Venedig, den 12. Mai.

Die Fahrt von Bassano nach Mestre, dem Automobilhafen Venedigs, ist eine wahre Laufwagenlust von wegen der schönen glatten Straßen. Dazu ein heiteres, reiches Gelände ringsum, interessante, alte Ortschaften, stattliche Landedelsitze, eine liebenswürdige Bevölkerung, die sich nicht genug tun kann in fröhlichen Zurufen, und alles Zuggetier, Pferd, Esel, Maulesel, durchaus auf der Höhe der Modernität, will sagen, ruhig vorbeitrabend, ohne zu scheuen – was könnte man mehr wünschen wenn man im Laufwagen reist? Vielleicht etwas besseres Wetter. Denn die Sonne gab sich zwar Mühe, herauszukommen, aber es gelang ihr schlecht. Die Wolken wurden ihrer Herr, wenngleich sie uns mit Regen verschonten. Trotzdem sind wir auch diesem Tage dankbar, dem ersten, der uns ganz auf italienischem Boden beschieden war. Dieses Italien hat zwar noch wenig von dem, was man sich gemeinhin unter italienischer Landschaft vorstellt; es wirkt auf den ersten Blick gar nicht „südlich“, aber es ist, sieht man genauer hin, doch eine Landschaft, die sich von der unseren wesentlich unterscheidet. Das weithin gestreckte deutsche Feld, die großen Wiesenflächen, von Wald begrenzt oder unterbrochen, fehlen gänzlich; alles, Feld wie Wiese oder Weingarten, ist mit Bäumen durchsetzt, darunter viele Maulbeerbäume, wogegen der eigentliche Wald gänzlich fehlt. Die Straßen entlang ziehen sich häufig breite, buschig eingeschlossene Wasserläufe, die sich sehr viel lustiger ausnehmen, als unserer Straßengräben. Die Herrenhäuser liegen häufiger als bei uns an der Landstraße und fallen uns durch die geringe Höhe auf, wofür sie sich weitflügelig ausdehnen. Oft sieht man alte Statuen, und die Häuser gewinnen ein freies luftiges Ansehen durch Säulenhallen. Es muß sich sehr angenehm in ihnen hausen lassen, und man bedarf keiner großen Phantasie, um sich vorzustellen, wie prächtig bunt sich das Leben hier in den Zeiten gestaltet haben mag, als sie noch die Lustsitze der Edlen von Venedig waren. – Die Bevölkerung macht einen durchaus sympathischen Eindruck. Die Leute haben anscheinend ein fröhliches Lebensbehagen und lachen gerne. Der Anblick unseres Wagens riß Alt und Jung zu lauten Äußerungen der Bewunderung hin. Evviva! und Buon viagio! ruft es vor und hinter uns, und, wenn meine Frau sie als Landsmännin anspricht, so erhält sie ausgiebig und aufs freundlichste Antwort. Sogar die Kutscher benehmen sich huldreich. Macht mal ein Pferd oder Esel Miene zu stutzen, so erfolgt keineswegs ein wildes Drohen und Donnerwettern, sondern der Mann auf dem Bocke zieht einfach die Zügel fest an und lacht uns die Versicherung entgegen: Nur keine Angst, es geht schon! – So war es trotz des zweifelhaften Wetters eine angenehme Fahrt, an die wir immer mit Vergnügen zurückdenken werden. Sie führte uns auch durch den Geburtsort des Giorgione, Castelfranco, nach dem der Meister in alten Rechnungen des Staates Venedig Zorzi da Castelfranco genannt wird, was etwa soviel wie Jörgel bedeutet hat. Da Denkmal, das sie ihm errichtet haben, ist leider eines von den modernen Bildhauerwerken, die mehr an Zuckerbäckerei, als an plastische Kunst erinnern, und das fällt um so fataler in einem Orte auf, der, wie Castel Franco, noch manche Spuren einer künstlerischen Vergangenheit aufweist. – Mestre erschien uns nicht sehr reizend, und wir waren froh, daß wir dank der Aufmerksamkeit des Herrn Carlo Glöckner, der für Italien die Vertretung der Adler-Fahrradwerke hat, unsern Wagen sogleich an einem sichern Ort einstellen und sofort nach Venedig reisen konnten – zum ersten Male auf unserer Reise mit der Eisenbahn. – Wir sind hier im Grand Hotel abgestiegen, haben aber sofort beschlossen, schon morgen wieder auszuziehen. Diese Engländerfalle ist für empfindsame Reisende nicht die rechte Herberge. Daß sie teuer ist, möchte noch hingehen, wenn sie gleichzeitig gemütlich oder komfortabel wäre, aber sie ist geradezu ein abschreckendes Beispiel für die Art moderner Gasthöfe, die ein rein industrielles Gepräge tragen, und denen alles das fehlt, was der Deutsche von einem Gasthof verlangt: Ruhe, Bequemlichkeit, aufmerksame Bedienung. Der Engländer und vornehmlich der Amerikaner vom Durchschnitt scheint Anforderungen anderer Art zu stellen. Er scheint auch Vergnügungen an Veranstaltungen zu finden, deren eine z. B. das Tingel-Tangel auf dem Canale grande ist, das sich hier allabendlich vor dem Grand Hotel etabliert und zweifellos eine Spekulation der Hotelleitung ist. Es ist eine abscheuliche Travestie auf die frühere Sitte des Gondelständchen in so vergröberter Form, daß jeder Mensch von Empfindung davon beleidigt werden muß. In einer mit Lampions beleuchteten Barke sitzt eine Bande von Guitarrenrupfern und Sängern, die von 8 bis 12 Uhr abends einen schrecklichen Spektakel verüben, indem sie ein endloses Programm von allerlei Musik herunterleiern. Und dies auf dem Canale grande, dessen Seele die Ruhe ist! Unsere angelsächsischen Vettern, sitzen mit ihren Damen auf der Hotelterrasse und applaudieren dazu, als wären sie im Londoner Empire-Theater. Sie halten diese Komödie vermutlich für etwas sehr Venezianisches, während die Venezianer über diesen Unfug außer sich sind. In den kleineren Kanälen kann man zuweilen noch das echte Vorbild dieser Veranstaltung sehen. So trafen wir eine Barke mit jungen Wäscherinnen an, in deren Mitte eine gedeckte Tafel mit Wein stand, und aus der ein einfaches Volkslid ungekünstelt klang. Es war reizend und ließ uns den Lärm der Tringgeldheuler schnell vergessen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil