Prag, den 14. April 1902.

Der Blaue Stern, in dem wir wohnen, ist leider modernisiert und dadurch um seine alte Behaglichkeit gekommen. Es scheint, daß ich doch kein moderner Mensch bin. Nicht einmal der Jugendstil ersetzt mir die Gemütlichkeit. Diese fanden wir dafür im Hause von Hugo Salus und überhaupt bei allen Deutschen, die uns begrüßten. Ach, die Deutschen Prags begrüßen so gerne Deutsche „aus dem Reiche“. Sie sitzen hier auf einer kleinen Insel in einem wilden Meere, und dieses Meer frißt ihnen ihr Inselchen immer kleiner. Bald wird es nur noch ein deutsches Helgoländchen in der tschechischen Mordsee sein. Dabei repräsentiert das deutsche Prag die reifere Bildung, den festeren Reichtum. Aber – das Volk fehlt. Es ist schon fast wie das „englische Viertel“ in Dresden, – eine dauernde Ansiedelung von Ausländern. Die gesamte Arbeiterbevölkerung und die dienenden Klassen, – lauter Tschechen. Die Geschäftsinhaber und Handwerksmeister sind wohl noch zum Teil deutsch, arbeiten aber mit tschechischen Kräften. Das Bollwerk der deutschen Universität steht zwar noch fest, wird aber grimmig berannt; doch ist es in tapferen Händen. Die deutschen Studenten sind natürlich treu und fest national gesinnt, desgleichen die deutsche Presse. Auch pflegt man in Prag die deutsche Literatur mit größerer Hingabe, als es sonst unter Deutschen die Regel ist, und die deutsche Literatur Prags weist ein paar Talente von hoher Begabung auf. Salus ist ein Poet, den jeder Deutsche lieben muß, der in der Lyrik nicht bloß auf Virtuosenspezialität erpicht ist, und Rilke ist vielleicht das größte lyrische Formtalent, das wir heute überhaupt besitzen.

Entschuldigen Sie diese literarischen Bemerkungen. Ich wills nicht wieder tun.


Daß Prag eine der schönsten Städte, und nicht bloß Österreichs, ist, wissen Sie wohl schon. Eine seltsame Stimmung ist hier: deutsche Vergangenheit und tschechische Gegenwart und dann etwas wunderlich orientalisches, das von den vielen Juden herkommen mag. Das alte Ghetto mit dem Judenfriedhof und der uralten, halb unterirdischen Synagoge, – ein Viertel voll Schmutz, Armut und malerischen Reizes. Da gibt es Häuser, die nicht nebeneinander sondern ineinander gebaut zu sein scheinen, ein unsagbares Gewinkel. In der alten Synagoge, diesem ehrwürdigen Kellerloch der Jehowahverehrung, kann man das Gruseln lernen, und ich für mein Teil wurde den Gedanken nicht los: ein Stückchen dieser Düsterheit steckt auch in jeder christlichen Kirche. Oh Zeus von Otriculi!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil