An Herrn Izsó Hajós in Nagy Banom. Florenz, den 25. Mai 1902 im Hotel Paoli.

LIEBER FREUND! Wenn irgend eine Landschaft Italiens eine, wenn auch nur entfernte, Ähnlichkeit mit eurem ungarischen Flachlande hat, so ist es das Stück Romagna, durch das uns der Weg von Rimini nach Faenza führte. Im ganzen ist sie großartig, an Reizen des Einzelnen arm. Sofort ersichtlich ist, daß der kleinbäuerliche Landwirtschaftsbetrieb gegenüber dem Großgrundbesitz zurücktritt. Die Dörfer sind größer, aber ärmlicher, Einzelgüter seltener; zuweilen erscheinen große, aber nüchterne Herrenhäuser mit weiten, doch reizlosen Gärten; die Felder sind ausgedehnter und weniger mit Bäumen und Reben durchsetzt; das Vieh ist auffallend schön und groß; die Bevölkerung macht einen ungemütlichen, ja bösartigen Eindruck, und ich bin geneigt, zu glauben, daß ihr nicht besonders angenehmer Ruf berechtigt ist. In den Ortschaften findet man häufig in Schablonenschrift die Worte: evviva il sozialismo, während früher loyalere Aufschriften von der Unita Italia und dem Rè handelten. Die Straßen waren aber auch hier, wie bisher überall in Italien, brillant, wahre Laufwagenbahnen, breit, glatt, tadellos gehalten.

Wir machten schon in Faenza halt und hatten es nicht zu bereuen. Von dieser Stadt stammt bekanntlich der Ausdruck Fayence für künstlerisch geschmücktes Steingut, und altes Steingut von Faenza ist heute unter Sammlern eine große Kostbarkeit. In Faenza selbst ist davon nur noch wenig zu sehen, und wir mußten uns einen Begriff von dem Reizt dieser alten Gefäße aus einem schönen Werke des Professors Federigo Argnani zu verschaffen suchen, der persönlich die Liebenswürdigkeit hatte, uns in der Pinakothek und dem Museo civico, die beide seiner Leitung unterstehen, herum zu führen. Ein paar schöne Stücke sind wohl vorhanden, die schönsten aber sind ins Ausland gegangen, und Faenza muß sich damit begnügen, den besten Kenner dieses Zweiges der angewandten Kunst, eben den alten Cavaliere Argnani, zu besitzen, der das schönste, was davon übrig geblieben ist, mit äußerster Peinlichkeit und dem feinsten Sinne für alle Stilunterschiede persönlich abbildet und in seinen Sammelwerken vereinigt, die von der Blüte der Steingutkunst des alten Faenza einen großen Begriff geben. Auch heute bestehen noch Manufakturen in Faenza, und wir haben die größte besucht, aber die Kunst ist zur Industrie geworden. Doch ist es immerhin eine Industrie von künstlerischem Anstrich insoferne, als die Herstellung der Töpfereien in den alten schönen Formen und durch die Hand, nicht durch Maschinen, geschieht. Es werden in der Hautsache Wasser-, Öl-, Weingefäße in den verschiedensten Größen, auch Tassen, Schüsseln, Becken gefertigt, die, in der Form alle altertümlich, je nach dem Geschmack der Gegend, wohin sie ausgeführt werden, ihren besonderen, immer primitiven Schmuck erhalten. Die Formung geschieht mit der Hand auf der Drehscheibe, und man muß über die Sicherheit staunen, mit der die Arbeiter in unglaublicher Schnelligkeit die verschiedenen Formen entstehen lassen. Auch die Ornamente werden mit der Hand aufgetragen, und trotz dieser nach deutschen Begriffen teuren Herstellungsart sind die Preise der einzelnen Gefäße unglaublich billig. Große Vasen von schönster, direkt antik anmutender Form, grün oder blau glasiert und mit zwar primitiven, aber geschmackvollen Mustern geschmückt, sind für ein paar Lire käuflich. Sie wären in Deutschland nicht für das Fünffache des Preises herzustellen. Aber nur die „gemeine Ware“ ist gut, die keine künstlerischen Prätensionen macht. Was sich als Kunst gibt, ist schlechter „Jugendstil“ und ein schmerzlicher Anblick, um so schmerzlicher, wenn man vorher die Abbildungen alter Fayencen gesehen hat. Selbst die Ausschußscherben im Museo civico sind erfreulicher anzusehen. – Die Pinakothek von Faenza wird wohl nur selten besucht, und doch besitzt sie einige sehr interessante Stücke und eine große Kostbarkeit, um derentwillen allein es sich verlohnte, in die Stadt des alten Steingutes zu reisen. Man lernt hier mit vielem Vergnügen ein paar alte Faentiner Meister kennen, die der Kunstfreund, ist er ihnen einmal begegnet, sicher nicht mehr vergißt, wenn sie auch sonst nur den Kunstgelehrten bekannt sein mögen. Auf mich machten den stärksten Eindruck Leonardo Scaletti und Marco Melozzo, an die ich mich auch nach den Genüssen von Florenz dankbarst erinnere. Aber die schönste Erinnerung bleibt der junge Johannes Donatellos, ein unsagbar köstliches Meisterwerk, die schönste Knabenbüste aus der christlichen Zeit, die ich noch gesehen habe. Es ist schwer, sich von ihrem Anblick zu trennen, und es müßte eine besonders begnadete Stunde sein, in der man es vermöchte, mit Worten den Eindruck auch nur annähernd zu schildern, den sie in ihrer zauberhaften, innigen und frischen Holdseligkeit macht, – ein wahres Wunder des Meißels. Professor Argnani erzählte uns, daß Geheimrat Bode sie um 100 000 Franken für das alte Museum in Berlin erwerben wollte, und es ist gewiß, daß sie an keinen Ort besser hinpaßt, als an diese Stelle, die schon so viele Werke ersten Ranges beherbergt, aber keines, das imstande wäre, dieses unvergleichliche Stück in Schatten zu stellen. Auch der wundervolle junge Johannes Donatellos, den Berlin schon besitzt, steht nicht darüber, ja ich möchte glauben, daß, so herrlich er ist, er vor diesem Werke zurücktreten muß. Doch mag es sein, daß ich, unter dem frischeren Eindruck der Faentiner Büste stehend, nicht imstande bin, objektiv zu vergleichen. Auf alle Fälle ist es sehr zu bedauern, daß es Herrn Direktor Bode nicht gelungen ist, das entzückende Werk für Berlin zu erhalten. Zwar hält er es jetzt vielleicht nicht mehr für einen Donatello, wie das bei Kunstgelehrten so kommt, wenn die Trauben allzu hoch hängen, als daß man sie noch süß heißen könnte, denn des Menschen Herz ist trostbedürftig, aber trotzdem, lieber Izsó, wenn Du wieder einmal nach Florenz kommst, darfst Du es nicht verabsäumen, den Abstecher nach Faenza zum Knaben Johannes zu machen. – Als Stadt bietet der ehemals bedeutende Ort allerdings nicht eben viel. Dafür ist das Stück Apennin zwischen Florenz und Faenza umso interessanter, – zumal wenn man es nicht auf der Eisenbahn durchtunnelt, sondern im Automobil durchfährt. Der Motor bekommt dabei freilich rechtschaffen zu tun, aber der unsre machte, wie immer, seine Sache gut. Nicht so die Pneumatiks, die uns dreimal zwangen, mitten in der Fahrt zu pausieren. Es waren die Veranlassung dazu nicht Schäden von Außen, keine Nägel, Scherben oder Steine, sondern die Luftschläuche selber erwiesen sich als zu schwach, weil man uns leider nicht die stärksten mitgegeben hatte, als welche allein imstande gewesen wären, auf die Dauer auszuhalten. In diesen Dingen bei einer solchen Reise sparen zu wollen, ist verfehlt. Die Pausen selber sind nicht so unangenehm, wie das Gefühl der Unsicherheit, das sich einstellt, sobald man die Erfahrung macht, unzureichendes Material zu haben. – Die Entfernung von Faenza nach Florenz beträgt 96 Kilometer. Wir brauchten dazu infolge der unfreiwilligen Pausen und wegen der großen Schwierigkeiten, die das Gelände einem verhältnismäßig so schwachen Motor wie dem unseren bietet, fast zehn Stunden. Hätten wir die Gefälle schnell nehmen wollen, so würden wir wesentlich schneller zum Ziel gekommen sein, aber für das Reisen im Laufwagen gilt noch mehr als sonst das Wort: chi va piano, va sano, und die Abhänge des Apennin haben ein allzufatales Aussehen, als daß man sich an ihnen gerne der Gefahr eines Absturzes aussetzte. So opferten wir also lieber ein paar Bremsleder und nahmen die außerordentlich starken Gefälle langsam. Bei den Steigungen blieb uns von vornherein nichts andres übrig. Die Straße steigt von Faenza bis zum Colle di Casaglia fast unablässig; das ist eine Strecke von etwa 50 Kilometern, auf der man von 36 Metern Höhe auf 932 Meter Höhe gelangt. Nun fällt die Straße bis Borgo S. Lorenzo außerordentlich steil innerhalb einer Strecke von noch nicht 20 Kilometern bis auf 187 Meter, steigt dann wieder 13 Kilometer lang bis auf 520 Meter, um dann innerhalb 12 Kilometer bis auf 55 Meter zu fallen, bei einem ganz außerordentlich starken Anfangsgefälle, das sich innerhalb vier Kilometern von 520 auf 175 Meter senkt. Es liegt auf der Hand, daß man ein solche Gelände mit einem achtpferdigen Motor, der einen großen Wagen mit drei Insassen, einem großen und fünf kleinen Koffern fortzubewegen hat, nicht prestissimo durcheilen kann, daß man sich vielmehr zu einem ausgesprochenen adagio bequemen muß. Zum Glück haben wir längst keine Eisenbahnnerven mehr und sind zu solchen Freunden des Bummelfahrens geworden, daß uns auch dieses breite adagio ein sehr angenehmes Tempo war, das wir ausgiebig dazu benutzten, die sehr merkwürdige Landschaft aufmerksam zu betrachten. Diese Landschaft bekommt sehr bald hinter Faenza ein von der vorigen sehr verschiedenes Aussehen. Die Apenninschwelle zwischen der Emilia und Toskana ist ein Stück Gebirgsland von fast unheimlicher Öde. Nichts erinnert an Gebirge von gleicher Höhe in Deutschland. Man könnte glauben, daß man sich mindestens 600 Meter höher befindet, als es in Wirklichkeit der Fall ist, so leer und kahl ist es hier oben. Ganz wenige, höchst kümmerliche Ortschaften (bis auf Marradi, das sich stattlich macht und sehr malerische Blicke bietet), und nicht die Spur von Wald, – eine Gebirgswelle hinter der andern aus einem grauen schieferigen Geschiebe, das nur stellenweise einen dünnen grünen Überzug hat. Deutlich markiert sich überall das gewundene Band der schön gemauerten Straße, die oben hinüber führt, während sich die Eisenbahn unten irgendwo durch das Gebirge wühlt. Wir sind, außer bei den Ortschaften, keinem Menschen begegnet, – also auch keinem Banditen, deren es hier noch eine gute Anzahl gibt. Erst Tags vorher war, wie wir in Florenz erfuhren, einer von zwei verkleideten Karabinieris festgenommen worden, auf die er einen Anfall versucht hatte.


Auf der toskanischen Seite verändert sich das Bild bald. Maulbeerbaumanlagen und schöne Steineichen treten am meisten hervor, und der erste Blick nach Toskana ist wahrhaft überwältigend. Das ist die ideale Landschaft kurz und gut; die Landschaft, der schlechterdings nichts fehlt. Im ersten Augenblick ist man fast benommen von dieser Schönheit, und als ich nach Worten suchte, kamen mir als die einzigen die Goethes entgegen: Die Augen gingen ihm über. Es ist ein Rausch des Gesichts, Überschwang und Aufschwung; man möchte die Arme ausbreiten und vor dieser Fülle einer schön verschwendenden Natur niedersinken wie der junge Mann auf dem Klingerschen Blatte an die Schönheit. Hier geziemt sich Pathos, hier wird der Name Gottes nicht eitel genannt, hier heißt sehen beten. Noch niemals habe ich das Gefühl gehabt, das mich hier übermannte und das sich laut in den Worten aussprach: Wenn ich hier geboren wäre! Es ist wohl dasselbe Gefühl, das unsre Vorfahren so oft über die Alpen getrieben hat.

Und warst du lange, Herz,
In Grau und Gram verloren,
Hier gehst du selig auf
Vor Paradieses Toren.
Gottloses Herz sei froh,
Die Götter kehren ein,
Ein Tempel wirst du nun
Und lauter Freude sein.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil