An Detlev Freiherrn von Liliencron in Alt-Rahlstädt bei Hamburg. Terracina, den 14. Juni 1902.

MEIN LIEBER DETLEV! Wenn ich es unternehme, Dir in raschen, prima vista niedergelegten Zeilen einen Teil dieser von Tag zu Tag herrlicher werdenden Reise zu erzählen, so weiß ich wohl, daß ich Dir nichts von dieser Schönheit in die Seele geben kann, das nicht viel mächtiger schon in ihr lebte von Gnaden Deiner Phantasie, die sich schon einmal „vom Triberg nach Palermo“ geschwungen hat. (Verzeih mir die „Gnaden der Phantasie“ und das „geschwungen“. Ich weiß, Du liebst solche Worte nicht, aber in diesen Gegenden, wo alles großartig ist, kommen sie einem von selber. Das geht so weit, daß man hier am liebsten lateinisch schriebe, oder wenigstens italienisch, – wenn man’s nur könnte! Oder in Versen. Aber ach! Ich bin zu klein, als daß ich mich an diese Schönheiten schnellversfüßig heranzudichten getrauen dürfte. Mehr als „Notizen“ darfst Du Dir nicht erwarten.)

Der heutige Tag bescherte uns vieles und höchst verschiedenartiges: das albaner Gebirge, die pontinischen Sümpfe und das tyrrhenische Meer. Der erste Teil des Weges führte uns über Marino, Castel Gandolfo, Albano, Genzano, Cività Lavinia nach Velletri, – ein ganz herrlicher Weg mit allen Schönheiten südlich üppigen Mittelgebirges. Einem Baumwuchs wie dem dieser Landschaft sind wir noch nicht begegnet. Hier gedeiht eine Ölbaumart zu der Höhe und Stärke von Eichen, und die Eichen selbst sind, Goethisch zu reden, aufgetürmte Riesen. Aber so schön dieser Weg ist, so unsicher scheint er zu sein. Nirgendwo haben wir bisher eine solche Menge von Gensdarmen beobachtet. Nicht allein, daß wir sie auf der Straße patrouillieren sahen, sie tauchten auch bei unserem Herannahen zuweilen plötzlich aus dem Gebüsch auf, und hier wird uns erzählt, daß uns außer denen, die wir an der Uniform erkennen konnten, mindestens ebensoviele in Zivil begegnet sein mögen. Der Grund dafür mag einmal darin liegen, daß diese Straße von Alters her von Briganten bevorzugt worden ist (wie denn auch der Anfall auf den Herzog von Meinigen vor einigen Jahren sich hier abgespielt hat), dann aber mag sich die Fülle von Sicherheitsorganen auch daraus erklären, daß der König seine Automobilfahrten gern auch bis auf diese Gegend ausdehnt. Es kann auch kaum eine geben, die mehr zu Automobilfahrten verlockt. Zwar führen die Straßen immer auf und ab, aber nie in Steigungen, die zu einem langsamen Tempo zwingen, und dabei sind sie vorzüglich gehalten und sehr breit. Unser Adlerwagen, der schon schlimmeres hinter sich hat, rollte im schönsten Rhythmus glatt dahin, daß das Fahren allein schon eine Lust war. – Wie die Landschaft von außerordentlicher Schönheit ist, so sind die Ortschaften überaus interessant durch ihre Lage und Bauart, und unter den Einwohnern sieht man noch viele in alter Tracht, freilich auch eine auffällig große Anzahl von Bettlern aller Art, alte und junge, verkrüppelte und gerade gewachsene, blinde, taube lahme, – man möchte meinen, daß hier die Bettler-Republik liegt. Malerisch genommen beeinträchtigen diese Leute die Landschaft durchaus nicht, denn ihre Zerlumptheit hat Tradition und Stil, und sie wissen sich mit einem gewissen feierlichen Anstand zu bewegen. Diese Bewegungen und jede ihrer Gesten sind in ihrer Art schön, weil sie sehr ausdrucksvoll sind, und dem ästhetischen Genuß daran darf man sich ohne viel sentimentale Gewissensbisse hingeben, weil das Ganze in der Tat eine Art Schauspiel ist, und man wirklich bejammernswertes Elend, dessen Anblick wehtut, kaum darunter gewahrt. – Das Betteln ist hier ein bürgerlicher Beruf und wird als Kunst betrieben. „Gelt, das ist ein ausgezeichneter Bettler?!“ sagte uns ein Mann, der beobachtet hatte, wie wir vor einem malerisch Zerlumpten gehalten hatten, um ihm ein paar Soldi zu geben. „Dieser Alte wird von allen Fremden bewundert. Und mit Recht. Keiner hat so gute Gesten wie er beim Betteln. Wir selber sehen es gern.“ Das ist also eine Art Theater, und man sieht wieder einmal, wie weit uns die Südländer in der Kunst des Lebens überlegen sind. Selbst das Elend wissen sie zu stilisieren und zu einem Ornament des Lebens zu machen.


Der Albaner See, dessen man sich aus Plutarchs Lebensbeschreibung des Camillus erinnert, ist ein Gewässer von düsterer Schönheit; hoch über ihm thront Castel Gandolfo, eine päpstliche Sommerresidenz und uns Deutschen besonders bekannt, weil Goethe hier seine schöne Mailänderin kennen gelernt hat. In diesen Gegenden ist er viel mit Skizzenbuch und Zeichenstift herumgestrichen. Seine vornehme Lebenskunst geht freilich noch über die italienische, denn in ihr war noch die deutsche Zutat: der Erkenntnistrieb. Wo immer er war, genoß er nicht nur alles, was den Sinnen freundlich ist, sondern führte auch alles dem Sinne seines Lebens zu, immer bewußt an sich selber arbeitend als der gewaltige Selbstgestalter und Künstler mit allen Mitteln. Für uns Deutsche ist Italien auch deshalb das ergiebigste Reiseland, weil hier mehr als sonst unsre Gedanken immer wieder zu Goethe geführt werden. Und wohin ließen sich die Gedanken eines Deutschen lieber führen als zu Goethe? Wo fänden sie mehr, das ihnen dienlich ist?

Selbst, als wir in Velletri genötigt waren, Benzin zu kaufen, mußte ich an Goethe denken, nämlich an sein Distichon, das von der deutschen Redlichkeit handelt als von einer Eigenschaft, die man hier in allen Winkeln vergebens sucht. Der Herr Apotheker nahm uns mehr als das Doppelte dessen ab, was er füglich als Mann von Redlichkeit hätte verlangen dürfen. Hoffentlich wird der sehr rührige Touring-Club italiano bald überall seine Benzinniederlagen errichtet haben, die diese Essenz zu dem Einheitspreis von einer Lira für den Liter abgeben, – was immer noch mehr als das in Deutschland und der Schweiz geforderte ist.

In Verlegenheit um Benzin sind wir übrigens bisher nirgends gekommen; wir fanden überall, was wir jeweilig brauchten, zehn oder auch zwanzig Liter, und immer von der Beschaffenheit, wie sie der Motor verlangt; aber fast durchweg benutzten die Herrn Apotheker (denn man findet das Benzin hier nur in den Apotheken, die überhaupt alles mögliche feilhalten) die günstige Gelegenheit, uns zu schrauben. Ein Grund mehr dafür, daß man jedes Automobil mit einem wirklich genügend großen Benzinbehälter versehen sollte, damit man sich stets mit dem ganzen Tagesbedarf ausrüsten kann, auch wenn man sich mehr als hundert Kilometer zu durchfahren vornimmt. Denn, ist man während der Fahrt genötigt, Benzin zu kaufen, so ist man dem Verkäufer und seinen Forderungen auf Gnade und Ungnade überliefert, und diese Herrschaften haben genügend Schlauheit, dies zu merken, und ebensoviel Unverfrorenheit, es in zuweilen unverschämter Weise auszunutzen.

Von Velletri an beginnt die Ebene, und von Cisterna di Romana an rechnet man den Beginn des Gebietes der Malaria, während die pontinischen Sümpfe erst hinter Torre tre ponti beginnen. Die Malaria ist bekanntlich keine scherzhafte, sondern eine recht unangenehme Sache, und wir gedachten keineswegs, sie uns anzueignen. Meister Riegel, unser Führer, der offenbar der Miasmen-Theorie huldigt, d. h. glaubt, daß man den Keim der Krankheit einatmen könne, hat standhaft die fünfzig Kilometer hindurch sich Nase und Mund zugehalten, sodaß ich annehmen muß, er habe durch die Ohren geatmet; wir dagegen, darüber belehrt, daß nach dem heutigen Stande der medizinischen Wissenschaft die Übertragung der Krankheit nur durch den Stich einer Mücke (Zanzara) geschieht, die erst nach Sonnenuntergang ihr fatales Geschäft beginnt, haben nur darnach getrachtet, daß wir vor Sonnenuntergang aus den Sümpfen herauskommen möchten, und haben uns im übrigen nichts anfechten lassen.

Die Pontinischen Sümpfe haben uns sogar sehr gut gefallen. Erstlich aus dem Grunde, der sie jedem Laufwagenreisenden sympathisch erscheinen lassen muß: weil sie in ihrer ganzen Länge von einer schnurgeraden, ausgezeichnet glatten und fast völlig verkehrslosen Straße durchzogen sind. Hier sollte man die Automobilwettfahrten veranstalten! Die Gefahr, Menschen zu beschädigen, ist sehr gering, denn das ganze große Gebiet wird von kaum hundert Menschen bewohnt, und die Büffel, die in den Sumpfwiesen weiden, sind durch die breiten Kanäle vorm Überfahrenwerden geschützt. Aber außer dieser Eigenschaft, die sie dem Automobilfahrer besonders schätzenswert macht, besitzen die pontinischen Sümpfe noch andere Reize. Schön wie das Albanergebirge kann eine Landschaft freilich nicht sein, die eben ist, wie die Fläche eines Billards, aber häßlich ist sie darum noch nicht. Einmal hat man zu seiner Linken immer den schönen grün-grauen Gebirgszug mit den braun-grauen Städten und Dörfern daran, und dann besitzt der außerordentlich üppige Pflanzenwuchs des Sumpflandes selber Farben, die das Auge immer aufs neue entzücken. Auch ragen, aus festerem Boden, hier und da wundervoll große Bäume auf, und ziemlich weite Strecken in der Nähe der Straße sind bereits bebaut. Das Land vor dem eigentlichen Sumpfgebiete scheint sogar ausnehmend fruchtbar zu sein und wird eifrig bearbeitet. Wir hatten Gelegenheit, die Arbeit des Mähens zu beobachten, die von einem Trupp halbwüchsiger Jungen und Mädchen, etwa zwölf, geschah, zu deren Beaufsichtigung drei Erwachsene zur Stelle waren, eine Frau, die Besitzerin, und zwei Männer. Diese Männer waren mit Stöcken und einer Flinte ausgerüstet. Wir erkundigten uns, ob sie vielleicht gleichzeitig Jäger seien. „O nein,“ war die Antwort, „mit unsern Flinten halten wir da die Arbeiter in Respekt, für den Fall, daß die Stöcke nicht genügen sollten; wir schießen zwar nicht, aber es ist immerhin gut, daß die Leute glaube, wir könnten schießen.“ Woraus zu sehen, daß, wenn auch die Sklaverei längst aufgehoben ist, es hier doch an äußeren Überbleibseln von ihr nicht fehlt. – Am Gebirge bemerkt man neu aufgeforstete Strecken, ein Zeichen für die wachsende Einsicht, wie nötig es ist, der weiteren Versumpfung Einhalt zu tun. An eine Entwässerung der Sümpfe denken die Italiener freilich nicht. Das überlassen sie den – Deutschen. Ein freundlicher Zufall schickte es, daß wir hier die Bekanntschaft des Mannes machten, der es sich zur Aufgabe gesetzt hat, die Austrocknung der pontinischen Sümpfe herbeizuführen. Es ist (nicht bloß das Monokle zeigt es an, sondern die ganze Haltung) ein ehemaliger preußischer Offizier, der Major a. D. Fedor Maria von Donat. Sein Projekt ist nicht etwa der Plan eines Träumers, sondern eine auf Grund eingehendsten Studiums und Nachdenkens gründlich besorgte Arbeit, die nicht bloß die Wahrscheinlichkeit, sondern die Gewähr dafür bietet, daß, wird nach ihr tatkräftig und tüchtig verfahren, auf diese Weise das große Werk der Trockenlegung der pontinischen Sümpfe ausgeführt werden kann. Auf Grund dieses Planes, dessen Hauptgesichtspunkte schon auf den ersten Blick einleuchten, hat sich eine deutsche Gesellschaft gegründet, die bereit ist, ihn auszuführen, sobald die Besitzer der versumpften Strecken auf die sehr günstigen Bedingungen eingegangen sein werden, die sie ihnen angeboten hat. Dieser Gesellschaft gehören u. a. der Graf Hutten-Szapsky, der Graf Douglas, die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft an. Man hat die Absicht, die toskanische Wirtschaftsweise der Halb-Bauern einzuführen, die ich bei Gelegenheit der Schilderung unsres Besuches in Bagnano in den wesentlichsten Punkten beschrieben habe. Nachdem sich die hauptsächlich in Betracht kommenden Besitzer lange Zeit ablehnend verhalten hatten, hat es jetzt den Anschein, als sei in ihrer Sinnesart ein Umschwung eingetreten, und Herr von Donat, der durchaus kein Mann von Illusionen ist, glaubt, hoffen zu dürfen, daß sein Plan bald der Verwirklichung entgegengeführt werden wird. Einstweilen hat er selbst eine größere Fläche versumpften Landes an sich gebracht, die er nach seinem Plane bearbeiten läßt. – Man wird dieses Streben nur mit größter Anerkennung verfolgen können, und wir Deutschen haben alle Ursache dazu, darauf stolz zu sein, daß es Männer unsrer Nation sind, die einen solchen Plan gefaßt haben und seine Förderung zu ihrer Aufgabe gemacht haben. – Zugleich mit Herrn von Donat lernten wir hier einen jungen italienischen Arzt kennen, der von der Regierung zur Bekämpfung der Malaria hierher geschickt worden ist. Außer großen Mengen von Chinin als Hauptmittel gegen das Sumpffieber hat dieser Herr die göttliche Komödie Dantes und die Verse Carduccis bei sich, aus dessen Barbaren-Oden er wundervoll vorzulesen weiß. Es ist dies so, wie wenn ein deutscher Arzt etwa den Goethischen Faust und Dehmels Gedichte mit sich führte, und es sollte mich freuen, wenn ich auch einmal einem solchen begegnete. Dr. Pittaluga weiß übrigens auch in der deutschen Literatur Bescheid und kennt das Werk Friedrich Nietzsches sehr wohl. So rückten wir uns, trotz meines mangelhaften Italienisch, bald nahe und fühlten, daß das Wort von den „guten Europäern“ kein leerer Schall ist. Leider konnten wir den großen Jupitertempel, der sich oberhalb Terracinas erhebt, nicht gemeinsam besuchen, da es zu spät war. Wir gingen statt dessen ans Meer hinunter, Muscheln suchen, wobei wir das Glück hatten, ein Haifischei zu finden, das etwa die Form einer Weberspule hat und im übrigen aussieht, als wäre es aus Zelluloïd (deutsch: Zellhorn) gemacht. – Die Lage Terracinas, die schon Horaz gepriesen hat, ist von der Art, daß man, sie würdig darzustellen, in gesteigerter Sprache reden müßte. Wir fühlen: hier beginnt erst recht der Süden; wir sind am Tore, und morgen wollen wir eintreten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil