafen über Euch und über das, was in seiner Schrift stand, zusammen sprechen würden. Die Nachtkerze hat trüb geflackert, daß er im Verborgenen niedersitzen konnte. Aber um Mitternacht ist der Vater Notker Pfefferkorn gekommen, der hat die Runde gemacht, nachzuschauen, ob jeder seinen Gürtel fest ums Gewand geschlungen, und ob kein Messer oder schädlich Gewaffen im Schlafgemach sei. Der hat den Fremden hervorgezogen aus seinem Versteck, und die Brüder sind aufgewacht, und die große Abtslaterne ist angezündet worden, mit Stecken und Stangen und der siebenfältigen Geißel aus der Geißelkammer sind sie herbeigesprungen und war ein großer Lärm und Geschrei, trotzdem daß der Dekan und die Alten abwinkten. Notker Pfefferkorn selber war hoch ergrimmt: ›Der Teufel geht lauernd umher und sucht, wen er verschlinge‹, rief er ›wir haben den Teufel, züchtiget ihn!‹“

„Vater Rudimann aber ist noch recht höhnisch gewesen: ›Ich gestehe, treffliche Jünglinge‹, hat er gesagt, ›wenn ich wüßte, wo der Zimmermann einen Weg offen gelassen, so würde ich auf Händen und Füßen von dannen gehen; nun aber, da ich gern oder ungern euch in die Hände fiel, so gedenket, daß ihr eurem Gastfreund keine Schande antuet226.‹ Da wurden sie alle wild und schleppten ihn in die Geißelkammer; nur auf den Knien konnt’ er sich losbitten, und als endlich der Abt sprach: ›Wir wollen das Füchslein heimspringen lassen in seinen Bau‹, hat er sich höflich bedankt.

Ich bin gestern einem Fuhrwerk mit zwei großen Weinfässern vorbeigekommen: der Kellermeister der Reichenau schicke das dem heiligen Gallus für freundschaftliche Aufnahme, hat der Fuhrmann zu mir gesagt ...“

„Davon hat Herr Rudimann nichts gemunkelt, wie er gestern bei uns war“, sprach Praxedis. „Für die Geschichte verdienst du ein Stück Kuchen, Goldsohn, du erzählst ja wie ein Jubelgreis.“

„O“, sprach der Klosterschüler halb beleidigt, „es heißt nichts. Aber ich werde ein Gedicht darüber machen: ›Des Wolfs Einbruch im Schafstall und Strafe‹, – ich hab’s schon halb im Kopf, das muß schön werden.“

„Du machst auch Gedichte, junger Neffe?“ sprach Ekkehard heiter.

„Das wär’ kein guter Klosterschüler“, gab der Junge zur Antwort, „der vierzehn Jahre alt würde und keine Gedichte machen könnte. Meinen Lobgesang auf den Erzengel Michael in doppelt gereimten Hexametern hab’ ich dem Abte vorlesen dürfen; er hat meine Verse eine glänzende Perlenschnur geheißen. Und meine sapphische Ode zu Ehren der frommen Wiborad ist auch recht schön, soll ich sie vortragen?“

„Um Gottes willen!“ sprach Praxedis, „glaubst du, man fällt bei uns nur zum Burgtor herein und trägt gleich Oden vor? Wart’ erst dein Stück Kuchen ab.“

Sie sprang zur Küche und ließ den gelehrten Neffen Ekkehards im Gespräch mit seinem Oheim unter der Linde zurück. Der plauderte denn ein Namhaftes von Trivium und Quadruvium; weil gerade der Fels von Hohentwiel im Morgenlicht einen feingezeichneten Schatten über das flache Land warf, erging sich der Klosterschüler in einer weitläufigeren Disputation über den Grund des Schattens, als welchen er mit Sicherheit einen dem Licht entgegenstehenden Körper bezeichnete und alle andere Definitionen in ihrer Nichtigkeit nachwies.

Wie ein Springquell entströmte dem jugendlichen Munde die Flut der Wissenschaft. Auch in der Astronomie war er bewandert; das Lob Zoroasters von Baktrien und des Königs Ptolemäus von Ägyptenland mußte der Oheim geduldig anhören, über Form und Verwendung des Astrolabiums ward ihm scharf auf den Zahn gefühlt227; auch begann der braungelockte Schwestersohn auseinanderzusetzen, wie faselnd die Meinung derer sei, die da glauben, daß auf der Rückseite des Erdglobus das ehrenwerte Geschlecht der Antipoden228 hause – vor fünf Tagen hatte er all’ die schönen Sachen gelernt: aber schließlich erging es dem Oheim wie dem tapfern Kaiser Otto, da der weltweise Bischof Gerbert von Reims und Otrich, der Domschulmeister von Magdeburg, vor ihm und viel hundert gelahrten Äbten und Scholastern ihren Wettkampf ?ber Einteilung und Grund der theoretischen Philosophie229 abhielten – er gähnte.

Jetzt kam Praxedis mit einem herrlichen Kirschkuchen und einem Körbchen Früchte, das gab den Gedanken des fünfzehnjährigen Weltweisen eine Wendung zum Natürlicheren; als wohlerzogener Knabe sprach er erst den Hymnus230 vor dem Essen, wie er in der Klosterschule üblich, dann vertiefte er sich ganz in des Kuchens Aufzehrung und überließ die Frage von den Antipoden einer späteren Zukunft ...

Praxedis wandte sich zu Ekkehard: „Die Herzogin läßt Euch kundtun“, sprach sie mit verstelltem Ernst, „daß sie gesonnen, zum Studium des Virgilius zurückzukehren; sie ist begierig zu vernehmen, wie der Königin Dido Geschicke sich weiter abspinnen. Heute abend beginnen wir; Ihr sollt ein freundlich Gesicht dazu machen“, fuhr sie leiseren Tones fort, „es ist eine zarte Aufmerksamkeit, Euch zu beweisen, daß trotz der Schriften gewisser Herren das Vertrauen auf Euere Wissenschaft nicht geschwunden.“

Es war so. Ekkehard aber erschrak. Wieder in der alten Weise mit den zwei Frauen zusammen sein: schon der Gedanke tat ihm weh. Er konnte noch immer nicht vergessen, daß einst ein Karfreitagmorgen gewesen.

Da schlug er seinen Neffen auf die Schulter, daß der zusammenfuhr. „Du kommst hier nicht in die Ferien zum Fischfangen und Vogelstellen, Burkard!“ sprach er, „heute nachmittag lesen wir Virgil mit der gnädigen Herzogin, du wirst dabei sein.“

Er gedachte den Knaben als schirmende Abwehr zwischen die Herzogin und seine Gedanken zu stellen.

„Wohl!“ sprach Burkard mit kirschrotblauen Lippen, „Virgilius ist mir lieber als Jagen und Reiten, und ich werd’ die Frau Herzogin bitten, mir von ihrem Griechischen etwas zu lehren. Nach jenem Besuch, wo sie Euch mit fortgenommen, haben die Klosterschüler oftmals gesagt, sie wisse mehr Griechisch als alle ehrwürdigen Väter des Klosters zusammen, sie habe es durch Zauberei erlernt. Und wenn ich auch im Griechischen der erste bin ...“

„Dann kann dir’s nicht fehlen, daß du in fünf Jahren Abt und in zwanzig Jahren heiliger Vater zu Rom wirst“, sprach Praxedis spottend. „Einstweilen fließt dort der Burgbrunnen, das Blau deiner Lippen zu tilgen ...“

Um die vierte Abendstunde harrte Ekkehard im säulengetragenen Gemach seiner Gebieterin, die Lesung der Äneïde wieder aufzunehmen. Über ein halb Jahr war abgelaufen, daß Virgilius Ruhe gehabt. Ekkehard war beklommen, er hatte die Fenster weit aufgetan. Wohltuende Kühle des Abends strömte herein.

Der Klosterschüler blätterte in der lateinischen Handschrift.

„Wenn die Herzogin mit dir spricht, sei fein artig“, sprach Ekkehard.

Er aber antwortete mit Selbstgefühl: „Mit einer so vornehmen Frau red’ ich nur in Versen. Sie soll sich überzeugen, daß ein Zögling der inneren Schule vor ihr steht.“

Jetzt trat die Herzogin ein, gefolgt von Praxedis. Sie grüßte mit leichtem Kopfnicken. Ohne daß sie Ekkehards hoffnungsvollen Neffen zu bemerken schien, ließ sie sich im schnitzwerkverzierten Lehnstuhl nieder. Burkard hatte sich zierlich verneigt und stand am Ende des Tisches.

Ekkehard schlug den Virgilius auf. Da fragte die Herzogin gleichgültigen Tones: „Was soll der Knab’?“

„Ein demütiger Zuhörer“, sprach Ekkehard, „dem die Sehnsucht, das Griechische zu erlernen, Mut gibt, so erlauchter Lehrerin sich zu nahen. Er wird glücklich sein, wenn er von Eueren Lippen ...“

Aber bevor Ekkehard seine Rede geendet, war Burkard vor die Herzogin getreten, befangen und keck zugleich sprach er mit niedergeschlagenen Augen und genauer Betonung des Silbenmaßes:

„Esse velim Graecus, cum vix sim, dom’na, LatinusA1, 231.“

Es war ein tadelloser Hexameter.

Frau Hadwig hörte ihm halb erstaunt zu. Ein braunlockiger Knabe, der einen Hexameter sprach, war in alemannischen Landen etwas Ungewohntes. Und er hatte ihr zu Ehren die Daktylen und Spondäen aus dem Stegreif ersonnen. Darum ergötzte sie sich an dem jungen Verseschmied.

„Laß dich einmal näher beschauen“, sprach sie und zog ihn zu sich. Er gefiel ihr; es war ein lieblich Knabenantlitz, durchsichtig Rot auf den Wangen, so fein und zart, daß das blaue Geäder in leichtem Umriß drunter zu erschauen war, üppig wallten die Locken um die Stirn, eine kecke Adlernase ragte über den gelehrten jungen Lippen wie ein Hohn auf das, was unter ihr gesprochen werde, in die Luft. Da schlang Frau Hadwig ihren Arm um den Knaben, hob ihn empor und küßte ihn auf Lippe und Wange und tat schier kindisch mit ihm; dann schob sie den gepolsterten Schemel hart an ihre Seite und setzte ihn drauf: „Einstweilen sollst du von meinen Lippen etwas anderes pflücken als Griechisch“, sprach sie scherzend und küßte ihn noch einmal, – „jetzt sei aber so brav wie vorhin und sag’ schnell noch ein paar leichthingleitende Verse.“

Sie strich ihm die Locken zurück. Der Klosterschüler war errötet, aber seine Metrik kam durch einer Herzogin Kuß nicht aus der Fassung. Ekkehard war ans Fenster getreten und schaute nach den Alpen, Burkard aber sprach, ohne sich zu besinnen:

„Non possum prorsus dignos componere versus,
Nam nimis expavi duce me libante suaviA2.“

Es waren wiederum zwei tadellose Hexameter.

Die Herzogin lachte laut auf: „Du hast sicher schon das Licht der Welt mit lateinischem Vers begrüßt; das klingt und strömt ja, als wäre Virgil aus dem Grabe gestiegen. Warum erschrickst du denn, wenn ich dich küsse?“

„Weil Ihr so vornehm und stolz und schön seid“, sprach der Knabe.

„Sei zufrieden“, entgegnete die Herzogin, „wer mit frisch glühendem Kuß auf den Lippen so regelrechte Verse aus dem Ärmel schüttelt, dem hat der Schreck nicht tief ins Herz geschlagen.“ Sie stellte ihn sich gegenüber. „Warum begehrst du so eifrig, das Griechische zu erlernen?“

„Sie sagen, wenn einer Griechisch versteht, kann er so gescheit werden, daß er das Gras wachsen hört“, war des Klosterschülers Antwort. „Seit mein älterer Mitschüler Notker mit der großen Lippe sich gerühmt hat, er wolle dereinst den ganzen Aristoteles auswendig lernen und verdeutschen, läßt mir’s keine Ruhe mehr.“

Da lachte Frau Hadwig: „Vorwärts denn! Weißt du den Antiphon: Ihr Meere und Flüsse, lobet den Herren!“

„Ja“, erwiderte Burkard.

„So sprich mir nach: ›Thalassi ke potami, eulogite ton kyrion!‹“ Der Knabe sprach’s nach.

„Jetzt sing’ es!“ Er sang es.

Ekkehard schaute vorwurfsvoll auf die Gruppe herüber. Die Herzogin verstand den Blick.

„So, nun hast du bereits sechs Worte gelernt“, sprach sie zu Burkard. „Wenn du wieder in Hexametern drum bittest, soll dir ein Mehreres verabreicht sein. Setz’ dich jetzo mir zu Füßen und hör’ andächtig zu. Wir werden Virgilius lesen.“

Da begann Ekkehard mit der Äneïde viertem Gesang und las die Sorgen der Dido, wie immerdar der Gedanke an den edeln Trojaner Gast sie umschwebt und fest im innersten Busen sein Antlitz haftet und Wort. Und sie klagt ihr Leid der Schwester:

„Wenn’s nicht fest in der Seele und unabänderlich stünde,
Keinem wollt’ ich hinfort durch ehliches Band mich gesellen,
Seit mit dem Erstgeliebten mir Freud’ und Hoffnung dahinstarb,
Wenn nicht verhaßt Brautkammer und Hochzeitfackel mir wäre:
Dieser einen Versuchung vielleicht noch könnt’ ich erliegen.
Anna, ich will es gestehn: nachdem mein armer Sichäus
Sank, der Gemahl, und troffen in Bruderblut die Penaten,
Hat er allein mir gewendet den Sinn und die wankende Seele
Mir bewegt, ich erkenne die Spur vormaliger Flammen.“
...
Aber Frau Hadwig war wenig ergötzt von den Schmerzen der karthagischen Königswitwe. Sie warf sich in ihrem Lehnstuhl zurück und schaute zur Decke empor. Sie fand keine Beziehungen mehr zwischen sich und der Frauengestalt des Dichters.

„Haltet an!“ rief sie dem Vorlesenden zu, „man merkt wieder, daß ein Mann das geschrieben. Er will die Frau demütigen. Alles falsch. Wer wird sich so in einen fremden Gast vernarren?“

„Das mag Virgilius verantworten“, sprach Ekkehard. „Die Geschichte wird’s ihm so überliefert haben.“

„Dann lebt jetzt ein stärker Frauengeschlecht“, sagte die Herzogin und winkte ihm weiterzulesen. Sie war fast beleidigt von Virgilius’ Schilderung, vielleicht daß sie sich selber didonischer Anwandlungen erinnerte. Es war nicht immer gewesen wie heute.

Und er las, wie Anna der Schwester zusprach, nicht vergeblich wider gefällige Liebe zu streiten, wie an der Götter Altären Friede und Heil durch Opfer erfleht wird, dieweil die geschmeidige Flamme fortzehrt im Mark und die alte Wunde nicht vernarbt. Und wieder will die Betörte von den Kämpfen um Ilium vernehmen und hängt am Mund des Erzählers –

„Wenn sie darauf sich getrennt und ihr Licht die erdunkelnde Luna
Jetzo gesenkt und zum Schlaf die sinkenden Sterne ermahnen,
Trauert sie einsam im leeren Gemach – aufs verlassene Lager
Wirft sie sich, jenen entfernt den Entferneten hört sie und schaut sie.
Oft den Ascanius auch, von des Vaters Bilde bezau bert,
Hält sie im Schoß, um zu täuschen die unaussprechliche Liebe.“

Ein leises Kichern unterbrach die Vorlesung. Der Klosterschüler war aufmerksam zu der Herzogin Füßen gesessen, schier angeschmiegt an ihr wallend Gewand, jetzt hatte er gekämpft, ein aufsteigend Lachen zu unterdrücken, es mißlang, er platzte heraus und hielt die Hände vergeblich vors Antlitz, sich zu decken.

„Was gibt’s, junger Versemacher?“ sprach Frau Hadwig.

„Ich habe denken müssen“, sprach der Junge verlegen, „wenn meine hohe Herrin die Königin Dido wäre, so wär’ ich vorhin der Ascanius gewesen, da Ihr mich zu herzen und küssen geruhtet.“

Die Herzogin schaute scharf auf den Knaben herab. „Will man ungezogen werden? Kein Wunder –“ schalt sie mit einem Fingerzeig auf seine Locken, „die junge Altklugheit trägt ja schon graue Haare auf dem Scheitel.“

„... Das ist von der Nacht, da sie den Romeias erschlugen“, wollte der Klosterschüler sagen.

„Das ist vom Fürwitz, der törichte Dinge redet, wo er schweigen sollte“, fuhr die Herzogin drein. „Steh auf, Schülerlein!“

Burkard erhob sich vom Schemel und stand errötend vor ihr. „So“, sprach sie, „jetzt geh zu der Jungfrau Praxedis und melde ihr, es müßten dir zur Strafe alle grauen Haare abgeschnitten werden, und bitte schön, daß sie dir’s tue. Das wird gut sein für unzeitig Lachen.“

Dem Knaben standen die hellen Tränen in den Augen. Er wagte keine Widerrede. Er ging zu Praxedis hin, die hegte Teilnahme für ihn, seit sie gehört, daß er des Romeias Gefährte bei seinem letzten Gang gewesen: „Ich tu’ dir nicht weh, kleiner Heiliger“, flüsterte sie ihm zu und zog ihn zu sich. Das junge Haupt in ihren Schoß gebeugt, mußte er vor ihr knien, da griff sie eine mächtige Schere aus ihrem strohgeflochtenen Nähkorb und vollzog die Strafe.

Betrüblich klang erst des Klosterschülers Schluchzen,– wer sein Haupthaar von fremder Hand berühren ließ, galt eigentlich für schwer beschimpft232 – aber Praxedis’ weiche Hand fuhr ihm streichelnd über die Wangen, nachdem sie das Gelock zerzaust hatte, da ward ihm bei aller Strafe so seltsam zu Mut, daß sein Mund lächelnd die letzte niederrollende Träne auffing.

Ekkehard sah eine Weile stumm vor sich hin. Das Spiel leichtfertiger Anmut macht den Traurigen trauriger. Er war verletzt, daß die Herzogin so sein Lesen unterbrochen. Aus ihren Augen las er keinen Trost: „sie spielt mit dir, wie sie mit dem Knaben spielt“, dachte er und schlug seinen Virgilius zu und erhob sich.

„Ihr habt recht“, sprach er zu Frau Hadwig, „es ist alles falsch. Dido sollte lachen und Äneas sollte hingehen und sich ins Schwert stürzen, dann wäre es richtig.“

Sie blickte unstet auf. „Was habt Ihr?“ fragte sie.

„Ich kann nicht weiter lesen“, erwiderte er.

Die Herzogin war aufgestanden.

„Wenn Ihr nicht mehr lesen möget“, sprach sie mit scheinbar gelangweiltem Ausdruck, „es gibt noch mannigfache Mittel und Wege, uns Kurzweil zu schaffen. Wie wär’ es, wenn ich Euch aufgäbe, uns etwas Anmutiges zu erzählen, – Ihr möget dabei auslesen, was Euch gefällt, es gibt so viel Liebreizendes und Gewaltiges noch außer Euerem Virgil. Oder gehet hin und dichtet selber etwas. Euch drückt irgendeine Last, Ihr mögt nicht erklären, Ihr mögt nicht aufs Land gehen, alles tut Euern Augen weh, Eurem Geist fehlt eine große Aufgabe, wir wollen sie Euch setzen.“

„Was sollt’ ich dichten?“ erwiderte Ekkehard. „Ist’s nicht schon Glück genug, das Echo eines Meisters, wie Virgilius, zu sein?“ Er sah mit umflortem Auge auf die Herzogin. „Ich wüßte nur Elegien zu singen, sehr traurige.“

„Sonst nichts?“ fragte Frau Hadwig vorwurfsvoll. „Haben unsere Vorfahren keine Kriegszüge getan und ihr Heerhorn mit Sturmschall durch die Welt erklingen lassen und Schlachten geschlagen, so viel wert wie die des Landfahrers Äneas? Glaubt Ihr, der große Kaiser Karl hätte die uralten Lieder der Völker sammeln und singen lassen, wenn nur leeres Stroh darin steckte? Müßt Ihr zu allem Eure lateinischen Bücher haben?“

„Ich weiß nichts“, wiederholte Ekkehard.

„Ihr sollt aber etwas wissen“, sagte die Herzogin. „Es stünde doch zu verwundern, wenn nur wir Hausgenossen der Burg einen Abend zusammensäßen und von den alten Geschichten und Sagen plauderten, ob da nicht mehr zusammenkäme, als in der ganzen Äneïde steht? Des Kaiser Karl frommer Sohn hat freilich vom alten Heldensang nichts mehr wissen wollen233 und lieber schnarrendem Psalmodieren sein Ohr geliehen und ist an Leib und Seele verkümmert gestorben, aber uns allen haften von Kindesbeinen noch jene Geschichten an. Erzählet uns eine solche, Meister Ekkehard, dann erlassen wir Euch den Virgil samt der liebesiechen Königin Dido.“

Aber Ekkehards Gedanken flogen weit anderwärts. Er schüttelte sein Haupt wie ein Träumender.

„Ich sehe, Ihr brauchet Anstoß“, sprach die Herzogin. „Es soll Euch von allen ein gut Beispiel gegeben werden. Praxedis, halt’ dich bereit und künde es dem Kämmerer Spazzo an, wir wollen uns morgen an Erzählung alter Sagen erfreuen. Ein jedes sei gerüstet.“

Sie griff den Virgilius und warf ihn feierlich unter den Tisch, als Zeichen, daß eine neue Ära beginne. Ihr Gedanke war gut und anregend. Nur dem Klosterschüler, der während der Herzogin Rede sein Haupt in Praxedis’ Schoß hatte ruhen lassen, war es nicht ganz deutlich. „Wann darf ich weiter Griechisch lernen, gnädige Herrin?“ sagte er. „Thalassi ke potami ...“

„Wenn die grauen Haare wieder gewachsen sind“, sprach sie heiter und küßte ihn wiederum.

Ekkehard ging mit großen Schritten aus dem Saal.

Fußnoten

A1 Der ich kaum ein Lateiner bin, ein Grieche möcht’ ich werden.

A2 Ich finde keinen Vers mehr, es stockt der Rede Fluß,

Zu tief hat mich erschreckt der Herrin süßer Kuß.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ekkehard