Florenz, den 27. Mai 1902.

Zwei große Sträuße Rosen stehen vor mir, und darüber geht der Blick hinaus in einen schönwipfeligen Garten, hinter dem der graubraune Turm von Santa Croce aufragt. Auf dem Tische liegen Photographien nach Lorenzo Credi, Cosimo Roselli, Luca Signorelli, Sandro Botticelli, Bronzino, Michelangelo, Raphael, Mantegna, Donatello, Massaccio, Perugino, Andrea il Verrocchio, Filippino Lippi, Lionardo da Vinci, Ghirlandajo, Cimabue, Giorgione, und wenn ich die Augen schließe, sehe ich den Hof des Bargello vor mir und die Halle der Landsknechte, das Refektorium von San Marco und den Glockenturm des Giotto. Der David Donatellos im Schäferhute hat es mir angetan; ich bin in ihn verliebt; aber er darf nicht eifersüchtig sein, – ich habe noch eine ganze Reihe andrer Lieben. So ein paar primitive Madonnen und alle diese süßen Jungen Botticellis mit dem schmalrunden Kinn, so wie nicht minder der Page Tiepolos (den ich sonst nicht weiter mag) und der ruhende Hermaphrodit. Aber das sind längst nicht alle. Muß man sich nicht in die fornarina verlieben? Kann man etwas anderes als verliebt sein in den Engel der Verkündigung des frommen Bruder Angelico? Es ist ja lauter Liebe, was diese inbrünstigen Farben, diese edel holden Linien hier singen, und der Teufel des Hasses, der Schwere, des Zweifels wird hier mit der dreimal heiligen Kraft der Schönheit ausgetrieben. Anbetungswürdige Kunst von Florenz, ich habe dich nicht studiert und darf mich nicht erdreisten, zu sagen, daß ich in dich eingedrungen wäre, wie die weisen Männer, die ich hier mit Bleistift und Notizbuch brillenernst herumwandeln sehe, aber ein Hauch deines liebevollen, heiter bewegten Lebens ist in mich gedrungen, daß ich mich selber heiter bewegt und wie in einem Strome von gütigen Gewalten fühle.

Geh fröhlich in den Tag!
Laß deinen Gram beiseit!
Wie winzig ist dein Weh!
Die Welt, wie ist sie weit!


Das höchste Gefühl vermag nur zu stammeln, und wo such die Schönheit eines aus der begnadeten Liebe eines wahren Künstlers entstandenen Werkes mit der liebend hingegebenen Empfänglichkeit eines Betrachters paart, der mit der gleichen Liebe genießt, mit der jener schuf, da entsteht eine Wonne der Empfängnis, die nicht imstande ist, über sich selbst Rechenschaft zu geben. Kritische Gelehrsamkeit in allen Ehren! Sie möge ihre Genugtuung finden im Zensurenerteilen und Analysieren, – mich freut es, daß mir so selig unkritisch zumute ist, wie es nur einem Verliebten zumute sein kann, der nicht sagt: Dies und das und so und so, sondern der über das Ganze außer sich ist und auch kein Muttermälchen für alle Schätze Himmels und der Erde hergeben möchte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil