Eine schlimme Stelle des menschlichen Körpers.

Die Gartenlaube, illustriertes Familienblatt.
Autor: Bock, Carl Ernst Dr. (1809-1874) deutscher Anatom, Erscheinungsjahr: 1863
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Diese schlimme Stelle unseres Körpers, - welcher ein ruhiger und verständiger Leser nach Durchsicht dieser Zeilen erst dann besondere Aufmerksamkeit schenken wird, wenn’s wirklich Not tut, und nicht, wie der krankheitssüchtige Angstmichel, bei jedem leisen Bauchknippe, - sie befindet sich rechts unten am Bauche, dicht über der Schenkelbeuge und wird vom Arzte Blinddarmgegend genannt. Als eine schlimme bezeichnen wir diese Stelle, weil hier ebenso in der Bauchwand, wie hinter und unter dieser in Organen der Bauch- und Beckenhöhle Krankheiten auftreten können, die, wenn sie mit hartnäckiger Verstopfung und heftigem, beim Drucke sich steigerndem Schmerze in der gespannten oder geschwollenen Blinddarmgegend einhergehen, von Bedeutung sind und einer wehr genauen ärztlichen Untersuchung bedürfen.

Der gedanken- und urteilslose Leser wird hiermit gebeten, sich von dem eben Gesagten die Worte „Schmerz in der gespannten Blinddarmgegend und hartnäckige Verstopfung“ gefälligst einprägen zu wollen, damit er nicht schließlich jedes seiner Unterleibsleiden für eine gefährliche Blinddarmgegend-Krankheit ansieht und sich unnützerweise abängstigt. Denn kaum zu glauben ist es, wie teils kurz- teils schwarzsichtig von vielen Lesern diese populär- medizinischen Aufsätze gelesen werden. Schreibt man von Mattigkeit in den Beinen und Druck im Halse, so sieht sich Mancher nächstens schon an Rückenmarksdarre und Kehlkopfschwindsucht zu Grunde gehen. Ist bei Schwächezuständen die Milch als das unentbehrlichste Stärkungsmittel angegeben, so trinkt trotzdem ein schwächlicher Leser statt Milch das früher gegen ganz bestimmte Leiden, aber niemals zur Stärkung empfohlene heiße Wasser und schimpft auf dasselbe, wenn er sich dadurch nicht bald gekräftigt fühlt. Wird vor dem Missbrauche des kalten Wassers und des Turnens bei gewissen Zuständen gewarnt, so gerät der Kaltwasser und Turnfanatiker außer sich und meint, das kalte Wasser und Turnen sollten als Gifte ganz und gar von der Erde vertilgt werden. Rät man einem an häufigen Rheumatismen oder Brustbeschwerden leidenden ältern Herrn das Tragen eines Unterjäckchens an, so wird man von jungen, zur Zeit noch gesunden und kräftigen Abhärtungsrenommisten mit den Worten angefahren: „Wollen Sie denn nicht lieber gleich die ganze Menschheit in Flanell einnähen lassen?“ Ach wenn der Mensch in der Schule außer vieles unnütze Andere doch auch denken lernte!!!

Was nun zuvörderst unsere obenberührte Bauchwand in der Blinddarmgegend betrifft, so hat diese ein Paar offene Stellen, durch welche Teile aus der Bauchhöhle (Darm, Netz) herausrutschen und durch ihre Einklemmung Gefahr bringen könnten. Man pflegt solche Ortsveränderungen von Baucheingeweiden „Bruchschäden“ zu nennen, und jene Austrittspforten heißen „Leisten- und Schenkelkanal“; der erstere zieht sich von außen und oben schräg, oberhalb und in der Richtung der Schenkelbeuge nach innen herab, während der letztere gerade in der Mitte der Schenkelbeuge seine Lage hat. Schmerzhafte Anschwellungen im Bereiche dieser Kanäle, zumal wenn sie von Verstopfung begleitet sind, müssen zum sofortigen Herbeirufen eines Arztes, der zu untersuchen versteht, auffordern. In solchen Fällen kann gar nicht genug vor homöopathischen Heilkünstlern gewarnt werden, da diese durch ihr Nichtstun schon manchmal den Brand des eingeklemmten Bruches und so Tod des Kranken veranlassten. Übrigens kommen an den genannten Stellen auch schmerzhafte Anschwellungen vor, welche keine Bruchschäden zu sein brauchen und demnach eine ganz andere Behandlung verlangen. Es könnten nämlich erkrankte (äußere oder innere, oberflächliche oder tiefe) Leistendrüsen oder auch Eitersäcke sein, welche letztere mit einer Vereiterung von Muskeln (Schenkelbeugern) innerhalb der Bauchhöhle in Verbindung stehen. Bisweilen führt sogar ein wassersüchtiger Schleimbeutel am Hüftgelenke den Arzt irre, und so kann es recht leicht kommen, daß Anschwellungen in der Blinddarm-Leistengegend falsch beurtheilt werden und zwar gar nicht selten zum großen Nachtheile des Patienten. Darum hinaus mit jedem Arzte, der bei dergleichen Übeln nicht die skrupulöseste Untersuchung vernimmt!

Denken wir nun die Bauchwand weg und uns in die Bauchhöhle hinein, so fällt sofort ein ziemlich weiter, kuglig-sackförmiger Darm in die Augen, an dessen blindem Grunde ein regen- oder spulwurmähnliches, blind-endigendes, 1-5 Zoll langes Darmröhrchen hängt. Jener Darm ist der Blinddarm und dieses Anhängsel der Wurmfortsatz. Ein Stück höher oben am Blinddarme ist die Stelle, wo der vom Magen herkommende und mit einer Klappe versehene Dünndarm in den Dickdarm übergeht.

Der Wurmfortsatz, dessen Zweck noch ganz unbekannt ist und der an seiner Einmündungsstelle in den Blinddarm durch eine Klappe von verschiedener Größe mehr oder weniger vollständig verschlossen werden kann, hat eine nur geringe Weite, so daß bloß fremde Körper von keinem Umfange (Kirschkerne, Erbsen, Linsen, Gerstenkörner, Kotsteine) in denselben eintreten können. Leider geschieht dies nun aber gar nicht so selten und ist insofern mit Gefahr verbunden, als dadurch eine sehr heftige Unterleibs- (Bauchfell-) Entzündung hervorgerufen werden kann. Da nun eine Entfernung des fremden Körpers aus dem Wurmfortsatze von Seiten des Arztes, selbst wenn dieser die Gegenwart eines solchen Körpers mit Gewissheit erkennen könnte, durchaus nicht möglich ist, so muss ein vorsichtiger, sein Leben und seine Gesundheit liebender Mensch sich vor dem Verschlucken kleiner fremder fester Körper, die in den Kanal des Wurmfortsatzes einzutreten im Stande sind, hübsch in Acht nehmen. So ist es eine sehr üble Angewohnheit, beim Kirschenessen die Kerne mit zu verschlucken; ebenso hat der Genuss von nicht enthülsten durchgeschlagenen Hülsenfrüchten seine Nachtheile. Denn abgesehen davon, daß die unlöslichen Hülsen dieser Früchte (Linsen, Erbsen) die Verdauung dieser Speisen bedeutend erschweren, so daß sich dieselben gewöhnlich zum größten Teile unverdaut, also ohne Nahrungsstoff geliefert zu haben, mit dem Stuhle wieder aus dem Körper entfernen, so häufen sich derartige Nahrungsmittel auch sehr gern im Blinddarme an, dringen zum Theil in den Wurmfortsatz ein, und können so in diesen Teilen nicht unbedeutende Leiden erzeugen. Auch tragen kleine verschluckte harte Gegenstände zur Bildung von Kotsteinen bei und zwar infofern, als sie den Mittelpunkt abgeben, um welchen sich zwiebelschalenartig harte Kotschichten anlagern. So fand man als Zentrum von Kotsteinen verschluckte falsche Zähne, Goldklümpchen aus plombierten Zähnen, ein Stückchen Schweinsborste aus der Zahnbürste, Kerne von Beeren, Haferspelzen u. s. w.

Der Blinddarm oder das Cöcum, welches durch sehr lockeres Zellgewebe an die unterliegende Muskelbinde angeheftet ist, wird sehr häufig der Aufenthaltsort von großen Massen größtenteils unverdauter, eingedickter und verhärteter Nahrungsmittelreste (Kothballen) sowie von sogenannten Darm- (oder Kot-) Steinen, (Conglomeraten unverdaulicher Stoffe), die bis zu 29 Lot Schwere gefunden wurden. Auch setzen sich hier sehr gern verschluckte spitzige Gegenstände fest und bahnen sich später durch die Darm-, und Bauchwand hindurch einen Weg nach außen. Die erwähnten im Blinddarme angehäuften Massen, die sich gewöhnlich auch durch die Bauchwand hindurch fühlen lassen, erregen nun häufig eine Entzündung des Blinddarms und zwar am häufigsten bei Personen, die neben Beeinträchtigung der Verdauung eine sitzende, den Leib zusammenpressende Lebensweise führen, und bei denen deshalb die Tätigkeit der Darm- und Bauchmuskeln verringert ist. Am meisten wird aber die Verdauung beeinträchtigt und dadurch Blinddarmstopfungsmaterial geliefert, wenn zu viel Unverdauliches genossen wird und wenn feste Nahrungsstoffe nicht gehörig zerkaut oder zu schnell aus dem Magen (in Folge von Reizung desselben durch starke Spirituosa) herausgetrieben werden. Wer demnach einer Blinddarmentzündung in Folge von Überfüllung des Blinddarms mit Kotmassen entgehen will, der genieße nicht zu viel unverdauliche Stoffe und zerkaue die verdaulichen festen recht ordentlich, auch treibe er die Bewegung des Verdauungsapparates (des Magens und Darmkanals) durch Reizmittel nicht widernatürlich an, wohl aber kräftige er durch Turnen die Darm- und Bauchmuskulatur.

Hat sich nun aber eine Blinddarmentzündung entwickelt, so lässt sich dies erkennen: durch eine gespannte Auftreibung der Blinddarmgegend oder auch des ganzen Bauches; durch das Fühlen eines festen, anfangs noch verschiebbaren, flach rundlichen Klumpens in jener Gegend; durch den hier festsitzenden, bald dumpfen bald sehr lebhaften, bei Druck und Bewegung heftiger werdenden Schmerz; durch hartnäckige Verstopfung, bisweilen mit Durchfall abwechselnd oder sogar mit Erbrechen verbunden. Bei höheren Graden und schnellerem Verlaufe dieser Entzündung fiebert der Kranke und fällt ziemlich schnell zusammen, während bei langwierigem Verlaufe zeitweilige Besserung und wiederkehrende Verschlimmerung eintritt. - Fällt ein solcher Patient in die Hände eines mittelsüchtigen Heilkünstlers, dann fängt die Kur mit Setzung einer tüchtigen Anzahl von Blutegeln auf die Bauchwand vor dem Blinddarme an, obschon die Stelle, wo die Blutegel saugen, in gar keiner Verbindung mit dem entzündeten Darme steht und das Geld für dieses unnütze Viehzeug so gut wie zum Fenster hinausgeschmissen wird. Dass man nach Applikation dieser Blutsauger öfters Besserung wirklich eintreten sah, liegt darin, daß der Arzt sofort nach der Blutegelung fortwährend recht warme Breiumschläge auf die geschwollene und schmerzende Stelle machen lässt. Und diese Umschläge sind es eben, welche heilsam wirkten, obschon sie allein auch nicht zur baldigen Heilung hinreichen, denn dazu sind häufige Klystiere (von einer größeren Quantität warmen Wassers mit Öl oder Stärke) ganz unentbehrlich. Sie müssen alle 2 bis 3 Stunden, aber so geschickt appliziert werden, daß sie auch gehörig hoch in den Darm hinauf gelangen und den kranken Blinddarm wirklich erreichen. Das bringt aber die gewöhnliche Hausklystiererei (zumal mit Clyssopompen) nicht fertig, und darum muß hier eine geübtere Hand sich der Operation unterziehen. Natürlich betrachtet der echte Prakticus das unbequeme und der Apotheke nicht entsprossene Klystier mit Verachtung und geht der Blinddarmverstopfung mit seinen Abführmitteln (Calomel, Ricinusöl, Sennaaufguß, Latwerge und abführende Mineralwässer) nicht direkt und von unten, wie’s durch das Klystier auf rationelle Weise geschieht, sondern indirekt von oben und unter Misshandlung des Magens und Dünndarms zu Leibe. Von Glück hat dann aber der auslaxirte Patient zu sagen, wenn seine Blinddarmbauchgegend nicht auch noch mit Einreibungen (von Quecksilbersalbe), Pflastern und Jodbepinselungen maltraitirt wird. Der homöopathische Heilkünstler bekämpft die Blinddarmentzündung hauptsächlich mit Aconit und Belladonna; das letztere Mittel ist aber nach Herrn Sanitätsrat Lutze hier vorzuziehen, da Aconit vorzugsweise ein links- und Belladonna ein rechtswirkendes Heilmittel ist. Unsinn!

Wenn nun der Leser meint, daß es mit den ausgeführten Leiden in der Blinddarm-Gegend genug sei, so irrt er sehr, denn außerdem kommt hier noch eine nicht etwa gering zu achtende Entzündung (Perityphlitis) des lockern Zellgewebes, welches den Blinddarm mit seiner hintern Fläche an die Beckenwand anheftet, sowie eine typhöse, tuberkulöse und carcinomatöse Entartung im Darme vor, auch sind in der Blinddarmgegend zuweilen Darmeinschiebungen, sowie beim weiblichen Geschlechte noch Ovariumkrankheiten anzutreffen. Kurz, es gibt wohl keine Gegend in unserem Körper weiter, die von so vielen verschiedenen Übeln heimgesucht werden kann, als die besprochene. Alle diese Übel braucht nun aber der Leser nicht näher kennen zu lernen; er möge mit den Winken zur Verhütung und Heilung der Blinddarmentzündung zufrieden sein und lasse sich nochmals als Haupterfordernisse bei fast allen diesen Leiden „reichliche warme Klystiere und einen genau untersuchenden Arzt“ empfohlen sein.