Wittingau, den 16. April 1902.

Diese Stadt heißt eigentlich ganz anders, aber ich kann mir den tschechischen Namen durchaus nicht merken. Wittingau hat sie früher geheißen, als sie noch deutsch war. Heute kommt der Name nur noch auf den Plakaten der fürstlich-schwarzenbergischen hiesigen Brauerei vor.

Überhaupt ist die ganze Stadt und alles drum herum fürstlich-schwarzenbergisch. Man kann sagen: es ist eigentlich gar keine Stadt, sondern hundert und ein paar Häuser, die dem schwarzenbergischen Schlosse zur Folie dienen.


Da ist z. B. eine Straße, die vom Schloß zur Kirche führt. Aber die Kirche ist die Schloßkapelle, und die eine Seite der Straße ein verdeckter Gang, der Schloß und Kapelle verbindet.

Das Schloß selber ist ein sehr weitläuftiges Gebäude oder besser: ein Komplex mehrerer ausgedehnter Baulichkeiten, und man müßte taub sein, wollte man nicht hören, was diese Mauern (tschechisch natürlich) laut und vernehmlich predigen. Ich habe es vernommen, lieber Bachmann, und habe es, obwohl es tschechisch war, wohl verstanden. Soll ich es Ihnen aus dem Tschechischen der Schwarzenberger (Sie wissen doch daß die Schwarzenberger Tschechen sind?) übersetzen? Ins Deutsche? Nein: ins Französische. Es ist eine ganz kleine Redensart und heißt: Je m’en fiche!

Diese böhmischen Magnaten, von denen die Schwarzenbergs noch nicht einmal die größten sind, dürften sich diesen Spruch wirklich ins Wappen setzen lassen. Dem Rang und Titel nach sind sie zwar keine Souveräne (obwohl die Schwarzenbergs in ihrer eigentlichen Residenz, denn das hier ist bloß ein pied-à-terre, sogar ein kleines Privatarmeechen haben), aber in Wahrheit sind sie viel souveränere Herren, als irgend ein regierender Fürst. Ein moderner König kann wahrhaftig keine großen Sprünge machen, – die Schleppkugel des Parlaments hängt ihm am Fuß. Kaum daß er noch große Reden im Munde führen darf, und auch das will ihm die Volksstimme schon nicht mehr erlauben. Sein Leben spielt sich noch viel mehr als das gewöhnlicher Menschen zwischen lauter Rücksichten ab, und er ist in der Hauptsache nur durch den Schein einer Machtvollkommenheit ausgezeichnet, deren sich heute in Wirklichkeit nur die wirklich Herrschenden erfreuen, die großen Besitzer, die keine nominellen Potentaten sind. Ein heutiger Souverän ist auf Popularität angewiesen; nur ein Genie dürfte es wagen, Potentat und unpopulär zu sein. Ein gewöhnlicher Souverän, der es riskieren wollte, nach dem Spruch je m’en fiche zu „regieren“, würde bald die Bruchstücke seiner Krone und seines Thrones auf der Straße zusammenlesen können.

Einen Schwarzenberg dagegen, wie etwa einen Vanderbilt, hindert eigentlich nichts daran, durchaus und immer zu tun, was ihm beliebt. Er hat Macht schlechthin im Umkreise seines Besitzes. Z. B.: Es beliebt den Fürsten Schwarzenberg, daß sich in oder um Wittingau keine Industrie bilde, denn sie wünschen nicht, daß auf ihrem Gebiete der Arbeiter die Wahl habe, seine Kraft dem Fürsten oder einem anderen zu verkaufen, – also bildet sich keine Industrie, denn alles Land hier, meilen-meilenweit ist Schwarzenbergisch – bis zur Grenze von Nieder-Österreich.

Selbständige Bauern gibt es nicht, – nur schwarzenbergische Untertanen, und die im verwegensten Sinne des Wortes. Leibeigen sind sie ja nicht, aber das Land, das sie bebauen, das Gerät, mit dem sie es tun, die Hütte, in der sie wohnen, gehört dem Fürsten. Er hat die Entscheidung über alle Weg- und Kommunikationsfragen, – in seiner Hand liegt es, welcher Art die Kultur sein soll, die sich hier entwickelt.

Schrecklich, lieber Bachmann, nicht wahr? – Ich weiß nicht recht. Nach dem Prinzip der Liberté, Fraternité, Egalité angesehen ist es ja gräulich, und ich für mein Teil würde, ehe ich so hörig wäre, lieber wundfüßig bis ans Ende der Welt laufen, aber es scheint doch, daß es für viele ein ganz erträglicher Zustand ist, wenn es der Herr Fürst nur ein bißchen gnädig treibt. Also wird es fürs Erste wohl noch eine gute Weile so gehen.

Für die Ästhetik der Landschaft ist das feudale Regime sicher günstig. Unter ihm gedeiht die große Linie: Wald, Wiese, Feld. Alles dehnt sich weit, mächtig, schön. Nirgends Fabrikschlöte, überall reine Natur. Und die Hütten der Bauern so schön verfallen malerisch, moosbewachsen, nieder; die Menschen selber ditto malerisch, nämlich zerlumpt. Ein Unterrock und ein zerrissen Hemd: und das Bauernmädl ist fertig angezogen. Sieht hübsch aus, Bachmann, wenn so ein Stück nackter Rücken durchleuchtet. Sehr unsozial gedacht, – ja; aber, wenn’s die Fürsten Schwarzenberg nicht geniert, daß ihre Hütten vor lauter malerischer Romantik schier umfallen, was soll ich tun? Mir ist es genug, daß es Stimmung hat. Auch muß ich sagen, daß die Leute ganz vergnügt aussehen. – Übrigens wird die tschechische Sozialdemokratie den Leuten das Vergnügen an ihrem malerischen Elend schon austreiben. Lassen wir die Mächte sich untereinander abraufen! Einstweilen bin ich den Fürsten Schwarzenberg dankbar dafür, daß auf ihren Gebieten die Natur in allen ihren Prächten erhalten bleibt.

Doch ich sage zuviel: Auch die Feudalen bändigen die Natur, damit sie ergiebiger werde. So haben sie aus den Sümpfen dieses Landes Teiche gemacht, in denen Fische gedeihen, die bis Berlin und Hamburg versandt werden: die berühmten Karpfen von Wittingau.

Über diese Teiche und ihre Bewirtschaftung habe ich mich von einem Beamten des Fürsten belehren lassen, und Sie sollen von meiner Wissenschaft profitieren. Alle drei Jahre werden, in bestimmter Reihenfolge, einige dieser seeartig großen Wasserflächen abgelassen, die Fische in kleineren Becken sortiert und lebend in Fässern verschickt, und was drei Jahre lang Teich war, wird zum Weizenfeld gemacht. Der Teichboden ist besonders fruchtbar, aber es handelt sich nicht so sehr um seinen Körnerertrag wie darum, daß sich durch die Bebauung im Boden das für die Nahrung der Fische nötige Gewürm entwickelt. Interessant ist auch, daß man geflissentlich zwischen die Karpfen, Welse, Maränen Hechtbrut setzt, um dem zahmen Fischvolk zu heilsamer Bewegung zu verhelfen, damit sein Fleisch fester und schmackhafter werde, – eine Übung, die geeignet ist, zu einem kleinen Gedankenkettenspiel zu veranlassen. Das Ideal der Karpfen besteht sicher darin, daß sie einen Teich ohne Hechte erträumen, aber der Idealismus der Fürsten von Schwarzenberg denkt weiter – an die Muskelvervollkommnung der dicken Idealisten, die ohne diese fürstliche Vorsehung in ihrem Fette ersticken müßten und, was das Wichtigste ist, den Berlinern und Hamburgern nicht entfernt so gut schmecken würden, wären sie nicht drei Jahre lang von den edlen Hechten gehetzt worden. So steht immer ein Ideal auf dem Kopfe des andern, – woraus sich ganz von selbst ergibt, daß die untersten am schwersten zu tragen haben. Ob sich die Karpfen durch irgend welche Gefälligkeit von den Hechten loskaufen können, weiß ich nicht. Daß dies in anderen Verhältnissen möglich ist, beweist die letzte deutsche Aufschrift, die an einem der Tore von Wittingau noch zu lesen ist. Sie lautet: „Fürst – Schwartzenbergisch – befreite Schutzstadt Wittingau“ und bedeutet, daß die Wittingauer ehedem nicht sich selber, sondern den Schwartzenbergs gehörten, daß sie aber für gegebene „Darlehen“ aus diesem Besitz entlassen und nun im „Schutze“ der fürstlichen Hechte geblieben sind. Das ist doch gewiß sehr lehrreich und ein weites Feld für Idealisten, Karpfen, sowohl wie Hechte. – Schade, daß man auf der Reise keine Zeit hat, auf so weiten Feldern zu spazieren. Und zudem: welche Blumen der Lebensweisheit könnte ich dort pflücken, die Sie nicht schon längst im Knopfloch tragen? –

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil