Florenz den 30. Mai 1902.

Das Wetter ist drückend heiß geworden; die großen schönen Steinquadern, mit denen die Stadt asphalteben gepflastert ist, lassen durch die Stiefelsohlen hindurch die Hitze fühlen, die sie ausströmen: selbst die Engländerinnen, die leider standhaftesten unter den hiesigen Fremden, entfernen sich. Wenn es wirklich wahr ist, daß die abscheulichen Feigenblätter, mit denen die herrlichen Statuen hier verschimpfiert werden, auf Eingaben prüder Misses hin angebracht worden sind, die auf so unanständige Weise schamhaft sind, so ist zu hoffen, daß die Meisterwerke der Skulptur jetzt von diesen gemeinen Anhängseln befreit werden. Es ist eine wahre Schande für die Stadt Michel Angelos und Donatellos, daß man Kunstwerke reinster und höchster Art, Darstellungen der menschlichen Schönheit, wie sie edler nicht zu denken sind, um der krankhaften Instinktverirrung bedauernswerter Wesen willen mit Miniaturschürzen aus Blech behängt, die durch den grotesken Kontrast, mit dem sie zu dem edlen Material der Bildwerke stehen, den Blick eben auf den Körperteil lenken, den sie „verhüllen“ wollen. Es ist in der Tat ein nicht bloß künstlerisch unanständiger Anblick, und das Schamgefühl der Personen, die diesen Unfug veranlaßt haben, muß dem gesunden Sinne geradezu pervers erscheinen. Daß der Magistrat einer der ersten Kunststädte der Welt auf derartige Verirrungen Rücksicht nimmt, ist eine Unbegreiflichkeit, es sei denn, er gehörte in dasselbe Krankenhaus. Savonarolas Leib ist verbrannt worden, sein Geist lebt aber wohl noch in vielen, und nicht bloß in Kuttenträgern. Aber auch der Geist Lorenzos ist nicht tot. Warum ermannt er sich nicht und macht dieser Bemakelung reiner Kunst ein Ende? Ist es wirklich die Furcht, daß ein paar prüde Engländerinnen der Medizeerstadt fern bleiben könnten? Dann wäre jedes dieser Blechblätter ein Schandmal für Florenz.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil