An Professor Ludwig Thuille in München. Mittenwald an der Isar, den 4. Mai

MEIN LIEBER LUDWIG! Treu einem Schwur, dem goldenen Munde des Morgens gelobt, hatten wir beschlossen, heute früh schon um acht Uhr abzufahren. Es ist aber doch fast halb neun geworden, maßen die Rechnung im Bayrischen Hof sehr lang und nicht minder endlos die Kette der Trinkgeldhände war, an der entlang wir uns zu unserem Wagen zu begeben hatten. Diese Abschiedsguirlande wird heute keinem erspart, der in einem Hotel von Rang abgestiegen ist. Nur Amerikaner und Engländer sind mutig genug, mit hochgehobenen Nasen diesen Händen vorüberzuschreiten, ohne in jede etwas klimpern zu lassen, wobei sie wie folgt denken: Wir sind hier schon von den beiden schönen Herren Direktoren um Gehrock und Zylinder genugsam geschröpft worden und finden, daß bei solchen Preisen die Direktion ihre Angestellten selber bezahlen könnte. Wir empfindsamen Deutschen aber denken: Die armen Leute! Würden sie wohl die Hände herhalten, wenn sie ordentlich bezahlt wären? Eine Schande ist es ja, daß sie auf unsern guten Willen angewiesen sind, aber es ist halt mal so. Und so lassen wirs klimpern, so gut wir können, und meistens mehr, als vernünftig wäre. Seine Magnifizenz, der Herr Portier mit der Goldbortenmütze, dieses massige Torornament, mit dem wir so gut wie nichts zu tun hatten, erhält, einer alten Convenienz gemäß, am meisten, wofür wir die Ehre und das Vergnügen haben, von ihm feierlich salutiert zu werden. Die Hausdiener, die eigentlich viel mehr bekommen sollten, erhalten, gemäß dem sozialen Gesetze, daß man die Leute, die weniger repräsentieren, als arbeiten, auch weniger bezahlt, weniger. Desgleichen die Zimmermädchen (die man übrigens besser Zimmermütter nennen sollte, da es Exemplare unter 40 Jahren überhaupt nicht mehr gibt, – offenbar aus Gründen der öffentlichen Moral). Die Zimmerkellner sind auch da, und man bestätigt seine Freude, sie zum Schlusse kennen lernen zu dürfen, gleichfalls durch ein „Reichnis“. Die Liftboys und Pagen mit ihren knöpfereichen Jacken und koketten Mützen sind zwar noch sehr jung, aber die Trinkgeldreife haben auch sie erreicht, und wir würden ihr Kindergemüt verbittern, wollten wir achtlos an ihnen vorüberschreiten. Der Postbesorger und der Telephonmann, der Droschkenherbeipfeifer und der Jüngling, der uns mit dem riesigen Regenschirm von der Schwelle des Hotels zum Trittbrett der Droschke begleitet hat, wollen auch nicht übersehen sein. Wer ein Herz im Busen hat, tut Geld aus seinem Beutel. Im Grunde aber findet man doch manchmal, daß die herzlosen Engländer und Amerikaner das bessere Teil erwählt haben, und auf alle Fälle gelobt man sich, künftig Hotels aufzusuchen, die nicht zwei wunderschön von englischen Schneidern bediente Herren Direktoren, sondern einen ganz gewöhnlichen Wirt haben, so einen braven dicken Herrn, der zum Schluß unsre Hand ergreift und „glückliche Reise“ wünscht.

– – In Mittenwald, wo ich dies schreibe, gibt es noch einen Wirt, aber er hat auch einen Titel. Er ist großherzoglich luxemburgischer Hoflieferant. Wie das? Weil der alte Luxemburger die hiesigen enormen Jagdgebiete gepachtet hat und alljährlich im Gasthofe zur Post in Mittenwald residiert. Auch jetzt ist er hier, und sein oberbayrischer Hoftraiteur eilt nervös Trepp auf, Trepp ab, ihm persönlich das Abendessen zu servieren. Nachts um zwei Uhr, so hör ich mit Staunen, begibt sich die königliche Hoheit auf den Anstand, um punkt sechs Uhr früh wieder im Hause zu erscheinen. Dabei gießt es, als sollte die Isar wieder einmal so voll und wild werden wie vor zwei Jahren, als sie bei euch ein paar Brücken umriß. Vermutlich ist das Jagen im Regen so angenehm, wie das Laufwagenfahren bei demselben Wetter. Das ist nämlich wirklich sehr nett, wenn man nur, wie wir, eine gute Wagenplane hat. Wir sind von 8 Uhr zwanzig Minuten bis genau zwanzig Minuten nach vier Uhr fortwährend im Regen gefahren, abgerechnet eine Stunde Aufenthalt im Postwirtshause am Walchensee, wo wir zu Mittag aßen, und wir sind gar nicht böse darüber. Besonders schön war die Fahrt über den Kesselberg auf der prächtigen neuen Straße, die auf einer Strecke von fünf und einem halben Kilometer 260 Meter Höhenunterschied überwindet, bis sie mit 861 Meter Höhe ihren höchsten Punkt erreicht. Unser Adlerwagen machte das mit, ohne daß unser Führer öfter, als zwei, drei Mal genötigt gewesen wäre, die kleinste Übersetzung einzuschalten. Man ist wie mit einem Schlage mitten im Hochgebirge, das auch dann seinen großen Reiz hat, wenn die hohen Herrschaften ihr Haupt in Wolken bergen. Und immer dieser herrliche Hochwald! Es ist ganz köstlich. Der Walchensee ist von einer ernsten, fast düsteren Schönheit, ein rechter Alpeneinsiedelsee, abgeschlossen von der Welt durch Fels und Wald. Während draußen alles das passierte, was wir Weltgeschichte nennen, berichtet die Chronik über diesen versteckten Winkel nichts weiter als dies: daß einmal, im 14. Jahrhundert durch einen Abt von Benediktbeuren 300 Renken aus dem Kochelsee in den Walchensee eingesetzt wurden, und im 16. Jahrhundert 600 Seiblinge. Nur von einer Erscheinung in der Fremde hat dieses trotzige Gewässer Notiz genommen: von dem Erdbeben in Lissabon. Am selben Tag und zur selben Stunde, wo sich dieses begab, ist er in wilde Aufregung geraten, so sehr, daß alle Kähne an seinen Ufern losgerissen wurden. Also berichtet „allen Herren Passagiers“ ein schön geschriebener Chronikauszug vom Ende des 18. Jahrhunderts, der im Postgasthause an der Wand hängt, und den vielleicht auch Goethe gelesen hat, als er im September 1786 durch Walchensee kam. Das Haus, in dem sich früher die Post von Mittenwald befand, zeigt eine Tafel zur Erinnerung daran, daß in ihm der große Wolfgang damals übernachtet hat. Wie zu jener Zeit, so blüht auch jetzt noch hier der Instrumentenbau; gleich beim Eingang in den Marktflecken fällt die Geigenbauschule auf.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil