Neuntes Kapitel. - Die Waldfrau. - Audifax und Hadumoth waren in die Burg von Twiel zurückgekehrt. Ihres nächtlichen Ausbleibens war nicht geachtet worden. ...

Audifax und Hadumoth waren in die Burg von Twiel zurückgekehrt. Ihres nächtlichen Ausbleibens war nicht geachtet worden. Sie schwiegen von den Begegnissen jener Nacht. Auch unter sich. Audifax hatte viel nachzudenken.

In seiner Ziegen Hut war er säumig. Eine seiner Untergebenen verlief sich nach den platten Hügeln hin, die den Lauf des dem Bodensee entströmenden Rheines umsäumen. Da ging er, sie zu suchen; einen Tag blieb er aus, dann kehrte er mit der Entronnenen zurück.


Hadumoth freute sich des Erfolges, der ihrem Gefährten Schläge ersparte. Der Winter kam mählich heran, die Tiere blieben im Stall. Eines Tages saßen die Kinder am Kaminfeuer in der Knechtstube. Sie waren allein.

„Du denkst noch immer an Schatz und Spruch?“ sagte Hadumoth. Da zog sie Audifax geheimnisvoll zu sich: „Der heilige Mann hat doch den rechten Gott!“ sprach er.

„Warum?“ frug Hadumoth.

Er ging in seine Kammer hinüber; im Stroh seines Lagers hatte er allerhand Gestein untergebracht, er griff einen heraus und brachte ihn herüber: „Schau an!“ sprach er. Es war ein glimmeriger grauer Schieferstein, er umschloß die Reste eines Fisches, in zartem Umriß waren Haupt, Flossen und Gräten dem Schiefer eingedrückt. Den hab’ ich drüben am Schiener Berg123 mitgenommen, da ich die Ziege suchen ging. Der muß von der Flut sein, von der der Vater Vincentius einmal gepredigt hat, und die Flut hat der Herr Himmels und der Erde über die Welt gehen lassen, da er den Noah das große Schiff bauen ließ, davon weiß die Waldfrau nichts.

Hadumoth wurde nachdenklich: „Dann ist die Waldfrau schuld, daß uns die Sterne nicht in den Schoß gefallen sind, wir wollen sie beim heiligen Mann verklagen.“

Da gingen die beiden zu Ekkehard und berichteten ihm, was in jener Nacht auf dem Hohenkrähen vorgegangen. Er hörte sie freundlich an. Des Abends erzählte er’s der Herzogin. Frau Hadwig lächelte.

„Sie haben einen seltsamen Geschmack, meine treuen Untertanen“, sprach sie. „Überall sind ihnen schmucke Kirchen gebaut, sanft und eindringlich wird das Wort Gottes verkündet, stattlicher Gesang, große Feste, Bittgänge mit Kreuz und Fahnen durch wogendes Kornfeld und Flur, – und doch ist’s nicht genug. Da müssen sie noch in kalter Nacht auf ihren Berggipfeln sitzen und wissen selber nicht, was sie dort treiben, außer daß Bier getrunken wird. Wir kennen das. Was haltet Ihr von der Sache, frommer Ekkehard?“

„Aberglaube!“ sprach der Gefragte, „den der böse Feind noch immer in abtrünnige Gemüter säet. Ich hab’ in unsern Büchern gelesen von den Werken der Heiden, wie sie im Dunkel der Wälder, an einsamen Wegscheiden und Quellen und selbst an den dunkeln Gräbern der Toten ihre zaub’rischen Listen treiben.“

„Sie sind keine Heiden mehr“, sagte Frau Hadwig. „Ein jeder ist getauft und seinem Pfarrherrn zugewiesen. Aber es lebt noch ein Stück alte Erinnerung in ihnen, die ist sinnlos geworden und zieht sich doch durch ihr Denken und Tun, gleich dem Rhein, wenn er in Winterszeit tief unter des Bodensees Eisdecke geräuschlos weiter fließt. Was wollt Ihr mit ihnen beginnen?“

„Vertilgen!“ sprach Ekkehard. „Wer seinen Christenglauben bricht und dem Gelübde seiner Taufe untreu wird, soll fahren in die ewige Verdammnis.“

„Halt an, junger Eiferer“, sagte Frau Hadwig; „meinen Hegauer Mannen sollt Ihr darum das Haupt noch nicht abschlagen, daß sie die erste Nacht des Herbstmonats lieber auf dem kalten hohen Krähen sitzen, als auf ihrem Strohlager schlafen; sie tun doch, was sie müssen, und schon im Heerbann des großen Kaiser Karl haben sie dereinst gegen die heidnischen Sachsen gefochten, als wär’ ein jeder zum erlesenen Rüstzeug der Kirche geweiht.“

„Mit dem Teufel“, rief Ekkehard hochfahrend, „ist kein Friede. Wollet Ihr lau im Glauben sein, Herrin?“

„Im Regieren einer Landschaft“, sprach sie mit leisem Spott, „lernt sich manches, das in Euren Büchern nicht steht. Wißt Ihr auch, daß der Schwache wirksamer durch seine Schwäche geschlagen wird als durch die Schneide des Schwerts? Wie der heilige Gallus einst in die Trümmer von Bregenz drüben einzog, da lag der heiligen Aurelia Altar zerstört, drei eherne Götzenbilder stunden aufgerichtet; um den großen Bierkessel, der niemals fehlen darf, so oft man hierlands in alter Weise fromm sein will, saßen sie und tranken. Der heilige Gall hat keinem ein Leides getan, aber ihre Bilder hat er in Stücke geschlagen und hinausgeschleudert, daß sie zischend einfuhren ins grüne Gewoge des Sees, und in ihren Bierkessel hat er ein Loch gehaucht und das Evangelium gepredigt an derselben Stelle; es fiel kein Feuer vom Himmel, ihn zu verzehren, sie aber sahen, daß ihre Sache nichts war, und bekehrten sich124. Verständig sein heißt nicht lau im Glauben sein ...“

„Das war damals“ ... begann Ekkehard.

„Und itzt“ – fiel ihm Frau Hadwig ins Wort, „itzt steht die Kirche aufgerichtet vom Rhein bis ans nördliche Meer, stärker als die Kastelle der Römer zieht sich eine Kette von Klöstern durchs Land, Festungen des Glaubens; bis in die Wildnisse des Schwarzwalds ist längst das Wort christlicher Bekenner gedrungen, was wollt Ihr mit den Nachzüglern vergangener Zeiten so schweren Kampf fechten125?“

„So belohnet sie denn“, sprach Ekkehard bitter.

„Belohnen?“ sagte die Herzogin. „Zwischen entweder und oder führt noch manches Sträßlein. Wir müssen einschreiten gegen den nächtlichen Unfug. Warum? Kein Reich mag gut bestehen bei zweierlei Glauben, das führt die Gemüter gegeneinand in Schlachtordnung und ist unnötig, solange draußen Feinde genug lauern. Des Landes Gesetz hat ihnen das törichte Wesen untersagt, sie sollen merken, daß unser Gebot und Verbot nicht in Wind gesprochen ist.“

Ekkehard schien von dieser Weisheit nicht befriedigt. Ein Zug von Mißmut flog über sein Antlitz.

„Höret“, fuhr die Herzogin fort, „was ist Eure Meinung von der Zauberei überhaupt?“

„Die Zauberei“, sprach Ekkehard mit Ernst und schwerem Atemzug, der auf den Vorsatz einer längeren Rede zu deuten schien, „ist eine verdammliche Kunst, wodurch der Mensch sich die Dämonen, die allenthalb in der Natur walten und nisten, dienstbar macht. Auch im Anlebendigen ruht Lebendiges verborgen, wir hören es nicht und sehen es nicht, aber verführend weht es an unbewachtes Gemüt, mehr zu erfahren und mehr zu wirken, als ein treuer Knecht Gottes erfahren und wirken kann – das ist das alte Blendwerk der Schlange und der Mächte der Finsternis; wer sich ihnen zu eigen macht, kann ein Stück von ihrer Gewalt erlangen, aber er herrscht über die Teufel durch deren Obersten und verfällt ihm, wenn seine Zeit aus ist. Darum ist die Zauberei so alt wie die Sünde, und statt daß der eine wahre Glaube sei auf der Welt und die eine Mildigkeit der Werke, anzubeten den dreieinigen Gott, gehen noch Weissager umher und Traumdeuter und Traumscheider und Liedersetzer und Rätsellöser, vor allem aber sind unter den Töchtern Evas die Anhängerinnen solcher Künste zu suchen ...“

„Ihr werdet artig“, unterbrach ihn Frau Hadwig –

„Denn der Frauen Gemüt“, fuhr Ekkehard fort, „ist allzeit neugieriger Erforschung und Ausübung verbotener Dinge zugewendet. Wenn wir mit Lesung des Virgilius fortschreiten, werdet Ihr den Ausbund der Zauberei in Gestalt des Weibes Circe angedeutet sehen, die auf unzugänglichem Vorgebirg’ singend haust, lieblich duftender Span von Zedernholz erleuchtet die dunkeln Gemächer, mit fleißigem Weberschifflein webt sie viel zartes Gezeug, aber draußen im Hof tönt seufzendes Knurren von Löwen und Wölfen und der Schweine Gegrunz, die sie alle aus Menschen durch zauberischen Trank in der Tiere Gestalt verwandelt ...“

„Ihr sprechet ja wie ein Buch“, sagte die Herzogin spitz. „Ihr sollet Eure Wissenschaft von der Zauberei weiter bilden. Reitet denn auf den hohen Krähen hinüber und untersuchet, ob die Waldfrau eine Circe, und regieret in unserem Namen, wir sind neugierig, was Eure Weisheit ordnet.“

„Es ist nicht meine Wissenschaft“, erwiderte er ausweichend, „wie man die Völker regiert und die Dinge der Welt gebietend schlichtet.“

„Das findet sich“, sprach Frau Hadwig, „es hat noch selten einen in Verlegenheit gebracht, am wenigsten einen Sohn der Kirche.“

Ekkehard fügte sich. Der Auftrag war ihm ein Beweis von Vertrauen. Andern Morgens ritt er nach dem hohen Krähen. Den Audifax nahm er mit, daß er ihm den Weg zeige. „Glückliche Reise, Herr Reichskanzler!“ rief ihm eine lachende Stimme nach. Es war Praxedis.

Bald kamen sie vor der Waldfrau Behausung. Auf einem Vorsprung, in halber Höhe des steilen Felsens, stand ihre steinerne Hütte, mächtige Eich- und Buchstämme breiteten ihre Äste darüber und verdeckten den ragenden Gipfel des hohen Krähen. Drei wie Stufen geschichtete Klingsteinplatten führten ins Innere. Es war eine hohe dunkle Stube. Viel getrocknete Waldkräuter lagen aufgehäuft, würziger Geruch entströmte ihnen; drei weißgebleichte Pferdeschädel grinsten gespenstig von den Pfeilern der Wand herab126, ein riesig Hirschgeweih hing dabei. In den hölzernen Türpfosten war ein verschlungenes Doppeldreieck geschnitten. Ein zahmer Waldspecht hüpfte in der Stube umher, ein Rabe, dem die Schwingen gekürzt, war sein Genosse.

Die Inwohnerin saß am glimmenden Feuer des Herdes und nähte an einem Gewand. Ein hoher behauener, halb verwitterter Stein stand ihr zur Seite. Von Zeit zu Zeit bückte sie sich zum Herde und hielt ihre magere Hand über die Kohlen; Novemberkälte lag auf Berg und Wald. Die Zweige einer alten Buche neigten sich schier zum Fenster herein, ein leiser Windeshauch bewegte sie, das Laub war herbstgelb und morsch und zitterte und brach ab, etliche welke Blätter wirbelten in die Stube.

Und die Waldfrau war einsam und alt und mochte frieren: „Da liegt ihr nun verachtet und welk und tot“, sprach sie zu den Blättern, „und ich gleiche euch.“ Ein fremdartiger Zug umflog ihr runzlig Antlitz. Sie dachte vergangener Zeiten, da auch sie jung und frühlingsgrün gewesen und einen Liebsten gehabt – aber den hatte sein Schicksal weit hinausgetrieben aus dem heimischen Tannwald, raubende Nordmänner, die einst mit Sengen und Brennen den Rhein herauffuhren, hatten ihn und viel andere Heerbannleute gefangen mitgeschleppt, und er war bei ihnen geblieben über Jahresfrist und hatte den Seemannsdienst gelernt und war wild und trotzig geworden in der Strandluft des Meeres, und wie sie ihn wieder frei gaben, trug er die Nordseesehnsucht mit sich in schwäbischen Wald, – die Gesichter der Heimat gefielen ihm nimmer wieder, die der Mönche und Priester am wenigsten, und das Unglück fügte es, daß er in zornigem Aufbrausen einen wandernden Mönch erschlug, der ihn gescholten, da war seines Bleibens nicht fürder.

Der Waldfrau Gedanken hafteten heut immerdar auf jener letzten Stunde, die ihn von ihr geschieden. Da hatten ihn die Gerichtsmänner vor seine Hütte im Weiterdinger Wald geführt, sechshundert Schillinge sollte er als Wehrgeld für den Erschlagenen zahlen, und wies ihnen statt dessen Haus und Hofmark zu und schwur mit zwölf Eideshelfern, daß er nichts unter und nichts ober der Erde mehr zu eigen habe. Drauf ging er in sein Haus, sammelte eine Hand voll Erde, stand auf die Schwelle und warf mit der Linken die Erde über seine Schultern auf seines Vaters Bruder, als Zeichen, daß seine Schuld auf diesen seinen einzigen Blutsverwandten übergehen solle, er aber griff einen Stab und sprang im leinenen Hemde ohne Gürtel und Schuhe über den Zaun seines Hofes; das Recht der chrene chruda127 schrieb’s so vor, und damit war er seiner Heimat ledig und ging in Wälder und Wüsten – ein landflüchtiger Mann, und ging wieder ins Dänenland zu seinen Nordmännern und kam nimmer zurück. Nur eine dunkle Kunde sagte, er sei mit ihnen nach Island hinübergefahren, wo die tapfern Seefahrer, die ihren Nacken nicht beugen wollten vor neuem Glauben und neuer Herrschaft, sich ein kaltes Asyl gegründet.

Das war schon lange, lange her, aber der Waldfrau war es, als sähe sie ihren Friduhelm noch, wie er ins Waldesdunkel sprang; sie hatte damals ins Weiterdinger Kirchlein einen Kranz von Eisenkraut gehängt und viel Tränen vergossen ... kein anderer hatte sein Bild aus ihrer Seele verdrängt. Die traurige Jahreszeit gemahnte sie an ein altes Nordmännerlied, das er sie einst gelehrt; das summte sie jetzt vor sich hin:

„Der Abend kommt und die Herbstluft weht,
Reifkälte spinnt um die Tannen,
O Kreuz und Buch und Mönchsgebet –
Wir müssen alle von dannen.

Die Heimat wird dämmernd und dunkel und alt,
Trüb rinnen die heiligen Quellen:
Du götterumschwebter, du grünender Wald,
Schon blitzt die Axt, dich zu fällen!

Und wir ziehen stumm, ein geschlagen Heer,
Erloschen sind unsere Sterne –
O Island, du eisiger Fels im Meer,
Steig’ auf aus nächtiger Ferne.

Steig’ auf und empfah unser reisig Geschlecht –
Auf geschnäbelten Schiffen kommen
Die alten Götter, das alte Recht,
Die alten Nordmänner geschwommen.

Wo der Feuerberg loht, Glutasche fällt,
Sturmwogen die Ufer umschäumen:
Auf dir, du trotziges Ende der Welt,
Die Winternacht woll’n wir verträumen!“

Ekkehard war indes draußen abgestiegen und hatte sein Roß an eine Tanne gebunden. Jetzt trat er über die Schwelle; scheu ging Audifax hinter ihm drein. Die Waldfrau warf das Gewand über den Stein, faltete die Hände in ihren Schoß und sah starr dem eintretenden Mann im Mönchsgewand entgegen. Sie stand nicht auf.

„Gelobt sei Jesus Christ!“ sprach Ekkehard als Gruß und Ablenkung etwaigen Zaubers. Unwillkürlich schlug er den Daumen der Rechten ein und schloß die Hand, er fürchtete das böse Auge128 und seine Gewalt; Audifax hatte ihm erzählt, die Leute sagten von ihr, daß sie mit einem Blick ein ganzes Grasfeld dürre zu machen vermöge.

Sie antwortete nicht auf den Gruß.

„Was schafft Ihr Gutes?“ hub Ekkehard das Gespräch an.

„Einen Rock bessern“, sprach die Alte, „er ist schadhaft geworden.“

„Ihr sucht auch Kräuter?“

„Such’ auch Kräuter.“ – „Seid Ihr ein Kräutermann? Dort liegen viele: Habichtskraut und Schneckenklee, Bocksbart und Mäuseohr, auch dürrer Waldmeister, so Ihr begehrt.“

„Ich bin kein Kräutermann“, sprach Ekkehard. „Was macht Ihr mit den Kräutern?“

„Braucht Ihr zu fragen, wozu Kräuter gut sind?“ sprach die Alte, „Euer einer weiß das auch. Es stünd’ schlimm um kranke Menschen und krankes Tier und schlimm um Abwehr nächtiger Unholde und Stillung liebender Sehnsucht, wenn keine Kräuter wären.“

„Und Ihr seid getauft?“ fuhr Ekkehard ungeduldig fort.

„Sie werden mich auch getauft haben ...“

„Und wenn Ihr getauft seid“, rief er mit erhobener Stimme, „und dem Teufel versagt habt und allen seinen Werken und allen seinen Gezierden, was soll das?“ Er deutete mit seinem Stab nach den Pferdeschädeln an der Wand und stieß einen heftig an, daß er herunterfiel und in Stücke brach; die weißen Zähne rollten auf dem Fußboden umher.

„Der Schädel eines Rosses“, antwortete die Alte gelassen, „den Ihr jetzt zertrümmert habt. Es war ein junges Tier, Ihr könnt’s am Gebiß noch sehen.“

„Und der Rosse Fleisch schmeckt Euch?“ frug Ekkehard.

„Es ist kein unrein Tier“, sagte die Waldfrau, „und sein Genuß nicht verboten.“

„Weib!“ rief Ekkehard und trat hart vor sie hin – „du treibst Zauberkunst und Hexenwerk!“

Da stand die Alte auf. Ihre Stirn runzelte sich, unheimlich glänzten die grauen Augen. „Ihr tragt ein geistlich Gewand“, sprach sie, „Ihr möget mir das sagen. Gegen Euch hat eine alte Waldfrau kein Recht. Es heißt sonst, das sei ein groß Scheltwort, was Ihr mir ins Antlitz geworfen, und das Landrecht büßt den Schelter129...“

Audifax war indessen scheu an der Tür gestanden. Da kam der Waldfrau Rabe auf ihn zugehüpft, so daß er sich fürchtete; er lief zu Ekkehard hin. Am Herde sah er den behauenen Stein. An einem Stein herumzuspüren, hätte ihn auch die Furcht vor zwanzig Raben nicht abgehalten. Er hob das Gewand, das drüber gebreitet war. Verwitterte Gestalten kamen zum Vorschein.

Ekkehard lenkte seinen Blick darauf.

Es war ein römischer Altar. Kohorten, die fern aus üppigem asischem Standlager des allmächtigen Kriegsherrn Gebot an den unwirtlichen Bodensee versetzt, mochten ihn einst in diesen Höhen aufgestellt haben – ein Jüngling in fliegendem Mantel und phrygischer Mütze kniete auf einem niedergeworfenen Stier: der persische Lichtgott Mithras, an den der sinkende Römerglaube neue Hoffnung anknüpfte, als das andere abgenutzt war.

Eine Inschrift war nicht sichtbar. Lang’ schaute ihn Ekkehard an, sein Aug’ hatte außer der güldenen Vespasianusmünze, die Untergebene des Klosters einst im Torfmoos bei Rapperswyl gefunden, und etlichen geschnittenen Steinen im Kirchenschatz noch kein Bildwerk des Altertums erschaut, aber er ahnte an Form und Bildung den stummen Zeugen einer vergangenen Welt.

„Woher der Stein?“ frug er.

„Ich bin genug gefragt“, sagte die Waldfrau trotzig, „schafft Euch selber Antwort.“

... Der Stein hätte auch mancherlei antworten können, wenn Steine Zungen hätten. Es haftet ein gut Stück Geschichte an solch verwittertem Gebild. Was lehrt es? Daß der Menschen Geschlechter kommen und zergehen wie die Blätter, die der Frühling bringt und der Herbst verweht, und daß ihr Denken und Tun nur eine Spanne weit reicht; dann kommen andere und reden in andern Zungen und schaffen in andern Formen; Heiliges wird geächtet, Geächtetes heilig, neue Götter steigen auf den Thron: wohl ihnen, wenn er nicht über allzuviel Opfern sich aufrichtet ...

Ekkehard deutete das Dasein des Römersteins in der Waldfrau Hütte anders.

„Den Mann auf dem Stier betet Ihr an“, rief er heftig.

Die Waldfrau griff einen Stab, der am Herde stand, nahm ein Messer und schnitt zwei Kerbschnitte hinein: „Die zweite Beschimpfung, die Ihr mir antut!“ sprach sie dumpf. „Was haben wir mit dem Steinbild zu schaffen?“

„So redet“, sagte der Mönch, „wie kommt der Stein in Eure Hütte?“

„Weil er uns gedauert hat“, sagte die Waldfrau. „Das mögt Ihr nicht verstehen, die Ihr das Haupt kahl geschoren traget. Der Stein ist drauß gestanden auf dem Felsvorsprung, es war ein zugerichteter Platz und wird mancher in alten Tagen dort gekniet haben, aber itzt hat sich keiner mehr um ihn gekümmert, die Leute des Waldes haben Holzäpfel drauf gedörrt und Späne drauf gespalten, wie’s kam, und des Regens Unbill hat die Bilder verwaschen. ›Der Stein dauert mich‹, hat meine Mutter gesagt, er war einmal was Heiliges; aber die Knochen derer, die den Mann drauf gekannt und verehrt haben und den Stein, sind längst weiß gebleicht, – es wird ihn frieren den Mann mit dem fliegenden Mantel. Da haben wir ihn ausgehoben und an Herd gestellt: er hat uns noch kein Leids gebracht. – Wir wissen, wie es den alten Göttern zu Mut ist, unsere gelten auch nicht mehr. Laßt Ihr dem Stein seine Ruhe!“

„Eure Götter?“ fuhr Ekkehard in seinem Fragen fort – „wer sind Eure Götter?“

„Das müßt Ihr wissen“, sprach die Alte. „Ihr habt sie vertrieben und in See gebannt: in der Fluten Tiefe liegt alles begraben, der Hort alter Zeit und die alten Götter, wir sehen sie nicht mehr und wissen nur noch die Plätze, wo unsere Väter sie verehrt, eh’ der Franke kam und die Männer in den Kutten. Aber wenn der Wind die Wipfel des Eichbaums droben schüttelt, dann kommt’s wie Stimmen durch die Lüfte, das ist ihr Klagen – und in gefeiten Nächten rauscht und brauset es und der Wald leuchtet, Schlangen winden sich an den Stämmen empor, da jagt’s über die Berge wie ein Zug verzweifelter Geister, die nach der alten Heimat schauen ...“

Ekkehard bekreuzte sich.

„Ich sag’s, wie ich’s weiß“, sprach die Alte. „Ich will’ den Heiland nicht beleidigen; aber er ist als ein Fremder ins Land gekommen, Ihr dienet ihm in fremder Sprache, die verstehen wir nicht. Wenn er auf unserem Grund und Boden erwachsen wäre, dann könnten wir zu ihm reden und wären seine treuesten Diener, und es stünd’ besser ums alemannische Wesen.“

„Weib!“ rief Ekkehard zürnend, „wir werden Euch verbrennen lassen ...“

„Wenn’s in Euren Büchern steht“, war die Antwort, „daß das Holz des Waldes aufwächst, um alte Frauen zu verbrennen: ich hab’ genug gelebt. Der Blitz hat neulich Einkehr bei der Waldfrau genommen“ – fuhr sie fort und deutete auf einen schwärzlichen Streif an der Wand – „der Blitz hat die Waldfrau verschont.“

Sie kauerte am Herd nieder und blieb starr und unbeweglich sitzen. Die glühenden Kohlen warfen ein scharfes Streiflicht auf die runzligen Züge.

„Es ist gut!“ sprach Ekkehard. Er verließ die Stube. Audifax war froh, als er wieder blauen Himmel über sich sah. „Dort sind sie gesessen!“ sprach er und deutete den Berg hinaus. „Ich werd’s ansehen“, sprach Ekkehard. „Du gehst zum hohen Twiel zurück und bestellst zwei Knechte her mit Hacke und Beil und Otfried, den Diakon von Singen, er soll eine Stola mitbringen und sein Meßbuch.“

Audifax sprang davon. Ekkehard stieg auf den hohen Krähen.

In der Burg zu Hohentwiel war indes die Herzogin an der Mittagstafel gesessen. Sie hatte oft unstet herumgeschaut, als wenn ihr etwas fehle. Die Mahlzeit war kurz. Wie Frau Hadwig mit Praxedis allein war, hub sie an:

„Wie gefällt dir unser neuer Lehrer, Praxedis?“

Die Griechin lächelte.

„Rede!“ sprach die Herzogin gebietend.

„Ich hab’ in Konstantinopolis schon manchen Schulmeister gesehen“, sprach Praxedis wegwerfend.

Frau Hadwig drohte mit dem Finger: „Ich werd’ dich aus meinen Augen verbannen ob so unehrerbietiger Rede. Was hast du über Schulmeister zu lästern?“

„Verzeihet“, sprach Praxedis, „es ist nicht schlimm gemeint. Aber wenn ich so einen Mann der Bücher sehe, wie der ernsthaft einherschreitet und einen Anlauf nimmt, um aus seinen Schriften das herauszugraben, von dem wir ungefähr auch ahnen, daß es kommen muß, und wie er mit seinen Pergamenten zusammengewachsen ist, als wär’s ihm angetan worden, und seine Augen nur für die Buchstaben einen Blick haben und kaum für die Menschen, die um ihn sind: so steht mir das Lachen nahe. Wenn ich nicht weiß, ob Mitleid am rechten Platze, so lach’ ich. Des Mitleids wird er auch nicht bedürfen, er versteht ja mehr als ich.“

„Ein Lehrer muß ernst sein“, sagte die Herzogin, „das gehört dazu, wie der Schnee zu unsern Alpen.“

„Ernst, ja wohl!“ erwiderte die Griechin, „in diesem Land, wo der Schnee die Berggipfel deckt, muß alles ernst sein. Wär’ ich doch gelehrt wie Herr Ekkehard, um Euch zu sagen, was ich meine. Ich meine, man sollte auch im Scherz lernen können, spielend, ohne den Schweißtropfen der Anstrengung auf der Stirn – was schön ist, muß gefallen und wahr zugleich sein. Ich meine, das Wissen ist wie Honig, verschiedene können ihn holen, der Schmetterling summt um den Blumenkelch und findet ihn auch, doch so ein deutscher weiser Mann kommt mir vor wie ein Bär, der schwerfällig in den Bienenstock hineingreift und, die Tatzen leckt – ich hab’ an Bären keinen Gefallen.“

„Du bist ein leichtsinnig Mägdlein“, sprach Frau Hadwig, „und unlustig des Lernens. Wie gefällt dir denn Ekkehard sonst – ich meine, er sei schön?“

Praxedis sah zu ihrer Gebieterin hinüber: „Ich hab’ noch keinen Mönch drum angeschaut, ob er schön sei.“

„Warum?“

„Ich hab’s für unnötig gehalten.“

„Du gibst heute sonderbare Antworten“, sprach Frau Hadwig und erhob sich. Sie trat ans Fenster und blickte nordwärts. Jenseits der dunkeln Tannenwälder schaute in plumper Steile der Fels von Hohenkrähen zu ihr herüber.

„Der Hirtenbub war vorhin da, er hat Leute hinüber bestellt“, sprach Praxedis.

„Der Nachmittag ist mild und sonnig geworden“, sagte die Herzogin, „laß die Pferde rüsten, wir wollen hinüber, reiten und sehen, was sie treiben. Oder – ich hab’ vergessen, daß du dich über die Mühsal beklagt im Sattel zu sitzen, da wir vom heiligen Gallus heim kehrten: ich werd’ alleine ausreiten ...“

Ekkehard hatte sich auf dem Hohenkrähen den Schauplatz des nächtlichen Gelages betrachtet. Wenig Spuren waren übrig. Das Erdreich um den Eichbaum war rötlich angefeuchtet. Reste von Kohlen und Asche deuteten auf den Feuerplatz. In den Ästen der Eiche sah er mit Befremden da und dort kleine Wachsbilder von menschlichen Gliedmaßen versteckt hangen, Füße und Hände, Abbilder von Pferden und Kühen, – Gelöbnisse für Heilung von Krankheit an Menschen und Tier, die der bäuerliche Aberglaube damals noch am altersgeweihten Baume lieber löste als in der Kirche des Tales.

Zwei Männer mit Haugeräte kamen heran. „Wir sind bestellt“, sprachen sie. „Vom Hohentwiel?“ fragte Ekkehard. – „Wir arbeiten der Herrschaft, unser Sitz ist drüben am Hohenhöwen, wo der Rauch der Kohlenmeiler aufsteigt.“

„Gut“, sagte Ekkehard, „ihr sollt mir die Eiche hier fällen.“ Die Männer sahen ihn verlegen an. „Vorwärts“, rief er, „und sputet euch! Bis die Nacht anbricht, muß sie umgehauen liegen.“

Da gingen die zwei mit ihren Beilen zu der Eiche hin. Mit offenem Munde standen sie vor dem stolzen Baum. Einer ließ sein Beil zur Erde fallen.

„Kommt dir der Platz nicht bekannt vor, Chomuli?“ frug er seinen Nebenmann.

„Warum bekannt, Woveli?“

Der Holzhacker deutete nach Sonnenaufgang, setzte die geballte Rechte an den Mund, hob sie, als wenn er trinke und sprach: „Darum, Chomuli.“

Da sah der andere nach Ekkehard hinunter und zwinkte mit dem Aug’: „Wir wissen von nichts, Woveli!“ – „Aber er wird’s wissen, Chomuli“, sprach der erste. „Abwarten, Woveli“, sagte der andere.

„Es ist Sünd’ und schade“, fuhr sein Gefährte fort, „um den Eichbaum, schon an die zweihundert Jahre steht er und hat manch lustig flackernd Mai- und Herbstfeuer erlebt. Ich bring’s schier nicht übers Herz, Chomuli.“

„Sei kein Tor“, tröstete der andere und tat den ersten Hieb, „wir müssen dran. Je schärfer wir dem Baum ins Fleisch hauen, desto weniger glaubt’s der in der Kutte dort, daß wir selber in nächtlicher Andacht unter seinen Wipfeln saßen. Und der Strafschilling?! ... Klug muß der Mensch sein, Woveli!“

Das leuchtete dem ersten ein. „Klug muß der Mensch sein, Chomuli!“ sprach er und hieb auf den Baum seiner Verehrung. Zehn Tage vorher hatte er ein Wachsbild dran gehängt, daß ihm seine braune Kuh vom Fieber genese. – Die Späne flogen, in dumpfem Takt krachten die einschlagenden Hiebe der beiden.

Der Diakon von Singen war auch herübergekommen mit Meßbuch und Stola. Ekkehard winkte ihm, daß er mit eintrete zur Waldfrau. Die saß noch starr an ihrem Herde. Ein scharfer Windzug erhob sich, da die beiden durch die geöffnete Tür eintraten, und verlöschte ihr Feuer.

„Waldfrau“, rief Ekkehard gebietend, „bestellt Euer Haus und schnüret Euren Bündel, Ihr müsset fort.“

Die Alte griff nach ihrem Stab und schnitt den dritten Kerbschnitt ein. „Wer beschimpft mich zum drittenmal“, sprach sie dumpf, „und will mich aus meiner Mutter Hause werfen wie einen herrenlosen Hund?“

„Im Namen der Herzogin in Schwaben“, fuhr Ekkehard feierlich fort, „spreche ich über Euch wegen Hegung heidnischen Aberglaubens und nächtlichen Götzendienstes die Verweisung aus Haus und Hof und Gau und Land aus. Euer Stuhl sei gesetzt vor die Tür Eurer Hütte, ziehen sollt Ihr unstet, soweit der Himmel blau ist, soweit Christen die Kirche besuchen, soweit der Falke fliegt am Frühlingstag, wenn der Wind unter beiden Flügeln ihn dahin treibt. Kein gastlich Tor soll sich Euch öffnen, kein Feuer am Herd brenne für Euch, kein Wasser des Quells rausche für Euch, bis daß Ihr Eures Frevels Euch abgetan und Euren Frieden gefestet mit dem dreieinigen Gott, dem Richter der Lebenden und Toten.“

Die Waldfrau hatte ihm ohne große Erregung zugehört. „Ein gesalbter Mann wird dir dreimal Schimpf antun unter deinem eigenen Dach“, murmelte sie, „des sollt du ein Zeichen in den Stab schneiden und mit selbem Stab sollt du ausziehen gen Niedergang, denn sie werden dir nicht lassen, wo du dein Haupt niederlegest. O Mutter, meine Mutter!“

Sie raffte ihren Plunder in ein Bündel zusammen, griff den Stab und rüstete sich zu gehen. Den Diakon von Singen kam eine Rührung an. „Rufet Gott durch seine Diener um Verzeihung an“, sprach er „und tut eine christliche Pönitenz, daß Ihr in Gnade gesund werdet.“

„Dafür ist die Waldfrau zu alt130“, sagte sie und lockte ihren Specht, der flog ihr um die Schulter, und der Rabe hüpfte ängstlich hinter ihr drein; schon war die Tür aufgerissen, noch einen Blick auf Wand und Herd und Kräuter und Pferdsschädel – sie stieß den Stab auf die Schwelle, daß die Steinplatten erdröhnten: „Seid verflucht, ihr Hunde!“ klang’s vernehmlich den Zurückbleibenden; sie wandte sich mit ihren Vögeln dem Walde zu und verschwand.

„Und wir ziehen stumm, ein geschlagen Heer,
Erloschen sind unsere Sterne –
O Island, eisiger Fels im Meer,
Steig’ auf aus nächtiger Ferne!“

tönte leis murmelnder Gesang durch die entlaubten Stämme herüber.

Ekkehard aber ließ sich vom Diakon die Stola umhängen und das Meßbuch vortragen, er hielt einen Umgang durch Stube und Kammer, die Wände weihte er mit dem Zeichen des Kreuzes, auf daß das Getriebe böser Geister gebannt sei für immer, dann sprach er unter Gebeten den großen Exorzismus über die Stätte.

Das fromme Werk hatte lang’ gedauert. Dem Diakon stand der Angstschweiß auf der Stirn, als er Ekkehard die Stola wieder abnahm, er hatte so große Worte noch nie gehört. Jetzt tönte Pferdegetrab durch den Wald.

Es war die Herzogin, von einem einzigen Diener geleitet. Ekkehard ging ihr entgegen; der Diakon von Singen trat seinen Heimweg an. „Ihr seid lange ausgeblieben“, rief die Herzogin gnädig, „ich muß wohl selber sehen, was Ihr geschlichtet und gerichtet.“

Die zwei Holzhauer hatten indes ihre Arbeit beendigt und schlichen auf des Berges Rückseite von dannen; sie fürchteten die Herzogin. Ekkehard erzählte ihr der Waldfrau Wesen und Haushalt, und wie er sie ausgetrieben.

„Ihr seid streng“, sprach Frau Hadwig.

„Ich glaubte mild zu sein“, erwiderte Ekkehard.

„Wir genehmigen, was Ihr geordnet“, sprach die Herzogin. „Was fanget Ihr mit dem verlassenen Hause an?“ Sie warf einen flüchtigen Blick auf das steinerne Gemäuer.

„Die Kraft böser Geister ist gebannt und beschworen“, sagte Ekkehard. „Ich will es zu einer Kapelle der heiligen Hadwig weihen.“

Die Herzogin sah ihn wohlwollend an: „Wie kommt Ihr auf den Gedanken?“

„Es ist mir so beigefallen ... Die Eiche Hab’ ich umhauen lassen.“

„Wir wollen den Platz besichtigen“, sprach sie. „Ich denke, wir werden auch das Umhauen der Eiche genehmigen.“

Sie stieg mit Ekkehard den steinigen Pfad hinauf, der auf den Gipfel des hohen Krähen führt. Oben lag die Eiche gefällt, schier sperrten ihre mächtigen Äste den Platz. Eine Felsplatte, wenig Schritte im Umfang, ist der Gipfel des seltsam geformten Berges. Sie standen oben. Steil senkten sich die Felswände unter ihren Füßen abwärts; es war eine schier schwindelnde Höhe, kein Stein oder Baum zum Anlehnen; in die blaue Luft hinaus ragten die zwei Gestalten, der M?nch im dunkeln Gewand, die Herzogin, den hellen farbigen Mantel faltig umgeschlagen, Schweigend standen sie beisammen. Ein gewaltiger Anblick tat sich vor ihren Augen auf. Tief unten streckte sich die Ebene, in Schlangenlinie zog das Flüßlein Aach durch die wiesengrüne Fläche, Dächer und Giebel der Häuser im Tal waren winzig fern, wie Punkte auf einer Landkarte; drüben reckte sich der bekannte Gipfel des Hohentwiel dunkel empor, ein stolzer Mittelgrund; blaue platte Bergrücken erhoben sich mauergleich hinter dem Gewaltigen, ein Damm, der den Rhein auf seiner Flucht aus dem See dem Beschauer verdeckt. Glänzend trat der Untersee mit der Insel Reichenau hervor, und leise, wie hingehaucht, zeichneten sich ferne riesige Berggestalten im dünnen Gewölk, sie wurden deutlicher und deutlicher, lichter Glanz säumte die Kanten ihrer Höhen, die Sonne neigte zum Untergang ... schmelzend, duftig flimmerte die Landschaft ...

Frau Hadwig war bewegt. Ein Stück großer weiter Natur sagte ihrem großen Herzen zu. Die Gefühle aber ruhen nahe beieinander. Ein zarter Hauch zog durch ihr Denken; ihre Blicke wandten sich von den schneeigen Häuptern der Alpen auf Ekkehard. „Er will der heiligen Hadwig eine Kapelle weihen!“ so klang es immer und immer wieder in ihr.

Sie trat einen Schritt vor, als fürchte sie den Schwindel, lehnte den rechten Arm auf Ekkehards Schulter und stützte sich fest auf ihn. Ihr Auge flammte auf die kurze Entfernung in das seine hinüber. „Was denkt mein Freund?“ sprach sie mit weicher Stimme.

Ekkehard stand zerstreut. Er fuhr auf.

„Ich bin nie auf solcher Höhe gestanden“, sprach er, „bei dem Anblick mußt’ ich der Schrift gedenken: ›Hernach führte ihn der Teufel auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Pracht und sprach zu ihm: Dies alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Er aber antwortete und sprach: Weg von mir, Satan! denn es steht geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen.‹“

Starr trat die Herzogin zurück. Das Feuer ihres Auges wandelte sich, als hätte sie den Mönch hinabstoßen mögen in den Abgrund.

„Ekkehard!“ rief sie, „Ihr seid ein Kind – oder ein Tor!“

Sie wandte sich und stieg schnellen, unmutigen Ganges hinunter. Sie ritt allein zur Feste Twiel zurück, sausend, im Galopp; kaum mochte der Diener folgen.

Ekkehard wußte nicht, wie ihm geschehen. Er fuhr mit der Hand über die Augen, als lägen Schuppen davor.

Wie er in stiller Nacht auf seiner Hohentwieler Turmstube saß und den Tag überdachte, flammte ein ferner Feuerschein herüber. Er schaute hinaus. Aus den Tannen am hohen Krähen schlug die feurige Lohe.

Die Waldfrau hatte der künftigen Kapelle zur heiligen Hadwig ihren letzten Besuch erstattet.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ekkehard