Florenz, den 29. Mai 1902.

Wir haben einen Bruder meiner Frau besucht, der die bei Florenz gelegenen Güter des Barons Francchetti bewirtschaftet, und dabei einen Einblick in die hiesige Landwirtschaft gewonnen. Die Ergiebigkeit des Bodens ist erstaunlich. Neben den eigentlichen Ackerfrüchten und Futtergewächsen, bringt er Wein, Öl, Obst hervor. Alles gedeiht zusammen. Die Öl- und Obstbäume durchziehen in engen Reihen die Saatfelder und Wiesen, und an den Bäumen hinan rankt sich die Rebe. Hier wächst der berühmte Chiantiwein, der ein leises Irisparfüm hat und in den schönen Korbflaschen auf allen Wirtshaustischen steht. Selbst die Mauern ergeben Ernten: aus allen Ritzen grünt der Kapernstrauch. Die Ölbäume blühen eben, aber die Blüte ist so klein und unscheinbar, daß man sie kaum bemerkt. Groß und von schönen Formen ist das Rindvieh, meist weiß und mit auffällig starken Hörnern. Es wird mehr als Zugtier, denn zu Milchgewinnung gezogen. Der Bedarf an Butter ist gering, weil ihre Stelle das Öl vertritt. Man bewahrt es in riesigen Terrakottavasen von schöner antiker Form auf. Nach den Weinkellern und den Ölhallen bemißt sich der Reichtum des Landwirtes. Der Stolz unsrer Bauern, das große, starke Pferd, fehlt gänzlich. Dafür sieht man viele Esel und Maultiere, die aber selten gut gehalten sind. Das alte Thema der Tierschinderei drängt sich hier jedem Deutschen auf, und auch die gebildeten Italiener fangen an, ein Auge dafür zu bekommen, daß die schlechte Behandlung des Viehes eine Schande für ihr Land ist. – Auf der Rückfahrt von der Fattoria meines Schwagers genossen wir einen wunderbaren Sonnenuntergang. Es waren wirklich die violetten „Tinten“, die uns auf den Bildern der düsseldorfer Italiener so fatal sind, aber sie nahmen sich in natura sehr anders aus, als in Öl; ein Goldton kam hinzu, den die braven Meister von der Düssel offenbar nicht „gekonnt“ hatten. Auch haben sie wohl nicht die rechte Kurage gehabt, die dazu gehört, einen solchen Sonnenuntergang zu malen. Bei ihnen sieht pomadig aus, was in Wahrheit Glut und höchster Überschwang der Farbe ist. Der Ort, von dem aus wir das himmlische Schauspiel genossen, heißt fonte del podicchio, was gewiß deutschen Ohren sehr fürnehm klingt, auf gut deutsch aber doch nur Lausebronn heißt.

Wir blieben gern länger in Florenz, denn längst noch haben wir nicht alles gesehen, aber die beginnende Hitze treibt uns fort. In unserm Laufwagen werden wir sie weniger spüren, als in dieser Stadt, die zwar zauberhaft schön, aber tief in einem Kessel liegt, von dem ich fürchte, daß er bald zu brodeln beginnen wird. – Einiges, das ich noch zu verzeichnen habe, wie unsern Besuch in der pia casa di lavoro spare ich mir für später auf. Ein paar Bilder aus diesem Wohltätigkeitsinstitute, das eine genaue Schilderung verdient, sind uns glücklich gelungen und haben den Abkonterfeiten das größte Vergnügen gemacht. Die Anstalt ist zugleich Waisenhaus, Kinderbewahranstalt, Arbeitshaus (ohne Strafcharakter) und Altersheim, die größte Italiens und durchaus verschieden von Instituten mit ähnlichen Zielen in Deutschland. Mitteilungen ihres verdienstvollen Direktors, des Cavaliere Ceroni, setzen mich in den Stand, darüber genaueres zusammenzustellen, doch muß ich mir dies für später aufsparen. Auch über die merkwürdigen Spiele aus der Renaissancezeit, die wir hier mit angesehen haben, wäre genaueres zu berichten, als im Rahmen eines Reisetagebuchs – und bei dieser Hitze möglich ist. Sie fanden auf dem schönen Platze vor er Kirche Santa Maria Novella statt und erfreuten sich des lebhaftesten Zulaufs aus allen Bevölkerungsschichten. Das eine ist ein Fußballspiel, das manches mit dem in England und jetzt auch bei uns üblichen gemeinsam hat. Es wurde von Studenten in Renaissancetracht gespielt. Die vielen Farben in der Kleidung nahmen sich recht lustig aus in der Bewegung dieses sehr stürmischen Spieles, doch muß gesagt werden, daß die moderne englische Sporttracht dafür zweckentsprechender und daher auch schöner wirkt, vor allem auch deshalb, weil sie den Körper des Spielenden besser zur Geltung und nicht das Gefühl des Bedauerns darüber aufkommen läßt, wie heiß ein solches Ballvergnügen sein mag. – Nur in der alten Tracht dagegen zu denken ist das Ritterspiel, das sich La giuostra del Saracino e dell’ Ariete, zu deutsch etwa „Sarrazen und Widderkopf“, nennt. Abgesehen von allerhand schönem Zeremoniell und prachtvollen Aufzügen mit Pauken und Trompeten besteht es darin, daß jeder der Ritter im Vorbeigalopp mit seiner Lanze einmal den Brustschild eines Sarrazenen und dann den an einem wagerechten Drehbaum befindlichen holzgeschnitzten Kopf eines Widders treffen muß, und zwar nicht bloß treffen schlechthin, sondern an einer bestimmten Stelle. Gelingt ihm dies nicht, trifft er den Schild falsch, so versetzt ihm der Sarrazen, der beweglich ist, einen Schlag auf den Rücken, und der Widderkopf bringt ihn in Gefahr, die Lanze zu verlieren. Dieses Spiel verlangt brillante Reiter und Meister in der Handhabung der Lanze. Die Offiziere, die es aufführten, machten ihre Sache ausnahmslos vorzüglich, und des Beifalls nahm kein Ende. Zum Schlusse umritten sie die Arena und warfen den Damen aus großen Körben Blumen zu, – was sich denn besonders hübsch ausnahm und ein echt florentinischer Spielschluß war. – Wir werden nun Florenz verlassen, meine Frau besonders ungern, weil es ihre Vaterstadt ist, und ich mit dem Bedauern, daß uns die Hitze den Genuß der Schönheiten, die die wunderbare Stadt beherbergt, allzusehr beeinträchtigt hat. Mich hat außerdem noch etwas gestört: Die abscheuliche Art, mit der hier Werke der Kunst durch Erzeugnisse der Klempnerei verunstaltet werden, sobald sie nackte männliche Figuren darstellen. Man sagt, daß dieser Feigenblätterunfug auf die Verschämlichkeit der Engländerinnen zurückgehe, die erklärt hätten, keinen Fuß in eine Stadt zu setzen, auf deren öffentlichen Plätzen unbekleidete männliche Statuen zu sehen seinen. Ich für meinen Teil finde es bedauerlich, daß man diese Gelegenheit, jene Engländerinnen auf gute Weise los zu werden, nicht benutzt hat, denn ihre Anwesenheit steigert durchaus nicht den Genuß der Kunstwerke, über die sie in unerträglich lauter Manier ihre oder Herrn Bädekers Meinungen zu äußern pflegen, wobei die Gurgellaute des Englischen das Ganze noch besonders verscheußlichen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil