Eine schwimmende Heilstätte für Großstadtkinder

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1926
Autor: Dr. Alfred Gradenwitz, Erscheinungsjahr: 1926

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Kindergesundheit, Fürsorge, Kinderkrankheiten, Heilstätte, Kinderhospital, Kinderkrankenhaus, Gesundung, Heilung, Mütter, Mutter, Krankenschwester, Arzt, Nährmittel
In Boston besteht ein schwimmendes Kinderhospital, das eine in ihrer Art einzig dastehende Einrichtung bildet. Es ist nicht etwa ein ursprünglich für andere Zwecke bestimmtes, nachträglich für seine jetzige mildtätige Mission hergerichtetes, sondern ein von vornherein planmäßig als Hospitalschiff gebautes Fahrzeug, das kranke und schwächliche Großstadtkinder aus der Enge ihres Wohnorts aufs Meer führt und ihnen in Luft und Sonne Gesundung bringt.

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In jeder Hinsicht vorbildlich eingerichtet, besitzt es zwei geräumige Decks, von denen das obere zwei große und zwei kleinere Abteilungen für die wirklich kranken Kinder enthält. Was bedeutet es doch, dass zum Beispiel hundertfünfzig Kinder im zartesten Alter je nach ärztlicher Vorschrift vielleicht auf hundertfünfzig verschiedene Weisen verpflegt werden, dass ihnen diese Kost von kundiger Hand bereitet und unter Aufsicht des Arztes von erfahrenen Krankenschwestern gereicht wird! Wie ein Musterkrankenhaus ist das Schiff ausgestattet, in jeder Einzelheit, bis auf den während des Hafenaufenthaltes bestehenden Anschluss an das Bostoner Stadttelephon. Und alles ist freundlich und ansprechend eingerichtet, alle Menschen an Bord, das Hospitalpersonal wie die ganze Schiffsmannschaft, sind gütig und heiter. Als schwimmendes Krankenhaus, das bis in den letzten Winkel seinem Zweck entsprechend eingerichtet ist, verlässt das Schiff all morgendlich den Hafen von Boston, dampft mit seinen beiden schönen Maschinen hinaus dem offenen Meer zu, wirft aber bald Anker, kommt im Laufe des Nachmittags wieder, macht dann eine Abendfahrt, verbringt die Nacht draußen verankert, kommt mit dem Morgengrauen zurück und beginnt dann aufs neue sein mildtätiges Werk.

Hat man Gelegenheit, die Kleinen zu beobachten und zu sehen, was ihnen alles fehlt und in welch seltsamen Vermummungen sie häufig eingeliefert werden, so blutet einem das Herz. Beobachtet man aber, wie überraschend schnell sie sich erholen, wie der Besserungsprozess häufig mit den ersten Berührungen der Salzbrise beginnt und von Tag zu Tag greifbare Fortschritte macht, so erkennt man, welch wohltätige Rolle die schwimmende Heilstätte zu spielen berufen ist. In vielen Fällen bedürfen die Kinder keiner besonderen Behandlung; Luft und Sonne allein tun schon Wunder.

Die Tätigkeit des Sanatorium-Schiffes erstreckt sich jedoch noch weiter: Für jedes einzelne Kind, dass seiner Obhut übergeben ist, wird an Land eine Krankenschwester mit weiteren Nachforschungen und Maßnahmen betraut; sie muss sich in der Behausung der Eltern nach Möglichkeit über die Ursache der Erkrankung beziehungsweise des kränklichen Zustandes vergewissern und sodann Verordnungen treffen, die einem Rückfall möglichst vorbeugen.

Abgesehen von Kinderkrankheiten und Unterernährung im Verein mit schlechter Luft und den schädlichen Wirkungen der Sommerhitze, kommen immer noch Fälle von ungeeigneter Ernährung vor. Trotz allem, was |über Hygiene der Ernährung geschrieben und gesagt worden ist, gibt es erstaunlich viele Menschen, die auch über die Grundbegriffe dieses Wissenszweiges noch im Unklaren sind. Viele glauben immer noch, dass zwischen den Wünschen eines Kleinkindes und seinen wirklichen Bedürfnissen keinerlei Unterschied besteht, dass es ungestraft alles haben darf, wonach es mit seinen Händchen greift, und das durch derartiges Nachgeben seine Gesundheit keineswegs gefährdet wird.

Die leichteren Fälle sind Tagespatienten; alle ernstlich kranken Kinder bleiben ständig, Tag und Nacht. an Bord, bis ihr Befinden sich soweit gebessert hat, dass sie wieder an Land zurückgeschafft werden können.

Jeder kleine Patient kann von seiner Mutter begleitet werden, die noch außerdem ein zweites, gesundes Kind unter fünf Jahren mitbringen darf. Die Kranken bleiben auf dem offenen Oberdeck, wo jeder einzelne sein besonderes Bettchen hat. Hier kann die Mutter unter ärztlicher Aufsicht und mit Unterstützung der ihr beigegebenen Krankenschwester weiter für ihr Kind sorgen. Um die Mittagszeit wird in einem großen Ess-Saal auf dem unteren Deck für die Mütter und deren gesunde Kinder ein reichliches, bekömmliches Mahl gereicht.

Wenn auch die Kinder nur auf ärztliche Empfehlung hin aufgenommen werden, so werden sie doch mit größter Sorgfalt vorher auf ansteckende Krankheiten hin untersucht. Viele Patienten werden allerdings ohne vorhergehende Mitteilung eingeliefert, so dass mit den ständigen Untersuchungen aller neu Ankommenden an Land eine Schwester und ein Arzt betraut werden müssen, welch letzterem je nach Bedarf auch ein oder mehrere Dolmetscher zur Verständigung mit den Müttern beigegeben wird.

Die ständigen Patienten sind, wie schon erwähnt wurde, in kleinen Bettchen auf dem Hauptdeck untergebracht; dort stehen sie Tag und Nacht unter ärztlicher Obhut und in kundiger Pflege. Da es sich bei diesen Patienten fast stets um ernstliche Fälle handelt, ist ein großer Stab von Krankenschwestern erforderlich: im Durchschnitt kommt eine Schwester auf je vier Kinder.

Bei der Feststellung der für jedes Kind geeigneten Ernährung gelangen die modernsten Methoden zur Verwendung. Jedes Kind erhält von dem behandelnden Arzt eine Tabelle, auf der seine Sondernahrung verzeichnet ist. Zu den wichtigsten und interessantesten Abteilungen des Schiffes gehört das Nahrungsmittellaboratorium, wo in stehenden Behältern die verschiedenen Milchsorten, Getreide und sonstige Nährmittel gehalten werden. Jede Verordnung bezieht sich nur auf eine einmalige Mahlzeit; der Arzt muss daher jedes Mal ein besonderes Rezept ausfertigen. Jeder kleine Patient hat eine Nummer, die auch auf dem Rezept vermerkt ist. Das von dem behandelnden Anstaltsarzt ausgefertigte Formular geht nach dem Nahrungsmittellaboratorium, und wenn die fertige Flasche der Pflegerin ausgehändigt wird, hängt daran bereits das entsprechende Formular. Spezialisten für Auge und Ohr fehlen natürlich nicht; neben ihnen sind ärztliche Direktoren wirksam. Auch die Landabteilung verfügt über acht Ärzte von Ruf.

Es wäre zu wünschen, dass auch Deutschland, in dem seit dem Weltkrieg so viel Not und Elend herrschen, in die Lage käme, Einrichtungen wie die geschilderte für sein heranwachsendes Geschlecht zu treffen.

Eine schwimmende Heilstätte für Großstadtkinder: Blick auf das Hinterschiff mit der Freilustabteilung für schwerkranke Kinder

Genesende Kinder beim Spiel auf Deck

Der Saal für schwerkranke kleine Kinder mit den Wärterinnen in der schwimmenden Heilstätte für Großstadtkinder

Maritimes, Eine schwimmende Heilstätte für die Großstadtkinder, Blick auf das Hinterschiff mit der Freiluftabteilung für scherkranke Kinder

Maritimes, Eine schwimmende Heilstätte für die Großstadtkinder, Blick auf das Hinterschiff mit der Freiluftabteilung für scherkranke Kinder

Maritimes, Der Saal für schwerkranke kleine Kinder mit den Wärterinnen in der schwimmenden Heilstätte für Großstadtkinder

Maritimes, Der Saal für schwerkranke kleine Kinder mit den Wärterinnen in der schwimmenden Heilstätte für Großstadtkinder

Maritimes, Genesende Kinder beim Spiel auf Deck

Maritimes, Genesende Kinder beim Spiel auf Deck

Medizin, Kinderelend, Diese Aufnahme ist ein Zufallsbild von einem öffentlichen Spielplatz in Berlin. Bei allen Kindern finden sich rhachitische Merkmale

Medizin, Kinderelend, Diese Aufnahme ist ein Zufallsbild von einem öffentlichen Spielplatz in Berlin. Bei allen Kindern finden sich rhachitische Merkmale