An Herrn Professor Hans Thoma in Karlsruhe. Rom, den 12. Juni 1902, im Albergo Italia.

Ich hatte mir, lieber Herr Thoma, als ich den Plan zu dieser Reise machte, alles hübsch eingeteilt, kilometerweise und nach Hauptrastorten, und hatte mir gleichzeitig, als besonderes Reisevergnügen, vorgenommen: diesen Teil schilderst du dem, jenen Teil jenem Freude, und ich dachte es mir so hübsch, so von Ort zu Ort aus der frischen Stimmung des Tages meine Sendeblätter freundschaftlichen Gedenkens dorthin fliegen zu lassen, woher ich gekommen: nach Deutschland. Aber der Menschen Pläne werden bekanntlich vom Leben korrigiert, und besonders auf der Reise, auch wenn man sie im Automobil tut, waltet der Rotstift des Lebens grimmiger als der eines Regisseurs. Ich bin in den letzten Reisewochen nur eben zu kurzen Notizen gekommen und war vor lauter Schauen und Genießen nicht imstande, auch nur halbwegs ordentliche Briefe zu schreiben. Je weiter man in dieses herrliche Land hineinkommt, umsomehr gewinnt es Gewalt über einen und zwar so, daß man es gar nicht wagt, sich sofort nach deutscher Weise darüber „Rechenschaft zu geben“. Ihr Maler habt es da viel besser. Ihr denkt gar nicht daran, euch Gedanken über das Schöne zu machen, weil ihr Besseres könnt: Ihr setzt euch, wenn ihr ganz überwältigt seid, hin und versucht in Gottes Namen wenigstens ein Stücklein davon abzumalen. So haben Sie viele Ihrer schönsten italienischen Stunden sich und uns im Bilde festgehalten und aufbewahrt. Der Engel der Schönheit erschien, Sie faßten ihn heiteren Mutes an, den schönen Bibelspruch im Herzen: Ich lasse dich nicht, du segnetest mich denn, – und so hat er Sie gesegnet, denn das ist sein Amt, wenn er es mit guten Kämpfern zu tun hat. Wir aber können im besten Falle bloß stammeln oder – notieren. Meine Stammelverse will ich Ihnen aber doch nicht zumuten. Sie mögen erst zu vollen Rhythmen reifen, – vielleicht sehr spät erst, wenn meine Seele so ruhig und klar ist, wie es diese erhabenen Gegenstände erfordern. Einstweilen bitte ich Sie, meine Notizen entgegenzunehmen, die ich nur schlecht und recht ein bißchen in Form zu bringen mich bemühen will, freilich von vornherein überzeugt, daß die Form noch allzulocker bleiben wird, denn hier in Rom ist es eine heillose Aufgabe, über etwas andres zu schreiben, als über Rom, und am liebsten würde man gar nicht schreiben. Am liebsten würde ich hier, wenn ich nicht umhergehe und staune, lateinisch lernen, ordentlich, nicht bloß so, wie es mich meine Präzeptoren auf den verschiedenen deutschen Gymnasien gelehrt haben, in denen mir die schönsten Jahre meiner Jugend zerschunden worden sind. Aber das geht nun freilich nicht mehr. Hin ist hin, verloren ist verloren.

So nehmen Sie denn das Vielzuwenige, das ich Ihnen an Notizen zu bieten habe, nachsichtig an.


Dienstag, den 3. Juni sind wir von Siena weitergefahren. Bald hinter der Stadt gab uns die Landschaft ein Rätsel auf, das zu lösen ich leider in der Geologie zu schlecht beschlagen bin. Rings um uns herum nahm die Gegend das Ansehen an, als sei das Erdreich völlig verschwunden und an seine Stelle eine unabsehbare Reihe von Sandhaufen getreten. Alles grau und trist, nur ein leiser Anflug von grün oder gelb darauf. Strichweise eine vollkommene Öde, das Bild der Unfruchtbarkeit. Ich stieg ab, um mir den seltsamen Boden näher anzusehen, und fand, daß er sich genau wie trockener Bildhauerton ansah und anfühlte. Der Umstand, daß er mit allerhand Muscheln übersät war, bringt mich auf die Vermutung, daß dieses Land alter Seeboden ist. Stellenweise ist es bebaut, und es nimmt sich wunderlich genug aus, wie dieser harte, rissige Boden, der von weitem wie Stein aussieht, mit dem Pflug bearbeitet ist, und wie in den tiefen Furchen, die dieser gerissen hat, und auf den aufgeworfenen Furchenwällen spärlich dünn die Saat aufstrebt. Das heiß ich wirklich, der Erde Frucht abtrotzen: es ist ein heroischer Ackerbau, und unsre Bauern würden weidlich dabei fluchen.

Auch die dortigen Bauern haben das Fluchen gelernt. Zum ersten Male auf unserer Reise begegnete uns auf dieser Strecke, daß wir, ohne daß wir eine Veranlassung dazu geboten hätten, verwünscht wurden, und zwar in ausgiebig kollektivischer Form, bei der auch August Scherl G. m. b. H. und die Adlerfahrradwerke ihr Teil mit abbekamen. Die Verwünschung, ausgestoßen von einem alten Bauernweib, lautete in getreuer Übersetzung wie folgt: „Verdammt sollt ihr sein und euer Wagen und wer das gemacht und euch gegeben hat!“ Für diesen bösen Gruß wurden wir kurz darauf entschädigt durch den Anblick eines aus dem Straßengraben auftauchenden wunderschönen Mädchenkopfes, der den Ausdruck maßlosesten Erstaunens in einer Weise zeigte, wie wir ihn noch nie gesehen hatten. So muß Lots Weib ausgesehen haben, ehe es zur Salzsäule wurde. – Es schien übrigens bald darauf, als sollte sich der Fluch der alten Tonbäuerin an uns erfüllen: ein mächtiges Gewitter brach über uns herein. Wir mußten zum ersten Male das Leder mit den zwei Guckfenstern anbringen, das sich auch recht gut bewährte, indem es uns vor dem Schicksale unsers beklagenswerten Führers Riegel schützte, der auf dieser Fahrt ein vollkommenes Sitzbad genoß, was den wackeren Pionier der Reserve aber nicht weiter genierte. Blitz, Donner und Dunkelheit, – so fuhren wir dahin und kamen ziemlich spät abends in Arezzo an.

Daß diese Stadt einmal eine gefährlich Gegnerin Roms gewesen ist, sieht man ihr nicht mehr an, aber ein malerisches Nest ist sie, und wir denken gerne an den Spaziergang zurück, den wir durch ihre hügeligen Gassen gemacht haben. Ihre älteste Kirche, Santa Maria della Pieve, ist ein Ding zum Fürchten, so schwarz und grimmig sieht sie aus. Der Dom aber liegt auf heiterer Höhe und enthält innen einen wahrhaft lachenden Schmuck von bunten Terrakotten des Andrea della Robbia. Unweit von ihm steht das Geburtshaus Petrarkas mit einer endlosen Ruhmestafel. Mein Gott, was alles so ein Dichter heißt, wenn er tot ist. Im Museum grüßten uns wiederum ein paar liebe alte Madonnen von der sieneser Art. – Am 4. Juni hätten wir nach Perugia fahren sollen; wir machten aber, getreu unserm Programm, möglichst an keiner Schönheit vorbeizufahren, schon im alten Cortona Station, das, wie alle diese alten Etruskerstädte, hoch auf einem Berge liegt. –Hinter Arezzo begegneten wir zum ersten Male auf unsrer Reise einem Automobil. Da es mitten auf der Landstraße hielt, war es wohl eben mit einer „Panne“ beschäftigt. Es war ein gewaltiges Ding, gewiß auf 24 Pferdestärken zu schätzen, und unser Adlerwagen nahm sich etwas kleinbürgerlich daneben aus. Aber, item, David lief und Goliath lag, – evviva David! Es kommt auch bei Laufwagen nicht bloß auf die Kraft an. Man kann mit einem leichten Wagen wie dem unseren selbst auf einer großen Reise unter Umständen mehr leisten, als es den Besitzern schwerer Kolosse vergönnt ist, die eigentlich nur das eine voraus haben, daß sie unsinnig rennen können. Woran uns gar nichts liegt. – Wer weiß, was passiert wäre, wenn an unsrer Stelle der Goliath, kurz nach unsrer Begegnung mit ihm, die Begegnung mit dem Wagen der Miserikordia-Brüderschaft gehabt hätte. Sie wäre dann wohl sehr übel abgelaufen. Ich will Ihnen die Sache doch erzählen, weil sie beweist, wie nötig es ist, daß auch Automobilisten Rücksicht beweisen. Wir fuhren in gelassenem Tempo dahin, als uns ein großer schwarzer Wagen entgegenkam, dessen Pferde, kaum, daß sie unser ansichtig wurden, in nervöse Bewegung gerieten. Unser Führer hielt sofort an, etwa 20 Meter von dem Wagen entfernt, dessen Kutscher herabsprang, aber kaum imstande war, die Pferde zu bändigen, die offenbar durch das bloße Geräusch des Motors wild wurden und durchaus in den Straßengraben wollten. Ich ließ sogleich den Motor abstellen, und die Gäule beruhigten sich. Als der schwarze Wagen nun langsam an uns vorüberfuhr, berichtete uns der Kutscher, daß drei schwerkranke Leute in ihm lagen...

Cortona ist es wert, besucht zu werden. Schon die Lage ist herrlich, und der ganze alte Habitus des Städtchens mit seinen riesigen etruskischen Mauern hat etwas sehr Eindrucksvolles. Auch besitzt es, in einer verfallenden Kirche, eine schöne Himmelfahrt Mariä von Bart. della Gatta (die wohl bald in ein Museum überführt werden wird, da hier kein Raum mehr für sie ist), – aber das beste, was es aufzuweisen hat, sind zwei kostbare antike Stücke: eine enkaustische Malerei auf Schiefer wohl eine Muse vorstellend, und ein etruskischer Kronleuchter. Die alte Malerei ist sehr schön, und da es die erste antike war, die ich sehen durfte, habe ich sie mir sehr genau und andächtig angesehen. Ja, da ich hier andre, zweifellos antike, Malereien gesehen habe, getraue ich mich des Urteils, auch sie für antik zu halten. Es ist ein edles und ehrwürdiges Stück Kunst von gänzlich andrer Art als meine geliebten alten Madonnen: ganz Hoheit, Symbol, durchaus nicht lyrisch; spricht lediglich die Augen an, nicht die Seele. Der Kronleuchter ist pompös. Von Ferne gesehen, wie eine riesige Sonnenblume, aber die Blätter sind Satyrn von einer Form, für die in Florenz die Klempner Feigenblätter zu fabrizieren haben. Unter ihnen Delphine und Sirenen, in der Mitte ein Gorgonenkopf, – das ganze mit fabelhaftem Geschmack in eins komponiert, ein Ding von unschätzbarem Werke, das auch hier in Rom die Blicke auf sich lenken würde. – Den nächsten Tag fuhren wir nach Perugia. Herrlich ging es im schönsten Motorviertakt den schönen Weg von Cortona hinunter in dieses unglaublich schöne Flächenland mit dem trasumenischen See. Auch wenn man nicht allzusehr an der historischen Krankheit leidet (ganz frei davon ist wohl kein Deutscher), wird man hier doch nachdenklich, indem nicht man sich jenes mörderischen Zusammenstoßes zwischen Afrika und Rom erinnert, der die ganze damalige europäische Kultur in Frage gestellt hat. Auch an Frau Bertha von Suttner denkt man hier und ihre Träume vom ewigen Frieden, und das je öfter, je näher man Rom kommt, der Stadt, die alles mit dem Schwert erreicht hat. Im Grand Hotel von Perugia diskutierten die vielen Engländer, die dort wohnten, gerade den Frieden zwischen ihrem Lande und den Buren. Es war uns, die wir nun eine schöne Reihe von Wochen keine Zeitung mehr gelesen haben, angenehm zu hören, daß dieser ungleiche Kampf zwischen dem Elefanten und dem Schäferhund nun endlich bald vorbei sein sollte. Daß der Elefant einst Sieg trompeten würde, war vorauszusehen, – hoffentlich macht ers kurz und erspart denen, die ihn noch nicht für ein lächerlich verkommenes Monstrum, sondern für eine sehr respektable Bestie halten, das Schauspiel eines unanständig langen und lauten Siegeslärmes. – Ehe wir nach Perugia kamen, versuchte ein findiger Straßenkehrer, eine kleine Steuer von uns zu erheben. Er gab uns mit gebieterischer Handbewegung ein Zeichen, zu halten, und ich ließ nach seinem Willen geschehen, weil ich glaubte, er hätte uns eine Mitteilung über eine Brückenreparatur oder dergleichen zu machen. Der naive Bursche verlangte aber den Vorweis einer Fahrerlaubnis, weil, wie er mit Amtsmiene erklärte, ein Zirkular von der Regierung erschienen sei, demzufolge nur Fahrer mit Autorisation diese Straße nehmen dürften. Meine Frau erklärte ihm, sie würde sich darüber lieber direkt bei der Regierung in Rom in formieren, als bei einem Funktionär seiner Beamtenrangklasse, und der Biedermann sah ein, daß er sich verrechnet hatte. Er war gewiß zu höherem geboren als zum Kehrbesen. – Auch Perugia liegt, wie alle diese etruskischen Städte Umbriens hoch auf einem Berge, wahrhaft königlich und gebietend. Wäre es unsre Absicht gewesen, die umbrische Malerschule zu studieren, so hätten wir uns sehr viel länger in seinen Mauern aufhalten müssen, als wir getan haben. Es lag uns aber nicht gar viel an Meister Perugino und seinen Schülern, für die ich, um ganz offen zu sein, wenig Neigung empfinde. Auch hier gefallen mir vielmehr die früheren, wie der sanfte Benedetto Bonsigli, der die süßesten Engel gemalt hat, die jemals, Rosenkränze im Haar, dazu dienten, eine Madonna und einen kleinen Christus einzurahmen. Auch Bernardino Mariotto, der etwas strenger ist, sagt mir sehr zu. Sonst sind vornehmlich noch drei Dinge in meiner Erinnerung geblieben: der fonte maggiore, ein Brunnen von den schönsten Verhältnissen, durchaus edel und zurückhaltend; der Augustus-Bogen, wie alles Antike ein Inbegriff von Solidität und Sicherheit; und die uralte Kirche S. Angelo mit antiken Säulen, die aus den Resten eines „heidnischen“ Tempels entstanden sein soll. (Mir kommt es wunderlich vor, Antikes „heidnisch“ zu nennen, da ich bei Heiden an Neger und dergleichen zu denken gewöhnt bin.) – Die umbrische Landschaft hat in diesen ersten Tagen, da wir sie durchfuhren, wie auch später, einen gewaltigen Eindruck auf mich gemacht. Es ist eine heroische Landschaft im eigentlichsten Sinne des Wortes und war in der Tat der geeignetste Exerzierplatz für ein Volk wie die Römer, das hier seine ersten großen Übungen im Erobern gemacht hat. Bei uns in Deutschland gibt es wohl Strecken, wie am Rhein und noch mehr an der Etsch, wo jeder Berg von einer Burg bekrönt ist; hier aber liegen die Städte selber alle auf Bergesrücken, ein Riesenburgkomplex neben dem andern. Die Etrusker sind ein Berg-Festungsvolk gewesen; die Identität von Bürger- und Mauerkrone stammt wohl von ihnen. Was eine Stadtmauer ist, habe ich erst in Cortona wirklich kennen gelernt. Man sollte meinen, daß selbst moderne Belagerungsgeschütze nicht imstande wären, dieses Quaderwerk zu zerstören. Heute aber nistet ein bewegliches Kleinbürgervölkchen dazwischen, dessen Aussehen und Gebahren in einem wunderlichen Gegensatz zu diesen cyklopischen Ummauerungen steht. Diese Leute gehören eigentlich in die Ebene. Sie sitzen nur hier oben, weil eben die alten Häuser oben stehen, hohe, düstere Gebäude, die zum großen Teile leer sind. Die Gassen aber eng, gewunden, winklig. Mancher palazzo dazwischen mit großen Wappen und Balkonen, aber die alten Geschlechter sind wohl ausgestorben oder leben in den modernen Großstädten.

Bei der Höhenlage dieser Städte hat eine jede weiten Rundblick. Zumal die Blicke von Cortona werden uns unvergeßlich bleiben. Trotzdem muß es auf die Dauer kein angenehmes Wohnen dort sein, weil alles schrecklich zusammengedrängt ist. Immer bloß die Blicke wandern lassen, genügt uns Leuten aus der Ebene nicht. Die Etrusker wanderten wohl nur, wenn sie im Heerbann gingen, immer eine Stadt gegen die andere, bis Rom die Bergstädte zwang, sich gegen die Siebenhügelstadt zu vereinigen, die schließlich doch alle verschlungen hat als der große Völkermagen.

Rom! Rom! Je näher man an das Ungetüm kommt, umsomehr wird alles, was vor ihm liegt, nur Einleitung, Vorbereitung, und auch wir dürfen es nicht leugnen, daß unsre Reiseruhe dadurch etwas beeinträchtigt worden ist.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil