Spezia, den 7. Juli, im Malteserkreuz.

Wir sind heute nicht bis Genua gekommen, weil wir erst um 4 Uhr von Pisa weggefahren sind, das wir uns doch etwas genauer ansehen wollten. Die Stadt hat für Reisende einen großen Vorteil: alle Sehenswürdigkeiten liegen auf einem Platze. Dieser Platz ist aber dadurch einer der eindrucksvollsten, den man sich nur denken kann. Zuerst lenkt natürlich der schiefe Turm den Blick auf sich. In der Tat: er ist sehr schief, bedenklich schief, absolut schief, so schief, als ein Turm nur sein kann, wenn er nicht direkt die Absicht hat, umzufallen. Und man wundert sich, daß er nicht umfällt. Mir war es direkt unangenehm, hinaufzusteigen, und der Hinunterblick war mir sehr fatal. Türme haben die Pflicht, gerade zu sein, und ich kann durchaus nicht glauben, daß die Baumeister von Anfang an die Absicht gehabt haben, diesen Turm schief aufzuführen, denn diese Absicht wäre der Beweis einer so unkünstlerischen Originalitätswut, wie wir sie jenen gesund künstlerischen Zeiten nicht zutrauen können. – Sehr schön, außen und innen, ist der Dom. Ein riesiger Christus in Mosaik wirkt gewaltig. Die berühmte Lampe, deren Schwingungen Galilei auf das Studium des Pendels geführt haben sollen, ist jetzt elektrisch montiert, was sich bei einer Galileilampe wohl verstehen läßt, wenn es ihr auch nicht eben gut steht. – Das Schönste an Pisa ist aber der alte Campo santo, wo die Fresken der alten Toskaner, Benozzo Gozzoli voran, keinen Gedanken an den Tod aufkommen lassen, wenn sich auch einige bemühen, dessen Schrecken sehr anschaulich darzustellen. An den Novellen, die Benozzo Gozzoli aus dem alten Testament heraus und in das Gewand seiner Zeit hineingedichtet hat, kann man sich kaum satt sehen. Man möchte sie stehenden Fußes in Verse bringen, die das alte Testament gänzlich beiseite lassen könnten, da die biblischen Geschichten diesem prächtigen Fabulisten nur als Unterlage für die köstlichsten Einfälle und entzückendsten Gestalten gedient haben. Was für Kerle diese alten Maler-Dichter doch waren, was für frohmütige freie Mannsleute, die sich den Teufel um Heiligkeit und Tradition scheerten, wenn es sie juckte, den Schalk loszulassen, der ihnen im Nacken saß. Kennen Sie la vergognosa die Pisa, die geschämige Pisanerin? Das ist eine schöne Dame, die zufällig, d. h. weil es Meister Benozzo so gefiel, dabei zugegen war, wie der alte Noah, der bekanntlich der beste Bruder auch nicht war, öffentliches Ärgernis gab. Aoh shoking! sagt die schöne Dame, wie sie den aufgedeckten alten Herrn liegen sieht, und schlägt die Hand vors Gesicht, – aber mit auseinandergespreitzten Fingern.

Bald hinter Pisa durften wir uns am Anblick eines ganz wundervollen Pinienwaldes erfreuen, des schönsten, der uns bisher begegnet ist. Im übrigen wechselten auf dieser Fahrt schönste Natur mit Strecken, die durch Industrie um ihre Schönheit gebracht sind. Auch lernten wir eine neue Art Staub kennen: den Marmorstaub. Wir kamen hier durch das Gebiet des berühmten Steines von Carrara, wenngleich wir die eigentlichen großen Brüche nicht passierten. Aber alles steht hier im Zeichen dieses Marmors. Überall Steinschneidereien, und auf kolossalen Wagen werden riesige Blöcke von Ochsenviergespannen fortbewegt. Überall aber auch liegt der Staub dieses Steines, von dem die ganze Landschaft wie überzogen erscheint. Selbst die Schweine, deren man hier ganzen Herden begegnet, haben sich dieser Lokalfarbe angepaßt. (Im allgemeinen haben wir die Bemerkung gemacht, daß, wie das deutsche Schwein blond, so das italienische schwarz ist.) – Kurz vor Spezia wird die Landschaft wieder sehr schön: üppig bewachsene grüne Hügel, im Hintergrund hohe Berge. – Nun sitzen wir hier am Hauptkriegshafen Italiens, den wir ganz übersehen können, obwohl es Nacht ist, denn von Zeit zu Zeit wird er durch Scheinwerfer erleuchtet. Spezia selbst macht einen merkwürdig „ordentlichen“ Eindruck. Das kommt wohl daher, weil es der Sitz vieler Behörden ist.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil