An Herrn Professor Franz Stuck in München. Rom, den 10. Juni 1902.

LIEBER HERR STUCK! Ich wollte Ihnen schon gestern schreiben, aber, wie es mir bisher nun immer auf dieser schönen Reise ergangen ist, wenn wir in einer großen Stadt ankamen: mich überfiel eine Erschlaffung. Wir sind durch das tägliche frische Luftbad so verwöhnt, daß die eingesperrte Luft der Städte uns wie Backofentemperatur vorkommt, in der zu leben uns anfänglich unmöglich scheinen will. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, daß Fliegen vor Hitze umfallen, wie man sagt, – sicher ist, daß ich hier tatsächlich umgefallen bin und nicht imstande war, die Feder zu rühren.

Das ist kein würdiger Beginn eines römischen Aufenthaltes, und ich schäme mich seiner rechtschaffen. Aber das kommt davon, wenn Hyperboräer wie ich zu einer Zeit nach Rom fahren, wo selbst die Römer die Stadt verlassen und die meisten Hotels geschlossen werden. Saison morte. Selbst die enge Stadt kennt diesen Begriff.


Nun haben wir heute eine Rundfahrt gemacht, und die hat mich elektrisiert. Hitze hin und Hitze her, – in Rom gibt es Dinge, die alles vergessen lassen, selbst 35 Grad Réaumur. Ob ich aber Worte für sie finden werde? Kann man mit wirbelndem Gehirne schreiben? Ich will es versuchen und mit leichten Dingen beginnen.

Die Aussicht von meinem Fenster: Sie wird links von einem Seitenflügel des schönen Palazzo Barberini begrenzt, dessen Garten gerade vor mir liegt. Ein Garten nach unseren Begriffen, mit vielen Bäumen und dichtem Buschwerk, ist das nicht. Der Bäume sind nur wenige, aber es sind seltene Prachtstücke südlicher Art, immergrüne, die auch im Winter nicht kahl werden. Hinter ihnen hohe Häuser mit glatten Dächern (auf dem einen sitzt, der Kleidung nach zu schließen, ein Kammermädchen, und ich bilde mir ein, daß es ein hübsches Kammermädchen ist, denn es wäre sehr ungeschickt, mir ein häßliches einzubilden; deren gibt es genug in den italienischen Hotels, in denen, so scheint es, grundsätzlich nur Matronen vorgerückten Alters angestellt werden), und rechts hinauf, gleichfalls mit platten Dächern, aber außerdem mit vielen luftigen Balkonen (doch ist es leider zu heiß, als daß sich auch nur der Ansatz zu einem Kranze holder Damen auf ihnen präsentierte) die via delle quattro fontane, auf der ein lebhaftes Hin und Her von Menschen zu Fuß und zu Wagen ist. Ich sehe und nenne: Mönche, Carabinieri, ein paar verspätete Engländer, Malermodelle aus den Abbruzzen (denn die „spanische Treppe“ ist nicht weit), ein Trupp Bersaglieri (wie Max Schillings mit Recht sagt: die schönsten Soldaten der Welt), ein Zug von Leuten mit Dreimastern und merkwürdigen Uniformröcken, in der Hand Wachskerzen, also wohl eine Begräbnisbrüderschaft, und, siehe da: auch drei „Krebse“. So nenne man nämlich, ihrer roten Soutanen wegen, die deutschen Seminaristen in Rom. An den Straßenecken sitzen junge Burschen, die Kirschen feilhalten, die sie in Form von Trauben zusammengebunden haben. Hinten, wo die via delle quattro fontane von einer andren Straße gekreuzt wird, sehe ich, einen Trupp Kürassiere voran, einen Trupp Kürassiere hinterher, im schnellsten Tempo eine Hofkalesche fahren. Vielleicht ist es der König oder die Königin. Die arme Ellena! Sie ist zwar die Königin, aber sie gilt nicht als solche. Noch immer denkt der Italiener an die blonde Margherita, wenn er la regina sagt. – Im ganzen genommen: das Straßenbild ist lebhaft, bunt, großstädtisch, aber seinethalben würde man kaum hier in der Hitze aushalten. Den Italienern, denen, je nach ihrer politischen Meinung, Rom heilig ist als Wahrzeichen der unita Italia oder des Papsttums, gilt in erster Linie das lebendige Rom, – uns verschwindet dieses vor den Resten des toten, dem wir doch allein die Ewigkeit zuerkennen.

Vor diesem tritt in mir jetzt alles andere zurück, aber ich bin froh, daß ich vorher noch von anderem zu handeln habe, denn ich würde (s. o.!) noch nicht imstande sein, Worte darüber zu finden. Ich frage mich wieder: werde ich es später? Das Ziemlichste wäre hier, zu schweigen oder Goethe zu zitieren. –

Einstweilen zurück nach Terni! Eine merkwürdige Stadt, –: sie hat keine Sehenswürdigkeiten. Wenigstens nicht innerhalb ihres Burgfriedens. Doch ist sie trotzdem viel besucht als Ausgangsort für die berühmten Wasserfälle le marmore. Es versteht sich, daß wir unsern Adlerwagen zu ihnen lenkten, und wir haben sehr wohl daran getan, denn sie sind ein herrlicher Anblick. Man muß aber nicht an das denken, was in der Schweiz oder Tirol ein Wasserfall heißt. Es ist nicht der gewisse Gießbach, der senkrecht eine hohe Schlucht herabfällt, sondern es ist ein Terrassensturz. Erst, in drei Strängen, eine hohe Wand herab, in einen mittleren Kessel, von wo aus sich die Gewässer als flüchtiger Staub bis fast zur halben Höhe der Wand wieder erheben, dann in wilden Strudeln zu einer zerrissenen Felsenstufe, und nun im gewaltigsten Schwalle herunter zum eigentlichen Bette des Flusses, wo dann der übermütige Springer bald ruhiger wird. Das ganze hat Majestät und Würde und sieht sich fast wie Kunst an, – wobei man aber an das denken muß, was man sich unter antiker Kunst vorstellt. Es ist wie eine Bändigung des Elements: erst hierher, daß sich deine Kraft im wildesten bricht, nun hier, wo sie sich nochmals abmühen mag, den alten Trotz zu gewinnen, und jetzt, kräftig noch, aber machtvoll geregelt, hinab zu gelassener Ruhe. Man nimmt einen großen Eindruck für immer mit sich. – Von Terni an führt die Straße immer aufwärts, wieder über einen Ast des Apennin, und wieder fiel es uns auf, wie öde dieses Gebirge ist und wie groß der Unterschied zwischen den Landschaften, die es trennt. Der Übergang selber ist nicht entfernt so schwierig wie der zwischen Faenza und Florenz; auch ist er viel kürzer. Die Campagna, in die wir nun eintraten, enttäuschte mich, weil ich unwillkürlich gehofft hatte, einen so überwältigenden Eindruck zu erhalten, wie er mir damals beschert war, als sich zum ersten Male Toskana dem Blicke auftat. Im Vergleiche dazu wirkt die Campagna arm. Sie ist kein Garten, wie Toskana, sondern in der Hauptsache Wiesen- und Weideland, nur spärlich unterbrochen von einzelnen Eichen. Keine Villen, wenig Dörfer, nur ärmliche Farmen und Viehhürden. Wir sahen viele Schafherden und eine große Anzahl von ungebührlich belasteten Eseln. Fast daß die Tiere darunter verschwinden, sind sie mit Heu bepackt, und man sieht die braven kleinen Burschen häufig genug zwei Reiter tragen. Die Frauen sitzen auf ihnen nach Männerart, was sich recht wunderlich ausnimmt. An ihnen bemerkten wir zum ersten Male die Miedertracht (nicht Niedertracht zu lesen!), d. h. das Korsett als Kleidungsstück ohne nochmalige Verhüllung durch eine „Taille“. Also eine Schale weniger, was zu begrüßen wäre, wenn die Korsetts sauberer aussähen. – Noch Seume erzählt von der Unsicherheit dieser Gegend; jetzt gibt es hier wohl kaum Räuber. Sie hätten dreimal leichte Arbeit mit uns gehabt, denn 25 Meilen vor Rom begann dasselbe Geduldspiel mit den Pneumatiks, das bereits unserm ersten Apenninübergang beschieden gewesen war: wir mußten dreimal „abmanteln“. Gelassenen Sinnes, wie man wird, wenn man seit acht Wochen im Laufwagen reist, haben wir uns nicht viel daraus gemacht und uns während dessen genauer in die Campagna vertieft, wobei es uns denn aufging, daß diese Öde einen Zug von Größe hat, – zumal, wenn man im Hintergrunde die Peterskuppel gewahr wird. – Die Straße, die man befährt, ist die alte via flaminia; es tut mir leid, zu sagen, daß wir sie als die schlechteste erfanden, die uns bisher auf italienischem Boden beschieden war. Im Altertum ist sie gewiß so vortrefflich gewesen, wie alles, was der antike Staat für die Öffentlichkeit baute (z. B. die schöne Brücke über den Tiber, hinter Otricoli), und sie hat sich nur noch nicht von der Zeit des Kirchenstaates her erholt, denk ich mir, da ich der Partei der „Königlichen“ recht gebe, die auf Plakaten ihren Wahlspruch hier so formulieren: In Roma siamo e ci rimaniamo. (Meine Frau belehrt mich eben, daß das ein Ausspruch Viktor Emanuels II. ist). „Liebt der Signor den König oder den Papst?“ fragte uns ein Mann, der bei uns Halt machte, als wir unserm braven Führer beim Reparieren zusahen, und er war sehr unzufrieden, als wir ihm darauf keinen bestimmten Bescheid gaben. Für den heutigen Römer muß das wohl, wenn er nicht gerade Sozialdemokrat ist, politisch die Hauptfrage sein, und diese Frage drängt sich mit der ganzen Wucht der Peterskuppel auf. Auch dem Fremden wird erst hier die Wunderlichkeit des Zustandes recht auffällig, die darin liegt, daß der einstmalige Souverän des Landes depossediert in seiner ehemaligen Residenz sitzt. Man versteht, überlegt man sich dies, die Redensart von der Gefangenschaft des Papstes, – es ist der Aufenthalt im Vatikan für ihn in der Tat wenigstens eine Art relativer Gefangenschaft, und für ein Temperament wie das des Kardinals Rampolla muß dieser Zustand eine arge Pein sein. Der gegenwärtige Papst selber mag ihn persönlich eher erträglich finden, da er körperlich ohnehin kaum die Kraft hätte, die Grenzen des Vatikans zu überschreiten, und da er geistig seinen Trost im vornehmsten aller geistigen Sports findet: in der lateinischen Poesie. Das gläubige Volk ist hier übrigens überzeugt, daß er körperlich gar nicht mehr lebt, und daß es nur sein Geist ist, dem die Engel für die Augenblicke, wo er sich öffentlich zeigen muß, zur Materialisierung verhelfen. – Mich kümmert diese Frage wenig; mag der Papst leben oder tot, gefangen oder souverän sein: die Hauptsache ist für mich in Rom, daß ich mit Augen sehen kann, was von der Antike noch lebt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil