Fünftes Kapitel. - Ekkehards Auszug. - Frühmorgens darauf saß die Herzogin samt ihren Leuten im Sattel, heimzureiten, und der Abt hatte keine Einwendung erhoben, da sie sich jegliche Abschiedsfeierlichkeit verbat. ...

Frühmorgens darauf saß die Herzogin samt ihren Leuten im Sattel, heimzureiten, und der Abt hatte keine Einwendung erhoben, da sie sich jegliche Abschiedsfeierlichkeit verbat. Darum lag das Kloster in stiller Ruhe, als drüben schon die Rosse wieherten, nur Herr Cralo kam pflichtschuldig herüber. Er wußte, was die Sitte gebot.

Zwei Brüder begleiteten ihn.


Der eine trug einen schmucken Becher von Kristall, mit silbergetriebenem Fuß und Aufsatz geschmückt, und saß manches gute Stücklein Onyx und Smaragd in der silbernen Umfassung; der andere trug ein Krüglein mit Wein. Und der Abt schöpfte ein weniges in den Becher, wünschte seiner erlauchten Base einen gesegneten Tag und bat, mit ihm des Abschieds Minne zu trinken und den Becher zu freundlichem Angedenken zu behalten84.

Für den Fall, daß das Geschenk nicht genügend befunden werden sollte, hatte er noch ein seltsam Schaustück im Rückhalt, das war silbern zwar, doch unansehnlicher Gestalt und täuschend einem schlichten Brote gleichgeformt, innen aber gefüllt mit güldenen Byzantinern bis zum Rande85; – vorerst ließ der Abt nichts davon vermerken und trug’s sorglich verborgen in der Kutte.

Frau Hadwig nahm den dargebotenen Becher, tat, als wenn sie daran nippte, gab ihn aber wieder zurück und sprach: „Erlaubet, teurer Vetter, was soll der Frau das Trinkgefäß? Ich heische ein anderweit Gastgeschenk. Habet Ihr nicht gestern von Quellen der Weisheit gesprochen?“

„Ihr sollet mir aus des Klosters Bücherei einen Virgilius verehren!“

„Immer zu Scherz geneigt“, sagte Herr Cralo, der eine gewichtigere Forderung erwartet hatte, „was soll Euch der Virgilius, so Ihr der Sprache nicht kundig seid?“

„Es versteht sich, daß Ihr mir den Lehrer dazu gebet“, sprach die Herzogin ernst.

Da schüttelte der Abt bedenklich das Haupt: „Seit wann werden die Jünger des heiligen Gall als Gastgeschenke vergeben?“

Sie aber sprach: „Ihr werdet mich verstanden haben. Der blonde Pörtner wird mein Lehrer sein, und heut am dritten Tage längstens wird der Virgilius und er sich bei mir einstellen! Gedenket, daß des Klosters Streit um die Güter im Rheintal und die Bestätigung seiner Freiheiten in Schwaben in meiner Hand ruhet, und daß ich nicht abgeneigt, auch auf dem Twieler Felsen den Jüngern Sankt Benedikts ein Klösterlein herzurichten ...

Lebet wohl, Herr Vetter!“

Da winkte Herr Cralo betrübt dem dienenden Bruder: „Traget den Kelch in die Schatzkammer zurück.“ Frau Hadwig reichte ihm anmutig die Rechte, die Rosse stampften, Herr Spazzo schwang den Hut – in leichtem Trab ritt der Zug aus des Klosters Bann heimwärts.

Von des Wächters Turmstube ward ein mächtiger Strauß in die Abreitenden geworfen, dran allein an Sonnenblumen die Hälfte eines Dutzends prangte, der Astern nicht zu gedenken, aber niemand fing ihn auf, und der Rosse Huf brauste drüber hin ...

Im trockenen Graben vor dem Tor hatten sich die Schüler der äußeren Klosterschule versteckt. „Langes Leben der Frau Herzogin in Schwaben! Heil ihr! ... und sie soll die Felchen bald schicken! Heil!“ klang ihr Ruf gellend in der Scheidenden Ohr.

„Wem für ein ungezogen Benehmen drei Feiertage und die besten Seefische bewilligt sind, der hat gut schreien“, sprach Herr Spazzo.

Langsam ging der Abt ins Kloster zurück; er ließ Ekkehard, den Pörtner, zu sich rufen und sprach zu ihm: „Es ist eine Fügung über Euch ergangen. Ihr sollet der Herzogin Hadwig einen Virgilius überbringen und ihr Lehrer werden.

›Die alten Lieder des Maro mögen mit lieblichem Sang die skythischen Sitten besänften‹, heißt’s im SidoniusA1. Es ist nicht Euer Wunsch ...“

Ekkehard schlug die Augen nieder, seine Wangen röteten sich –

„Aber den Mächtigen der Erde dürfen wir keinen Anstoß geben. Morgen reiset Ihr ab. Ich verliere Euch ungern; Ihr wäret der brävsten und würdigsten einer. Der heilige Gallus wird Euch den Dienst gedenken, den Ihr seinem Stift leistet. Vergeßt auch nicht, aus dem Virgilius das Titelblatt wegzuschneiden mit der Verwünschung gegen den, der das Buch dem Kloster verschleppt ...86“

Was des Menschen Herzenswunsch ist, dazu läßt er sich gern befehligen.

„Des Gehorsams Gelübde“, sprach Ekkehard, „heißt mich des Vorgesetzten Willen sonder Zagen und Aufschub, sonder Lauheit und Murren vollziehen.“

Er beugte sein Knie vor dem Abte.

Dann ging er nach seiner Zelle. Es war ihm, als hätte er geträumt. Seit gestern war ihm fast zu vieles begegnet. Es geht noch andern ebenso: lang’ einförmig schleicht das Leben, – wenn des Schicksals Wendungen kommen, folgt Schlag auf Schlag. Er rüstete sich zur Reise. „Was du begonnen, laß unvollendet zurück, zieh ab deine Hand vom Geschäft, darin sie tätig war, zeuch aus im Schritt des Gehorsams“, es war ihm kaum Not, sich diesen Satz seiner Regel vorzuhalten.

Auf seiner Zelle lagen die Pergamente des Psalmenbuchs87, das Folkard mit Meisterhand geschrieben und mit feinen Bildwerken verziert hatte. Ekkehard war beauftragt, mit der wertvollen Goldfarbe, die der Abt jüngst von venezianischen Handelsleuten erkauft hatte, die Anfangsbuchstaben auszumalen und den Figuren durch leisen Goldstrich an Krone, Scepter, Schwert und Mantelsaum die letzte Vollendung zu geben.

Er nahm Pergament und Farben und trug’s seinem Gefährten hinüber, daß er statt seiner die letzte Hand ans Begonnene lege; Folkard war gerade daran, ein neues Bild zu entwerfen, wie David vor der Bundeslade tanzt und die Laute spielt, – er schaute nicht auf. Schweigend verließ Ekkehard seine Künstlerstube.

Er wandte sich zur Bibliothek, den Virgil auszulesen. Wie er droben stand im hochgewölbten Saal, einsam unter den schweigenden Pergamenten, da kam ein Gefühl der Wehmut über ihn; auch das Leblose stellt sich bei Abschied und Wiedersehen vor den Menschen, als trüg’s eine Seele in sich und nähme Anteil an dem, was ihn bewegt.

Die Bücher waren seine besten Freunde. Er kannte sie alle und wußte, wer sie geschrieben; – manche der Schriftzüge erinnerten an einen vom Tode schon entführten Gefährten ...

„Was wird das neue Leben bescheren, das von morgen für mich anhebt?“ Eine Träne stand ihm im Auge. Jetzt fiel sein Blick auf das kleine, in metallene Decke gebundene Glossarium, in dem einst der heilige Gallus, der am Bodensee üblichen Landessprache unkundig, sich vom Pfarrherrn zu Arbon die notwendigsten Worte hatte verdeutschen lassen88. Da gedachte Ekkehard, wie des Klosters Stifter mit so wenig Ausrüstung und Hilfe dereinst ausgezogen, ein fremder Mann unter die Heiden, und wie sein Gott und sein unverzagt Herz in Not und Fährlichkeit ihn immerdar frisch gehalten ... sein Mut stärkte sich, er küßte das Büchlein, nahm den Virgil aus dem Schrein und wandte sich, zu gehen. „Wer dies Buch wegträgt, den sollen tausend Peitschenhiebe treffen und Lähmung und Aussatz dazu!“ stand auf dem ersten Blatte. Er schnitt’s weg.

Noch einmal schaute er um, als wollten ihm von Brett und Kasten die Bücher einen Gruß zuwinken. Da hub sich ein Knistern an der Wand, der große Bauriß89, den der Architekt Gehrung einst auf drei Schuh langer Tierhaut zu des Abt Hartmuth neuem Klosterbau angefertigt hatte, löste sich von dem festhaltenden Nagel und stürzte nieder, daß eine Staubwolke daraus emporstieg.

Ekkehard machte sich keine Gedanken drüber.

Wie er den Gang des obern Stockwerks entlang schritt, kam er an einem offenen Gemach vorüber. Das war der Winkel der Alten. Der blinde Thieto90 saß drin, einst des Klosters Abt, bis schwindendes Augenlicht ihn abzudanken nötigte. Ein Fenster war geöffnet, daß der Greis sich der sonnenwarmen Luft erfreue. Bei ihm hatte Ekkehard manche Stunde in traulichem Gespräch verbracht. Der Blinde kannte ihn am Schritt und rief ihn zu sich. „Wohin?“ frug er.

„Hinunter, – und morgen fort ins Weite. Gebt mir Eure Hand, ich komme auf den hohen Twiel.“

„Schlimm“, sprach der Blinde, „sehr schlimm!“

„Warum, Vater Thieto?“

„Frauendienst ist ein schlimm Ding für den, der gerecht bleiben will, Hofdienst noch schlimmer – was ist Frauen- und Hofdienst zugleich?“

„Es ist mein Schicksal“, sprach Ekkehard.

„Sankt Gallus behüte und schirme Euch“, sagte Thieto. „Ich will für Euch beten. Gebt mir meinen Stab.“

Ekkehard wollte ihm seinen Arm bieten, den lehnte er ab; er erhob sich und schritt zu einer Nische in der Wand, dort stund ein schmucklos Fläschlein. Er nahm’s herab und gab’s ihm:

„‘s ist Wasser aus dem Jordan, das ich selber einst geschöpft. Wenn Euch der Staub der Welt überflogen hat und Eure Augen trüb werden wollen, so läutert Euch damit. Meinen hilft’s nicht mehr. Fahret wohl!“

Am Abend desselben Tages ging Ekkehard auf den Berg, an den sich das Kloster anlehnt. Seit langer Zeit war das sein Lieblingsgang. In den Fischweihern, die dort zur Spendung klösterlicher Fastenspeise künstlich angelegt sind, spiegelten sich die Tannen; ein leiser Luftzug kräuselte die Wellen, die Fische tummelten sich. Lächelnd ging er vorüber: „Wann werd’ ich wohl wieder einen von euch verzehren?“

Im Tannwald oben auf dem Freudenberg war’s feierlich still. Da hielt er an. Ein weites Rundbild tat sich auf.

Zu Füßen lag das Kloster mit all seinen Gebäuden und Ringmauern; hier sprang der wohlbekannte Springquell im Hofe, dort blühten die Herbstblumen im Garten – dort in langer Reihe die Fenster der Klosterzellen, er kannte jedwede und sah auch die seinige: „Behüt’ dich Gott, stilles Gelaß!“

Der Ort, wo Tage strebsamer Jugend verlebt wurden, wirkt wie Magnetstein aufs Herz; es braucht so wenig, um angezogen zu sein, nur der ist arm, dem das große Treiben der Welt nicht Zeit vergönnt, sich örtlich und geistig an einem stillen Platz niederzulassen.

Ekkehard hob sein Auge. Hoch aus der Ferne, wie reiche Zukunft, glänzte des Bodensees Spiegel her über, in verschwommenen Duft war die Linie des anderseitigen Ufers und seiner Höhenzüge gehüllt, nur da und dort haftete ein heller Schein und ein Widerschein im Wasser, die Niederlassungen der Menschen andeutend.

„Aber was will das Dunkel in meinem Rücken?“ Er schaute sich um, rückwärts hinter den tannigen Vorbergen reckte der Säntis seine Zacken und Hörner empor, auf den verwitterten Felswänden hüpfte warmer Sonnenstrahl unstet im Kampf mit dem Gewölke und strahlte vorüberfliehend auf die Massen alten Schnees, die in den Schluchten neuem Winter entgegenharrten ... Über dem Kamor stand eine dunkle Wolke, sie dehnte und streckte sich, bald war die Sonne verdeckt, grau und matt wurden die Bergspitzen gefärbt, es schickte sich an, zu wetterleuchten ...

„Soll mir das ein Zeichen sein?“ sprach Ekkehard, „ich verstehe es nicht. Mein Weg geht nicht zum Säntis.“

Nachdenkend schritt er den Berg hinunter.

In der Nacht betete er am Grabe des heiligen Gallus. Frühmorgens nahm er Abschied. Der Virgilius und Thietos Fläschlein waren in die Reisetasche verpackt, sein übrig Gepäck kurz beisammen.

Wem selbst nicht der Körper, die Wünsche und Begierden zu eigener Verfügung stehen dürfen, soll auch weder an fahrender Habe noch an liegendem Gut ein eigen Besitztum ausüben.

Der Abt schenkte ihm zwei Goldschillinge und etliche Silberdenare als Zehr- und Notpfennig.

Mit einem Kornschiff des Klosters fuhr er über den See, – die Segel von günstigem Wind, die Brust von Mut und Wanderlust geschwellt.

Mittag war’s, da rückte das Kastell von Konstanz und Dom und Mauerzinnen immer deutlicher vor den Augen der Schiffahrer auf. Wohlgemut sprang Ekkehard ans Land.

In Konstanz hätt’ er sich verweilen, im Hof des Bischofs Gastfreundschaft ansprechen mögen. Er tat’s nicht. Der Ort war ihm zuwider, zuwider von Grund seines Herzens; nicht wegen seiner Lage oder etwaiger Mißgestalt, denn an Schönheit wetteifert er kühnlich mit jeglicher Stadt am See, sondern wegen der Erinnerung an einen Mann, dem er gram.

Das war der Bischof Salomo, sie hatten ihn kürzlich mit großem Prunk im Münster begraben. Ekkehard war ein schlichter, gerader, frommer Mensch. Im Dienst der Kirche stolz und hochfahrend werden, schien ihm Unrecht, ihn mit weltlichen Kniffen und Ränken verbinden, verwerflich, – trotz aller Herzensverworfenheit ein weitberühmter Mann bleiben: sonderbar. Solcher Art aber war des Bischofs Salomo Treiben gewesen. Ekkehard erinnerte sich noch wohl aus den Erzählungen älterer Genossen, mit welcher Zudringlichkeit sich der junge Edelmann in das Kloster eingeschlichen, den Späher gemacht, sich beim Kaiser als unentbehrlicher Mann darzustellen gewußt, bis die Insul eines Abts von Sankt Gallen mit der Mitra eines Bischofs von Konstanz auf seinem Haupt vereinigt war.

Und vom großen Schicksal der Kammerboten sangen die Kinder auf den Straßen. Die hatte der ränkespinnende Prälat gereizt und gekränkt, bis sie in der Fehde Recht suchten und ihn fingen: aber wiewohl Herrn Erchangers Gemahlin Berchta ihn in der Gefangenschaft hegte und pflegte wie ihren Herrn und den Friedenskuß von ihm erbat und aus einer Schüssel mit ihm aß, war sein Gemüt der Rache nicht gesättigt, bis daß des Kaisers Gericht zu Adingen seinen rauhen Feinden die Häupter vor die Füße gelegt.

Und die Tochter, die dem frommen Mann aus lustiger Studentenzeit erwachsen, war itzt noch Äbtissin am Münster zu Zürich91.

All das wußte Ekkehard; in der Kirche, wo der Mann begraben lag, mocht’ er nicht beten.

Es mag ungerecht sein, den Haß, der den Menschen gebührt, auf das Stück Land überzutragen, wo sie gelebt und gestorben, aber es ist erklärlich.

Er schüttelte den Konstanzer Staub von den Füßen und wanderte zum Tor hinaus; dem sich kaum dem See entwindenden jungen Rhein blieb er zur Linken.

Von mächtiger Haselstaude schnitt er sich einen festen Wanderstab: „wie die Rute Aarons, da sie im Tempel Gottes aufgrünte, sein Geschlecht schied von den abtrünnigen Juden, so möge dieser Stab, geweiht mit der Fülle göttlicher Gnade, mir ein Hort sein wider die Ungerechten am Wege“, sprach er mit den Worten eines alten Stocksegens92. Vergnügt schlug ihm das Herz, wie er einsam fürbaß zog.

Wie hoffnungsgrün und beseligt ist der Mensch, der in jungen Tagen auf unbekannten Pfaden unbekannter Zukunft entgegenzieht, – die weite Welt vor sich, der Himmel blau und das Herz frisch, als müßt’ sein Wanderstab überall, wo er ihn ins Erdreich einstößt, Laub und Blüten treiben und das Glück als goldnen Apfel in seinen Zweigen tragen. Wandre nur immer zu! Auch du wirst einstmals müden Fußes im Staub der Heerstraße einherschleichen, und dein Stab ist ein dürrer Stecken, dein Antlitz welk, und die Kinder zeigen mit Fingern auf dich und lachen und fragen: wo ist der goldene Apfel? ...

Ekkehard war in der Tat vergnügt. Wanderlieder zu singen, war für einen Mann geistlichen Standes nicht üblich, aber der Gesang Davids, den er jetzt anstimmte: „Jehova ist mein Hirt, mir mangelt nichts. Auf grünen Triften läßt er mich lagern, zu stillen Gewässern führt er mich“ – mag ihm im Himmel in das gleiche Buch des Verdienstes verzeichnet worden sein, in das die Engel der Jugend fahrender Schüler und wandernder Gesellen Lieder einzutragen pflegen.

Durch Wiesen und an hohem Schilfgelände vorüber führte ihn sein Pfad. Lang und niedrig streckte sich im See eine Insel, die Reichenau; Turm und Mauern des Klosters spiegelten sich im ruhigen Gewässer; Rebhügel, Matten und Obstgärten wiesen dem Auge den Fleiß der Bewohner.

Vor zweihundert Jahren war die Au noch wüst und leer gestanden, in feuchtem Grunde die Herberge von Gewürm und bösen Schlangen. Der austrasische Landvogt Sintlaz aber wies den wandernden Bischof Pirminius hinüber, der sprach einen schweren Segen über das Eiland, da zogen Schlangen und Würmer in vollem Heereshaufen aus, die Tausendfüßler im Plänklerzug voran, Ohrklemmer, Skorpione, Lurche und was sonst kreucht, in geordneten Säulen mit, Kröten und Salamander in der Nachhut: des Pirminius Spruch konnten sie nicht bestehen, zum Gestade, wo später die Burg Schopfeln gebaut ward, wälzte sich der Schwarm, dann hinab in die grüne Seeflut – und der Fisch weitum hat damals einen guten Tag gehabt ...

Seither war des Pirminius Stift aufgeblüht, eine Pflanzstätte, klösterlicher Zucht von gutem Klang in deutschen Landen.

„Reichenau, grünendes Eiland, wie bist du vor andern gesegnet,

Reich an Schätzen des Wissens und heiligem Sinn der Bewohner,

Reich an des Obstbaums Frucht und schwellender Traube des Weinbergs:

Immerdar blüht es auf dir und spiegelt im See sich die Lilie,

Weithin schallet dein Ruhm bis ins neblige Land der Britannen“

hatte schon in Ludwigs des Deutschen Tagen der gelahrte Mönch Ermenrich93 gesungen, da ihn auf seiner Abtei Ellwangen Heimweh nach den schimmernden Fluten des Bodensees beschlich.

Ekkehard beschloß, dieser Nebenbuhlerin seines Klosters einen Besuch abzustatten. Am weißsandigen Gestad von Ermatingen stand ein Fischer im Kahn und schöpfte das Wasser aus. Da deutete Ekkehard mit seinem Stab nach dem Eiland: „Führt mich hinüber, guter Freund!“

Mönchshabit verlieh damals jeder Aufforderung Nachdruck.

Der Fischer aber schüttelte verdrossen das Haupt: „Ich fahre keinen mehr von euch, seit ihr mich am letzten Ruggericht um einen Schilling gebüßt ...“

„Warum haben sie Euch gebüßt?“

„Wegen dem Kreuzmann!“

„Wer ist der Kreuzmann?“

„Der Allmann.“

„Auch der ist mir unbekannt“, sprach Ekkehard, „wie sieht er aus?“

„Aus Erz ist er gegossen“, brummte der Fischer, „von zweier Spannen Höhe, und hält drei Seerosen in der Hand. Der stund im alten Weidenbaum zu Allmannsdorf, und ‘s war gut, daß er dort stund, aber seit dem letzten Ruggericht haben sie ihn aus dem Baum gehauen und ins Kloster verschleppt. Jetzt steht er auf des welschen Bischofs Grab in Niederzell, was soll er dort? Toten Heiligen Fische fangen helfen94?! ...“

Da merkte Ekkehard, daß des Fischers Christenglaube noch nicht felsenfest stand, und mochte sich erklären, warum das eherne Götzenbild ihm die Schillingsbuße eingetragen – er hatte ihm ein Zicklein nächtlich als Opfer geschlachtet, damit seine Fischzüge mit Felchen, Forellen und Braxmannen gesegnet würden, und die Rugmänner hatten nach kaiserlicher Verordnung solch heidnisch Rückerinnern geahndet.

„Seid vernünftig, alter Freund“, sprach Ekkehard, „und vergesset den Allmann. Ich will Euch ein gut Teil Eures Schillings geben, so Ihr mich übersetzet.“

„Was ich rede“, sprach der Alte, „soll sich nicht drehen lassen wie ein Ring am Finger. Ich fahre keinen von euch. Mein Bub kann’s tun, wenn er will.“

Er pfiff durch die Finger, da kam sein Bub, ein hochstämmiger Ferge, der führte Ekkehard hinüber.

Wie sie das Schifflein angelegt, ging Ekkehard dem Kloster zu, das zwischen Obstbäumen und Rebhügeln versteckt inmitten des Eilandes aufgebaut steht. Es war die Zeit des Spätherbstes, alt und jung auf der Insel mit der Weinlese beschäftigt, da und dort hob sich die Kapuze eines dienenden Bruders dunkel vom rotgelben Reblaub ab. Auf der Hochwarte standen die Väter der Insel truppweise beisammen und ergötzten sich am Getrieb der traubensammelnden Leute; sie hatten unter Umtragung eines mächtigen Marmorgefäßes, das für einen Krug von der kananäischen Hochzeit galt, die Einsegnung des neuen Weines95 abgehalten. Fröhlicher Zuruf und fernes Jauchzen klang aus den Rebbergen.

Unbemerkt kam Ekkehard zum Kloster, auf wenig Schritte war er ihm genaht, da erst ragte der schwerfällige Turm mit seinen Vorhallen, deren Rundbogen abwechselnd mit grauen und roten Sandsteinquadern geschmückt sind, vor ihm auf.

Im Klosterhof war alles stumm und still. Ein großer Hund wedelte am fremden Gast hinauf, ohne Laut zu geben, er bellte keine Kutte an; die Einwohner allesamt hatte der linde Herbsttag hinausgelockt96.

Da trat Ekkehard in die gewölbte Fremdenstube am Eingang. Auch des Pförtners Gelaß nebenan war leer. Offene Fässer standen aufgepflanzt, manche schon mit süßem Moste gefüllt. Hinter ihnen war ein steinern Bänklein an der Wand; Ekkehard war frisch ausgeschritten und die Seeluft hatte ihm zehrend ums Haupt geweht, da kam ein Zug des Schlummers mächtig über ihn, er lehnte den Wanderstab an den Arm, streckte sich ein weniges und nickte ein.

Derweil zog sich’s mit langsamem Schritt in die kühle Stube, das war der ehrenwerte Bruder Rudimann, des Klosters Kellermeister. Er trug ein steinern Krüglein in der Rechten und ging seines Amtes nach, Mostprobe zu halten. Das Lächeln eines mit der Welt und sich versöhnten Mannes lag auf seinen Lippen und sein Bauch war fröhlich gediehen, wie das Hauswesen des Fleißigen, einen weißen Schurz hatte er darüber geschlungen, gewichtiger Schlüsselbund klapperte an seiner linken Seite.

„Zum Kellermeister soll erwählt werden ein weiser Mann von reifen Sitten, nüchtern und nicht vieler Speise gierig, kein Zänker und kein Schelter, kein Träger und kein Vergeuder, sondern ein Gottesfürchtiger, der der gesamten Bruderschaft sei als wie ein Vater97“ – und soweit es des Fleisches Schwäche hienieden möglich macht, war Rudimann bemüht, sotane Kellermeisterseigenschaften in sich zu vereinen. Dabei aber trug er das herbe Amt eines Strafvollziehers, und wenn einer der Brüder der Geißelung sich schuldig gemacht, band er ihn an die Säule und konnte sich keiner über die Milde seines Armes beklagen. Daß er außerdem mit boshafter Zunge dann und wann boshaftige Gedanken aussprach und den Abt mit Verdächtigung der Mitbrüder zu unterhalten wußte, wie das Eichhörnlein Ratatöskr der Edda98, – das auf-und abrennt an der Esche Yggdrasil und des Adlers zürnende Worte im Wipfel herniederträgt zu Nidhöggr, dem Drachen in der Tiefe: das war nicht seines Amtes, das tat er aus freien Stücken.

Heute aber schaute er gar vergnüglich drein, des trug die Güte der Weinlese schuld. Und er tauchte sein Krüglein in ein offenes Faß, hielt’s gegen das Fenster und schlürfte bedächtig den unklaren Stoff. Des schlafenden Gastes nahm er nicht wahr.

„Auch dieser ist süß“, sprach er, „und kommt doch vom mitternächtigen Abhang der Hügel. Gelobt sei der Herr, der vom Notstand seiner Knechte auf dieser Au eine billige Einsicht nahm und nach so viel magern Jahren ein fettes schuf, und frei von Säure!“

Inzwischen ging draußen Kerhildis, die Obermagd, vorüber, sie trug eine traubengefüllte Butte zur Kelter. „Kerhildis“, sprach der Kellermeister leise, „getreueste aller Mägde, nimm mein Krüglein und füll’ es mit dem – Neuen vom Wartberg, der drüben an der Kelter steht, auf daß ich ihn mit diesem vergleiche.“

Kerhildis, die Obermagd, stellte ihre Last ab und ging und kam und stand vor Rudimann, reichte ihm das Krüglein, schaute schalkhaft an ihm hinauf, denn er überragte sie um eines Kopfes Länge, und sprach: „Wohl bekomm’s!“

Rudimann tat einen langen, frommen, vergleichenden Zug, so daß ihm der Neue auf den Lippen schmelzen mochte wie Schnee in der Märzensonne; „alle miteinander werden süß und gut“, sprach er, und seine Augen hoben sich gerührt, und daß sie an der Obermagd strahlendem Antlitz haftenblieben, daran trug der Kellermeister kaum Schuld, denn diese hätte sich inzwischen auch zurückziehen können.

Da fuhr er mit Salbung fort: „So ich aber Euch anschaue, Kerhildis, so wird mein Herz doppelt froh, denn auch Ihr gedeihet wie der Klosterwein in diesem Herbst, und Eure Bäcklein sind rot wie Granatäpfel, die des Pflückenden harren. Preiset mit mir des Jahrgangs Güte, so getreuste aller Mägde!“

Und der Kellermeister schlang seinen Arm um der schwarzbraunen Obermagd Hüfte99, die wehrte sich dessen nicht groß – was liegt an einem Kuß im Herbste? – und sie wußte, daß Rudimann ein Mann von reifen Sitten war und alles mäßig tat, wie es einem Kellermeister geziemt.

Da fuhr der Schläfer auf der Steinbank aus seinem Schlummer. Ein eigentümlich Geräusch, das von nichts anderem herrühren kann als von einem wohlaufgesetzten verständigen Kuß, schlug an sein Ohr, er schaute zwischen den Fässern durch, da sah er des Kellermeisters Gewandung und ein Paar fliegende Zöpfe, die nicht zu diesem Habit gehörten ... er richtete sich auf, ein ungestümer Zorn kam über ihn, denn Ekkehard war jung und eifrig, und in Sankt Gallen war strenge Sitte, und es hatte ihm noch nie als möglich vorgeschwebt, daß ein Mann im Ordenskleid ein Weib küssen möge.

Sein wuchtiger Haselstock ruhte ihm noch im Arm; itzt sprang er vor und schlug dem Kellermeister einen wohlgefügen Streich, der zog sich von der rechten Schulter nach der linken Hüfte und saß fest und gut wie ein auf Bestellung gelieferter Rock – und bevor sich jener der ersten Überraschung erholt, folgte ein zweiter und dritter von gleichem Schrot ... er ließ sein steinern Geschirr fallen, daß es am Pflaster zerschellte; Kerhildis entfloh.

„Beim Krug von der Hochzeit zu Kana!“ rief Rudimann, „was ist das?“ und wandte sich gegen den Angreifer. Jetzt erst schauten sich die beiden von Angesicht zu Angesicht.

„Ein Gastgeschenk ist’s“, sprach Ekkehard ingrimmig, „das der heilige Gall dem heiligen Pirmin sendet100!“ und er erhub seinen Stab von neuem.

„Dacht’ ich’s doch“, schalt der Kellermeister, „sanktgallische Holzäpfel! Man kennt euch an den Früchten: Boden hart, Glaube roh, Leute grob101! Wartet des Gegengeschenks.“

Er sah nach etwas Greifbarem um, ein namhafter Besen stand in der Ecke, mit dem waffnete er sich und gedachte auf den Störer seines Friedens einzudringen ...

Da rief’s gebietend von der Pforte her: „Halt! Friede mit euch!“ Und eine zweite Stimme frug mit fremder Betonung: „Was ist hier für ein Holofernes aus dem Boden gewachsen?“

Es war der Abt Wazmann, der mit seinem Freund Simon Bardo, dem ehemaligen Protospathar102 des griechischen Kaisers, von der Einsegnung der Weinlese zurückkehrte. Das Geräusch des Streits unterbrach eine gelehrte Auseinandersetzung des Griechen über die Belagerung der Stadt Hai durch Josua und die strategischen Fehler des Königs von Hai, da er mit seinem Heer auszog wider die Wüste. Der alte Griechenfeldherr, der die Heimat verlassen, um im byzantinischen Ruhestand nicht an Mattigkeit der Seele zu ersterben, lag in seinen Mußestunden im deutschen Kloster eifrig dem Studium der Taktik ob; sie hießen ihn scherzweise den Hauptmann von Kapernaum, wiewohl er das Ordenskleid genommen.

„Gebt dem Streite Raum“, sprach Simon Bardo, der mit Bedauern den Zweikampf unterbrochen sah, zum Abte: „ich hab’ heut im Traume ein Sprühen von Feuerfunken erschaut, das deutet Schläge ...“

Der Abt aber, in dessen Augen die Eigenmacht jüngerer ein Greuel war, gebot Ruhe und ließ den Streitfall zur Schlichtung vortragen.

Da hob Rudimann an zu erzählen, was geschehen, und verschwieg nichts.

„Leichtes Vergehen“, murmelte der Abt; „Hauptstück sechsundvierzig: von dem, was bei der Arbeit, beim Gärtnen oder Fischfang, in Küche oder Keller gesündigt wird – alemannisches Gesetz: von dem, was mit Mägden geschieht ... der Gegner spreche!“

Da trug auch Ekkehard vor, wie er die Sache angeschaut und in gerechtem Zorn dreingefahren.

„Verwickelt!“ murmelte der Abt, „Hauptstück siebenzig: kein Bruder nehme sich heraus, den Mitbruder sonder Ermächtigung des Abts zu schlagen, Hauptstück zweiundsiebenzig: von demjenigen Eifer, der einem Mönch wohl ansteht und zum ewigen Leben führt ... Wieviel Jahre zählt Ihr?“

„Dreiundzwanzig!“

Da sprach der Abt ernsthaft: „Der Streit ist aus. Ihr, Bruder Kellermeister, habt Eure Streiche als wohlverdient Entgelt Eurer Zerstreutheit aufzunehmen; – Euch, Fremdling des heiligen Gallus, vermöchte ich füglich anzuweisen, Eures Weges weiter zu ziehen, denn es stehet geschrieben: Wenn ein fremder Mönch aus anderweiten Provinzen ankommt, soll er zufrieden sein mit dem, was er im Kloster vorfindet, sich nur einen demütigen Tadel erlauben und sich in keiner Weise überflüssig machen. In Erwägung Eurer Jugend und untadeligen Beweggrundes aber mögt Ihr zur Sühnung am Hauptaltar unserer Kirche eine einstündige Abendandacht verrichten: dann seid als Gastfreund willkommen!“

Dem Abte erging es mit seinem Schiedsspruch wie manchem gerechten Richter. Keiner der Beteiligten war zufrieden; sie gehorchten, aber unversöhnt. Wie Ekkehard in der Kirche sein Sühngebet tat, mochten ihm allerlei Gedanken durch die Sinne ziehen vom guten Herzen, vom rechtzeitigen Eifer und von andrer Leute Urteil drüber. Es war eine der ersten Lehren, die er im Zusammenstoß mit Menschen erlitt. Durch eine Seitenpforte ging er – ins Kloster zurück.

Was Kerhildis, die Obermagd, an jenem Abend den dienstbaren Frauen im Nähsaal zu Oberzell erzählte, allwo sie beim flackernden Scheine des Kienspans ein Dutzend neue Mönchsgewänder zu fertigen hatten, war mit so beleidigenden Ausfällen gegen die Jünger des heiligen Gallus untermischt, daß es besser verschwiegen bleibt ...

Fußnoten

A1 Apollinaris Sidonius, etwa 430–480, gallisch-römischer Dichter, Bischof von Clermont.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ekkehard