Wien, den 25. April.

Das schnelle Fahren mit der Eisenbahn hat es auch mit sich gebracht, daß man sich daran gewöhnt hat, zu glauben, alle Kulturländer seien einander ganz ähnlich geworden. Es kann dies aber doch wohl in Wahrheit nur von den großen Städten und in ihnen vor allem von den Hotels und den großen Varietetheatern gelten. Fährt man, wie wir, im Laufwagen, aber trotzdem behaglich, so bemerkt man, da die große Kulturwalze doch noch nicht alle Verschiedenheiten ausgeglichen hat.

Niederösterreichische Jugend interessiert sich für den Adlerwagen


Böhmen und Niederösterreich z. B. – welch ein Unterschied! Hier vereinigen sich allerdings besonders viele Umstände dazu, die Nachbarn unterschiedlich zu gestalten. Vor allem sicherlich die Verschiedenheit der Rassen, und dann die Verschiedenheit der Wirtschaftsart. Das hier ganz slavische Böhmen mit seiner ausgeprägten Latifundienwirtschaft muß sich notwendig von dem ganz deutschen Niederösterreich mit seiner Kleinwirtschaft unterscheiden. Böhmen, so däucht mir, ist schöner, großartiger als Natur, Niederösterreich sieht, wenn ich so sagen darf, gemütlicher aus. Besonders wohl gefallen hat es uns nicht, und auch unsere Rasseverwandten haben uns nicht eben den angenehmsten Eindruck gemacht. Die Tschechen zeigten ein etwas tumultuarisches Temperament, wenn sie den Wagen ohne Pferde sahen, die niederösterreichischen Bauern schienen darob zu Stein zu werden, zu Statuen mit aufgerissenen Mäulern, – wenn sie nicht gerade Pferde zu regieren hatten. In diesem Falle fluchten sie auf eine ganz greuliche Manier und benahmen sich weder sehr christlich, noch sehr intelligent. An Armut und Verkommenheit scheint es hier auch nicht zu fehlen, obwohl keine Feudalen da sind, denen man die Verantwortung dafür aufbürden könnte. Zwei Typen: der Bauer, nicht so fett und breit, wie unser guter Freund von der Öd oder Sankt Heinrich, aber immerhin wohlgenährt und „foascht“, dazu mit einem paradox differenzierten Gesichtsausdrucke: halb pfiffig, halb stupide; und der Tagelöhner: ein mageres Bündel Elend in Lumpen, knechtischen Blicks und fuselduftig. – Die Straßen in Niederösterreich sind infam schlecht; auch die „Kaiserstraße“ macht keine Ausnahme davon. Man könnte sagen, daß sie eine ausgedehnte Verlockung zu Majestätsbeleidigungen vorstellt. – In der Nähe von Wien bemerkt man ab und an alte Edelsitze unfern der Landstraße, meist mit Resten des Zopfgeschmacks. Wir nahmen uns nicht Zeit, sie genauer zu betrachten, denn es ging schon gegen Abend, und die Stadt schien immer noch fern. – Als wir in Floridsdorf einfuhren, das eigentlich schon eine Vorstadt Wiens ist, war es schon dunkel. Das machte uns kein großes Vergnügen, denn bei Dunkelheit kommt der Laufwagenreisende nicht gern in einer großen Stadt an, weil es gar kein Amüsement bereitet, sich durch so und soviel Vorstadtstraßen durchzufragen. Denn der Pöbel, der in den Vorstädten der Metropole gedeiht, gehört nicht zu den holdesten Blüten am Baume der Menschheit. Vielleicht würden alle diese Menschen, wenn es ihnen gut ginge, manierlicher sein, als mancher Geheimrat; das kann wohl sein; in der Tat aber sind sie meist in einem Grade roh und übel, daß man nicht gerne in Berührung mit ihnen kommt. Muß man aber, wie wir in Floridsdorf, mitten unter ihnen Halt machen, weil das Benzin zu Ende gegangen ist, so läßt sich die Berührung schon deshalb nicht vermeiden, weil sie in Massen herbeiströmen und mit Begierde die Gelegenheit ergreifen, sich unangenehm zu machen. In erster Linie haben sie das Bestreben, zu zeigen, wie so gar nicht sie sich imponieren lassen. „A Automobüll? Alsdann, – was bedeit’ das? Gornix! Bei uns im Hof steht ans, wann mir nur fahren wolltn!“ oder: „Sie! Ham’s ka Gölt nüt zum Eisenbahnfohrn?“ Nur ein Betrunkener produzierte etwas wie Witz, indem er rief: „Da sollte der Tierschutzverein a Wörtl dreinredn. Alsdann, was geschieht denn mit dene Gäul, wenn ma mit solche Zeugln fahrt? Müssen alle geschlachtet werden! Und überhaupt: Was saufts denn nöt lieber den Spiritus, statt an Gestank daraus zu machen?“ Der Kerl roch aber selber nicht gut. – Wir waren froh, als wir die Elite von Floridsdorf hinter uns hatten und bei voller Dunkelheit über die Franz-Josefs-Brücke nach Wien hineinrollten, wo wir im Hotel Continental abstiegen, einem alten, früher als Goldenes Lamm berühmten, aber noch jetzt recht guten Hause der Leopoldstadt, wo unser Adlerwagen nun der verdienten Ruhe im Hof genießt. Wir benutzen ihn hier fast gar nicht, denn in Wien muß man Fiaker fahren. – Meine Frau wollte es anfangs durchaus nicht glauben, daß diese eleganten Wagen keine Privatequipagen seien. Man findet auch kaum in einer anderen Stadt so schöne Mietswagen mit so prächtigen Pferden in so schmuckem Geschirr und so sicher gelenkt von Kutschern, die, wenigstens von weitem, sich von den Kavalieren, den Herrgöttern dieser Stadt, kaum unterscheiden. Aber die breite Trinkgeldhand zeigt dann um so deutlicher, daß die Elegants im Sportpaletot nicht zur guten Gesellschaft gehören, in der bekanntlich das Trinkgeldnehmen nur in Formen geübt wird, die sehr kompliziert und schwer zu erlernen sind. – Bei der Rückfahrt von einem Rennen in der Freudenau, wo wir aber keinen Tag erster Güte hatten, lernten wir die einzigartige Geschicklichkeit dieser besten Mietskutscher der Welt gut kennen. Da fuhren in endloser Kette sechs Reihen von Fiakern nebeneinander, und alles ging glatt und ruhig her, obwohl die reitenden Schutzleute sich nur ornamental betätigten. Denken Sie sich, bitte, mal sechs Reihen von münchner Droschken nebeneinander in schneller Fahrt. Ein Débâcle würde die Folge sein. –

Von Wien selbst lernten wir in den wenigen Tagen das eine kennen, daß es eine sehr schöne Stadt von durchaus eigenem Charakter ist, in der es an Gelegenheiten, sich zu vergnügen, nach keiner Richtung fehlt, und wo besonders für die körperlichen Bedürfnisse ausgezeichnet gesorgt wird. Hier ist die hohe Schule der Mehlspeisküche, und die Kunst des Speisens überhaupt braucht hier keine Sezession. Auf diesem Gebiet herrscht in Wien durchaus die alte Richtung, und es wäre verrucht, sie durch eine neue ablösen zu wollen. In der bildenden Kunst dagegen ist die Revolution im vollen Gange. Nirgends, auch in München nicht, lebt und wirkt die Sezession wie hier. Ich war etwas bange davor, denn ich bin nachgerade ein bißchen bedenklich in diesem Punkte geworden, aber ich muß gestehen, daß meine schlimmen Ahnungen sich nicht erfüllt haben. – Von der Umgebung Wiens lernten wir ein besonders schönes Stück im Laufwagen kennen: die Gegend oberhalb Grinzings, die den schönen Namen „Am Himmel“ nicht mit Unrecht führt. Welche große Stadt hätte derlei in unmittelbarer Nähe! Wald und Wiese in unberührter Schönheit, Berg an Berg mit den köstlichsten Ausblicken über die ganz nahe sich ausbreitende Stadt –eine Mittelgebirgslandschaft mit allen Reizen reichster Abwechselung, unterbrochen von alten schönen Herrensitzen, die noch nicht Hotels oder Pensionen geworden sind. – So mag denn Wien ein wunderschöner Aufenthalt sein, und die Wiener selbst werden nicht müde, es zu preisen, obwohl es nun nicht mehr „die“ Kaiserstadt ist. Zum Schluß eine Probe von Wiener Lebensweisheit in einem Verse, der augenblicklich hier grassiert:

Drahn m’r um und drahn m’r auf,
Es liegt nix dran,
Weil ma’s Göld auf derer Welt
Nicht fress’n kann.


Haben Sie was dagegen einzuwenden?

Nachschrift: Fast hätte ich das Schönste vergessen, das Wien an neuer Kunst aufzuweisen hat: das Goethedenkmal von Hellmer. – Gegenwärtig werden der Bildhauerei, zumal in Deutschland, meist insofern schwierige Aufgaben gestellt, als sie entweder Persönlichkeiten von im Grunde recht unwesentlicher Bedeutung monumentalisieren soll, oder gezwungen ist, wirklich mächtige Erscheinungen, wie Bismarck, nach einer gewissen Konvention aufzufassen, als gewissermaßen zu demonumentalisieren. Irgend ein gleichgültiger Vorfahre eines jetzt regierenden Fürsten, so gleichgültig, daß die Geschichte an ihm nichts Auszeichnendes fand, als etwa eine ungewöhnliche Wohlbeleibtheit, weshalb sie ihm dann den Beinamen Der Dicke verlieh, ein fürstlicher Guidam also, von Zufalls Gnaden Kronenträger geworden, statt etwa Packträger, soll, allein um dieses Zufalls willens, fürstlich dargestellt werden, fürstlich, d. h. als ein Vornehmer unter den Vornehmen, als eine Höhenerscheinung unter den Menschen. Er, der vielleicht lediglich durch seinen Bauch hervorragte, soll in Marmor Seelengröße, Geisteskraft und jederlei Adel des Herzens, Hirns und der Sinne überhaupt an den Tag legen. Bismarck hingegen, der ein überragendes Genie und im alleroffenbarsten Sinne ein Fürst unter den Menschen war, darf im Grunde doch immer nur wieder sub specie des Herrn Anton von Werner dargestellt werden, nämlich als schnauzbärtiges, brauenbuschiges, nüsternblähendes Zubehör zu ein Paar Kürassierstiefeln, welches Gebilde man dann den Eisernen Kanzler nennt. Unsre Nachkommen werden in diesen Kümmerlichkeiten ganz gewiß keine Monumente Bismarcks, sondern Denkmäler des kümmerlichen Verhältnisses erblicken, in dem unsre bestimmenden Kreise zu diesem Gewaltigen stehen. Wie denn überhaupt unsre Gegenwart von dem heißen Bemühen erfüllt zu sein scheint, sich vor der Zukunft monumental zu blamieren, indem sie ihr in ihren Denkmälern eine wahre Galerie von Mittelmäßigkeiten hinterläßt, sei es hinsichtlich des Dargestellten oder der Darstellungsart oder in beiden Hinsichten gleichzeitig.

Angesichts dieses Zustandes ist es erklärlich, daß Künstler von starker Eigenart, wie Max Klinger, mit höchstem Ehrgeiz ihr ganzes Können an die Aufgabe setzen, in einem höheren Sinne monumental zu schaffen, indem sie sich resolut besonders von jener biedermeierhaften Art pseudorealistischer Auffassung einer Persönlichkeit abwenden. Der Beethoven Klingers, den wir hier, von der Sezession mit fast religiöser Verehrung zu dem Mittelpunkt einer schöpferischen Huldigung gemacht, sahen, verdient als Ausdruck eines so edlen Strebens zweifellos hohe Anerkennung, – als Leistung aber ist er höchst unerfreulich. Die Auffassung des großen Musikers als eine Art Jupiter tonans der klingenden Kunst erforderte vor allem Überlebensgröße und Verzichtleistung auf jedes kleinliche, wenn auch im Material noch so kostbare Beiwerk. In einfacher Lebensgröße dargestellt und umgeben von allerhand kleinplastischen Kommentaren seines Wesens wirkt dieser grübelnde Donnergott wie eine Nippesfigur, und spätere Geschlechter mögen glauben, das Denkmal sei, trotz der Signierung Klingers, eine verkleinerte Kopie des Originals. Aber auch wenn man über diesen Grundfehler hinweg sieht, bleibt wenig übrig, woran man seine Freude haben kann. Wer je einen Rodin gesehen hat, wird schmerzlich empfinden, wie wenig Fluß diese Linien haben, wie kleinlich im Grunde das Ganze auch innerlich ist, wie wenig Reiz dem Material abgewonnen wurde. Die Engelsköpfchen an dem großen Sessel sind direkt Backfischsgeschmack; wirklich gut ist nur der Adler.

Ich begreife es vollkommen, daß Wien es abgelehnt hat, diese zwar sehr prätensiöse aber hinter ihren Prätensionen unendlich weit zurückbleibende Arbeit zu erwerben. Eine Stadt, die den Hellmerschen Goethe ihr eigen nennt, kann auf ein Werk wie dieses verzichten, ja muß es in einem gewissen Sinne. Hellmers Goethe ist, neben Hildebrands Brunnen in München, die stärkste monumentale Leistung der gegenwärtigen deutschen Bildhauerkunst. Dieses Werk sucht nicht durch „neuartige“ Auffassung zu verblüffen, indem es etwa den „Olympier“ von Weimar nach dem Vorgange Bettinas nackt darstellt (was eine recht billige Gymnasialprofessoren-Kühnheit wäre), es sieht auch von allem Schmuckhaften in Nebendingen ab und verschmäht jede plastische Zoologie, die es zumal in der Begasschule zu einer Konkurrenz mit Hagenbeckschen Unternehmungen gebracht hat. Dieser Künstler erwies seine Größe, wie es die Art jedes wirklichen Plastikers ist, zuvörderst durch die große und edel einfache Auffassung. Er sagte sich: wie auf einem Denkmal Goethes nur das eine Wort Goethe stehen darf und nicht etwa ein langes oder kurzes Gepreise des Herrlichen nach einer Richtung hin, so darf es auch plastisch auf ihm nichts geben, das von der Gestalt und Haltung dieses Vollkommenen, vor allem seines Kopfes, ablenkt. Dieser Kopf und dann die Haltung, – das ist alles, was zu leisten ist. Freilich: welch eine Aufgabe! Goethe: d. h. höchste Schönheit deutscher Art und vollster Ausdruck deutschen, weltumfassenden Geistes, aber auch tiefstes Fühlen und klarstes Gestalten, Zusammenklang aller Menschengaben in eine Harmonie von sonst nie dagewesener Fülle, und dennoch: Menschlichkeit, kein „Gott“. Dem Wiener Meister ist es gelungen, diesen Komplex höchster Menschheitskräfte so darzustellen, daß man vor seinem Bildwerk wirklich empfindet: GOETHE.

Daß gerade Wien diese herrliche Schöpfung besitzt, ist doppelt erfreulich, – Wien, das es, wie mir scheint, besonders nötig hat, immer wieder an deutsche Höhenart erinnert zu werden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil