Venedig, im Hotel de Milan, den 14. Mai

Dem Himmel und Max Schillings dank: wir sind dem Grand Hôtel entronnen und haben nun ein angenehmes, durch kein Kanaltingeltangel gestörtes Zimmer im Hotel Milan nach dem „Garten“ zu. Ein venezianischer Garten ist nun allerdings eine wunderliche Abart von Garten, aber immerhin, es sind ein paar große, schöne Bäume, die uns ins Zimmer sehn, und man hat hier Ruhe. Ruhe aber ist unter den Gaben Gottes eine der holdesten für den, der es liebt, zuweilen nach innen beschaulich zu sein. Zumal:

Wer dichten will,
Der hab’ es still,


denn das Dichten ist ein Lauschen auf die inneren Quellen und die kann nur der hören, um den Ruhe waltet. Aber auch zu der beschaulichen Revueabnahme über das, was man im Lärme des Tages an schönen, seltenen Dingen in sich aufnahm, ist Ruhe nötig. Deshalb sollten besonders Hotelzimmer Ruhe bieten, denn auf der Reise ist jeden Abend große Revue, was aber nicht hindert, daß die meisten Hotelzimmer akustische Kabinette sind, in denen sich alle üblen Geräusche Stelldichein geben.

Wir verdanken es Max Schillings, daß wir dieses Zimmer haben. Auf dem Markusplatze trifft man bekanntlich stets einen Bekannten. Er ist er große Rendez-vous-Platz aller guten Europäer, sein Campanile das riesige Ausrufezeichen, das Alle lockt, die nach Schönheit durstig sind. Gestern also trafen wir Max Schillings und seine rheinisch-heitere Frau dort, die ganz gewiß auch noch als Großmama dieses reizende Jugendlachen in den Augen haben wird, das zum Leben sagt: Bild Dir nur nicht ein, daß Du mich je unterkriegst; und wenn Du noch so grau tust, ich weiß ja doch, daß Dein eigentlicher Sinn Licht ist. Tanzaugen, – wenn ich Maler wäre und die Göttin schelmisch kluger Heiterkeit malen wollte, würde ich Frau Schillings bitten, mir Modell zu sein.

Nun soll ich Dir aber von Venedig reden, dieser wundervollen alten Dame, die nicht mehr lachende Augen hat. Was ist sie nicht Alles gewesen! Heldin, Herrscherin, Courtisane. Ihre Augen waren lange die strahlendsten Europas, jetzt haben sie einen melancholischen Glanz. Aber schön ist Ihre Majestät Venezia immer noch, – vielleicht zu schön für diese plebejische Gegenwart, in die sie gar nicht paßt. Eine Königin, die sich für Geld sehen lassen muß vor Gaffern, die zwar Geld, aber keinen Respekt vor alten echten Majestäten haben. Herr Thomas Cook ist auch ihr Impresario. Sic transit gloria mundi, – daß Gott erbarm!

Ohne Bild gesprochen: Der Hauptreiz dieser Stadt liegt in ihrem Verfall und darin, daß sie weniger als alle übrigen großen Städte die Möglichkeit hat, sich wesentlich zu modernisieren. Venedig ist, modern genommen, eine ganz unmöglich Stadt, weil sich in ihr keine eigentlich Industrie entwickeln kann, da es dazu an Platz gebricht. Solange Venedig als Staatswesen blühte, war sie der Mittelpunkt des Zusammenflusses von Reichtümern, die auswärts erworben wurden, eine reine Luxusstadt, die sich als solche nur solange erhalten konnte, als die in ihr herrschenden Geschlechter auf den Einkünften ihrer auswärtigen Besitzungen und Unternehmungen fußten. Seitdem sich dies geändert hat, verfällt sie, und es sind eigentlich nur die Fremden, die den rapiden und völligen Verfall hintan halten. Leider erhält sie dadurch auch den Charakter einer bloßen Kuriosität, einer riesigen Schaustellung. Sie ist eine Art permanenter Ausstellung der Vergangenheit. Was die Mathildenhöhe von Darmstadt im vergangenen Jahre für die künstlerische Gegenwart sein wollte, ist sie in Wahrheit für die künstlerische Vergangenheit. Hier sehen wir in wunderbaren, obschon zum großen Teil verwahrlosten Resten, wie mächtig in früheren Zeiten unter den günstigen Bedingungen großer politischer Macht eines aristokratisch geleiteten Gemeinwesens und enormen öffentlichen wie privaten Reichtums die Kunst ins Leben gewirkt hat. Venedig ist mehr als irgend eine andere Stadt im eigentlichsten und umfänglichsten Sinne ein großes Kunstwerk. Was man hier sieht, alles mit Ausnahme des Wassers, ist Kunst. Derlei wird sich kaum jemals wiederholen, und darum erscheint uns dies alles so reizvoll, fast märchenhaft. In verhältnismäßig geringem Umkreis ist hier eine Summe von Kunst zusammengetragen, die wie unerschöpflich wirkt. Bezeichnend dafür ist die unglaubliche Menge von Stätten des Antiquitätenhandels. Mag auch recht vieles von dem, was als alt hingestellt wird, nur geschickte Imitation sein, es bleibt doch noch eine Fülle von wirklich alter Kunst übrig, die nun zum Verkaufe steht. Vieles stammt freilich aus den Edelsitzen der Umgebung, aber auch dies ist venezianisch. Von den Palästen sind nur noch recht wenige im Besitze der alten Familien, denn diese haben zumeist den Reichtum eingebüßt, der dazu gehört, derlei zu erhalten. Man kann heute ganze Paläste für einen Preis mieten, um den man in Berlin keine Wohnung von zehn Zimmern erhält. Diesen Umstand haben sich schon viele vermögende Fremde zu Nutze gemacht. Auch der Antiquitätenhandel weiß davon zu profitieren, indem er mehr als einen Palast zu einem Antiquitätenlager hergerichtet hat. Zuweilen verhüllt er dies auf eine amüsante Weise. So wurde uns als verbürgt mitgeteilt, daß ein Konsortium von Altertumshändlern nicht allein einen alten Palazzo, sondern auch gleich einen alten Nobile gemietet habe, der darin wohnen durfte unter der Bedingung, daß er die Rolle des Besitzers spielte, als welcher er nun mit vieler Würde kauflustige Fremde empfing, die ihren neu erworbenen Besitz an Altertümern mit einem ganz besonderen Gefühle davontrugen, weil sie glauben durften, ihn aus erste Hand empfangen zu haben. Gute Käufe kann man zuweilen bei den Kirchendienern machen, die zugleich Antiquitätenhändler sind und am besten wissen, wo noch etwas zu holen ist. Gemälde bedürfen aber nach dem bekannten Staatsgesetze einer Ausfuhrerlaubnis durch die Akademie, doch gibt es Mittel und Wege, das zu umgehen. – Von den eigentlichen Sternen am Himmel der alten venezianischen Kunst gilt freilich dasselbe, was von den Sternen überhaupt gilt: man begehrt sie nicht und freut sich ihrer Pracht. Wir haben einige davon gesehen und werden die Freude, die wir daran gehabt haben, gewiß nie vergessen; wir haben also aus ihnen ein unverlierbares Eigentum gewonnen. Zum ersten Male ist mir bei diesem Besuche ein Meister lieb geworden, den ich bisher weniger beachtet hatte: Cima da Conegliano. Der Sinn für ihn ist mir in der Kirche der Madonna dell’ Orto vor seinem Johannes dem Täufer aufgegangen, der mir ein wahres Labsal nach den Kunststücken des Tintoretto war, die dort hängen. Meister wie er und Giovanni Bellini haben in ihren Werken das Höchste erreicht, was der Kunst möglich ist: Trostspendung. Diese Werke atmen Frieden, Ruhe, Gleichmaß. Sie sind wahrhaft religiös, und vor ihnen wird der Genuß zur Andacht. Ich gebe die ganze Prunkmalerei des Dogenpalastes für eine Madonna des Giambellino hin, und selbst an der gepriesenen Assunta Tizians gehe ich jetzt leichter vorüber, als an ein paar Heiligen des Cima da Conegliano. Das Innere des Dogenpalastes hat mich wieder kalt gelassen, – dieser Pomp ist schwülstig und allzulaut. Dagegen ergriff mich wiederum die mächtige Pracht der byzantinischen Mosaiken im herrlichen Hause des heiligen Markus. – Am Uhrturme ließen sich diesmal allstündlich die heiligen drei Könige sehen, die nur während vierzehn Tagen des Jahres ihren Rundgang um die goldene Madonna machen. Es ist ein naiv lustige Schauspiel, das Einheimische und Fremde mit gleichem Vergnügen betrachten. Sobald die beiden „Mori“ oben mit ihren Eisenhämmern die Stunde vollgeschlagen haben, tut sich rechts von der Madonna die goldene Türe auf, und ein flöteblasender Engel erscheint. Mit gemessener Würde folgen ihm die drei Magier und schreiten an der Himmelskönigin vorüber, indem sie sich verbeugen und grüßend die Hand an ihre Kronen legen. – Die Tauben von San Marco sind echte Venezianer, sie leben von den Fremden, und es steht zu befürchten, daß die meisten von ihnen während der Saison an Fettsucht zu Grunde gehen. Aber es nimmt sich hübsch aus, wie sie sich zutraulich um die Maisspenderinnen scharen. Wenn um zwölf Uhr vom Arsenal her der Kanonenschuß fällt, fliegt die ganze Schar erschreckt auf und umkreist die Piazza. Vielleicht tun sie bloß erschreckt, und das Auffliegen gehört zum Programm der Sehenswürdigkeiten für die forestieri. Denn es ist leider so: Alles hat hier den Anschein, als sei es für die Fremden gemacht. Dieser Umstand beeinträchtigt den Genuß der schönen Stadt erheblich, in der die einzige Industrie, die es gibt, allzueifrig gepflegt wird: die Fremdenindustrie. Man wird das Gefühl nicht los: Welch Schauspiel, aber, ach, ein Schauspiel nur!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil