Henry Greville.

Dem Beispiele Aurora Dudevant's und Madame D'Agoult's folgend, haben die hervorragendsten weiblichen Federn des modernen Frankreich sich unter Männernamen in die Literatur eingeführt.

Die moderne Frauen-Emancipation richtet sich zwar gegen diese Gepflogenheit und fordert von den Frauen, daß sie ihr Geschlecht nicht verläugnen und die Ruhmesleiter in ihrer eigenen Gestalt erklimmen sollen, aber vorläufig hat es mit der Erfüllung dieses Wunsches, dem sich praktische Bedenken entgegenstellen, noch gute Wege.


Unter Henry Greville, einem Namen, der uns in der neuesten Romanliteratur auf Schritt und Tritt begegnet, birgt sich ein liebenswürdiger, weiblicher Charakterkopf, Alice Durand.

Gerade der deutsche Leser wird durch die Romane Greville's gefesselt und angezogen. Sie sind unterhaltend und spannend, ohne Frivolität, drastisch und aus dem Leben gegriffen, ohne daß der poetische Duft durch den materialistischen Küchengeruch vertrieben würde.

Wir können Greville mit einer viellieben zu früh dahingeschiedenen deutschen Frau vergleichen: Clara Bauer, unter dem Namen Detlew allbekannt, steht der Französin am nächsten, doch hat die Letztere vor der deutschen Frau eine tüchtige Ader liebenswürdigen Humors voraus.

Greville (Alice Durand) ist ein Pariser Kind, das an der Newa groß geworden, außerhalb Frankreichs gelebt, den nationalen Fehler einseitiger Anschauungen nicht erworben hat. Viele der modernen französischen Schriftsteller schaffen Geschöpfe, die so sehr Product des Bodens sind, dem sie entstammen, daß man sie schon außerhalb des Pariser Weichbildes als unbeseelt verwirft.

Greville hat mit diesen nichts gemein.

Alice Durand erhielt in dem Hause ihres Vaters, des tüchtigen Philologen Henry, eine treffliche Erziehung. Das junge Mädchen arbeitete gleich dem Schüler irgend eines Lyceums, beschäftigte sich mit modernen Sprachen und alten Classikern. Der Vater folgte einem Rufe nach Petersburg, an dessen Universität er die Lehrkanzel der französischen Sprache und Literatur inne hatte. Alice begleitete ihn dahin, sie erlernte rasch das Russische und interessirte sich lebhaft für die neuen Verhältnisse, sowie für die Menschen, deren Charakter trotz der angelernten Civilisation so himmelweit verschieden von dem Pariser Typus war.

Die empfangenen Eindrücke gestalteten sich in der Seele des Mädchens zu klaren Bildern. Alice griff zur Feder und sandte in die französische Tagespresse eine Reihe von Artikeln und Erzählungen, die vielen Beifall fanden.

Die junge Schriftstellerin vermälte sich in Petersburg mit einem französischen Landsmann, Herrn Durand, Professor an der juridischen Facultät. Das Talent der jungen Frau entwickelte sich in der glücklichen Ehe in harmonischer Weise. Das Privatleben, in dem eigentlich nichts vorging, umfing sie wie die Aeste eines schützenden, schattenspendenden Baumes. Sie sah Schmerz und Elend, Gemeinheit und Niedertracht, Unglück und Verworfenheit stets durch den rosafarbenen Schleier ihres eigenen zufriedenen Ich. So kommt es, daß sie in ihren Romanen nach milden Ausklängen sucht, die Schmerzen gerne verklärt und dem crassen unvermittelten Elend, dem schonungslosen Fatum aus dem Wege zu gehen liebt. Greville entnimmt ihre Stoffe dem bürgerlichen Leben, zumeist den Kreisen des Mittelstandes. Nur einige der russischen Schöpfungen wurzeln in der hocharistokratischen Welt, wie die Liebesgeschichte, »Prinzessin Ogheroff«, gerade keine der besten Leistungen der Verfasserin.

Aus den vielen Romanen greifen wir drei heraus, weil sie in drei verschiedenen Erdreichen wurzeln.

Greville lebt seit 1872 in Paris, sie arbeitet mit französischem Thon und verwendet fremdländische Farben. Ohne mit den russischen Schilderungen zu brechen, hat Alice Durand doch auch französische Themas behandelt. Die gleichsam als Musterstücke geltenden Romane sind: »Die Prüfungen der Raissa«, »Die Heiraten Phillibertes«, »Ein Verrath.«

Raissa, ein junges, sehr hübsches Mädchen, die Tochter eines überaus ehrenhaften, alten und unbemittelten Majors, wird auf dem Wege zu ihrem Klaviermeister überfallen, geknebelt, auf einen Schlitten gehoben und von drei jungen, trunkenen Garde-Officieren in ein verrufenes Wirthshaus geschleppt. Nachdem der eine der Officiere ihr gewaltthätig die Ehre geraubt, wird sie mit verbundenen Augen in einer entfernten Straße verlassen. Starr, thränenlos eilt sie nach Hause zu den mittlerweile vor Angst verzweifelnden Eltern. Sie erzählt den Alten das Geschehene und beschwört ihre Unschuld daran auf das Kreuz. Die ohnehin kränkliche Mutter stirbt an der Schmach der Tochter.

Am Hofe lebt in hoch angesehener Stellung eine alte Prinzessin, zu dieser geht Raissa mit der Bitte, ihrem Vater eine Audienz beim Monarchen zu verschaffen. Der Vater meldet das Geschehene, der Kaiser erfährt die schmachvolle Handlung und schwört furchtbare Rache. Das Regiment wird zusammenberufen, Raissa hat in der Dunkelheit weder ihren Verführer, Grafen X., noch die anderen Officiere erkannt, die solidarisch zu büßen schwören.

Drei Officiere, alle aus den ersten Häusern, darunter Graf X., der Neffe der alten Prinzessin, bekennen sich gleich schuldig und geben als Motiv eine in halber Trunkenheit beschlossene Wette an.

Der Kaiser wüthet. Graf X. als der Höchstgestellte wird Raissa heiraten und sofort nach der Trauung mit seinen Gefährten nach Sibirien wandern. Raissa hat ein dunkles Vorgefühl, daß der Graf der Räuber ihrer Ehre gewesen sei. Die Officiere beschließen, sie durch Stillschweigen in Ungewißheit zu lassen und, da sie dieselbe nur für ein Intrigantin halten, die nach einer glänzenden Heirat strebte, so zu bestrafen.

Die Trauung erfolgt in der kaiserlichen Capelle, Raissa betritt als Gräfin das Palais des erzwungenen Gemals, indeß dieser nach Sibirien jagt.

Das würdevolle Benehmen der jungen Frau, die das Palais sofort verläßt, die Güter des Grafen mit großer Strenge verwaltet, selbst in Dürftigkeit lebt und die Revenuen nach Sibirien schickt, stimmen das allgemeine Urtheil günstig für Raissa.

In der Folge erlangt Raissa die Freiheit der drei Gefangenen, sie darf nach Sibirien, um den schwer erkrankten Grafen zu pflegen, der sie erst als Urheberin seiner Leiden gehaßt hat und jetzt in Liebe zu ihr entbrennt.

Der versöhnende Abschluß beendet »Raissa's Prüfungen«. Wir haben den Inhalt des Romanes erzählt, weil er gewagte, an der Grenze des Erlaubten stehende Situationen bietet. Aber gerade hier zeigt Greville ihre Meisterschaft. Das frivole Thema ist mit außerordentlicher Decenz behandelt. Wo Zola und seine Schüler rothe Lichter aufstecken würden, mildert Greville in feinfühliger Weise den grellen Schein. Die Verfasserin trifft den Conversationston der vornehmen Gesellschaft vollkommen, sie vermeidet Banalitäten und versteht es Maß zu halten, den Faden niemals länger zu spinnen, als es dem Leser angenehm ist.

In dem zweiten von uns genannten Romane »Die Heiraten Phillibertes« stehen wir auf französischer Erde. Als echte Pariserin hat Greville für die Schwäche der Provinzbewohner, für alle Kleinstädter ein scharfes Auge und geißelnden Spott. In Philliberte wird der Charakter einer eingefleischten Provinzlerin geschildert, die sich in ihrem Altweibersommer in einen jungen Künstler verliebt, dem die übertragene Dame völlig gleichgiltig ist.

Der Roman soll den Gegensatz zwischen Bildungsfähigkeit und Bildungsunfähigkeit durchführen. Ein Pariser Schriftsteller heiratet ein junges Landmädchen von großer Begabung, eine Verwandte Phillibertes. Das Buch, eine Dorfgeschichte, ist reich an gesundem Humor und fesselnder Darstellung einfacher Motive.

Im »Verrath« begegnen wir der Pariser Gesellschaft. Greville faßt die Schwächen, die Hohlheit und Lüge mit klarem Verständnisse. Die Frau eines Unwürdigen, Madame Moissy, wird von einem ausgezeichneten jungen Manne René angebetet und, trotzdem die Welt sie für kalt und unnahbar hält, dessen Geliebte. René beschwört sie, mit ihm ins Ausland zu fliehen und nur der Liebe zu leben. Die Dame zweifelt an René's Empfindung und will dem Geliebten keine Kette werden. Sie weigert sich. Da unterbricht Herr Moissy, der jahrelang von seiner Frau getrennt war, das Stillleben der Liebenden, er fordert Valentine zurück. Diese folgt dem Gatten. Der verzweifelte René beschuldigt Valentine der Lieblosigkeit.

Er sieht ein junges Mädchen, das Alles daran setzt, um ihn zu gewinnen, hält um dessen Hand an, weil Valentine ihm selbst zu dieser Heirat zuredet.

René's Frau ist jedoch eine herzlose Coquette, Valentinen's Mann stirbt. René und Valentine empfinden die Unmöglichkeit ohne einander zu leben, der Conflict wird immer größer. Frau Moissy kann nicht die Geliebte des Mannes sein, dessen Frau eine Freundin in ihr erblickt. Von seinem herzlosen dummen Weibe gemartert, erschießt sich René, indem er seine Kinder Valentinen empfiehlt. Die von Gram Zerschmetterte lebt nur mehr für diese Pflicht. Die Kinder werden ihr zur Erziehung überlassen, denn die junge Witwe René's geht bald eine zweite Heirat ein. »Ein Verrath« ist auch in deutscher Sprache in mehreren Blättern erschienen.

Das Buch, bis ans Ende fesselnd und spannend, bleibt dennoch nur eine schwache Arbeit.

Wir stehen hier vor einem charakteristischen Merkmal der französischen Literatur.

Das Einmaleins der Sittlichkeit, die klare scharfe Linie der Tugend und des Rechtes sind den Schriftstellern des modernen Paris zum großen Theil abhanden gekommen.

Der Ehebruch legt allerlei Mäntel an, er wird durch die edelsten Gefühle, durch die feinsten Regungen psychologisch motivirt und in ein schneeweißes Gewand gekleidet. Die Pariser Realisten und Idealisten können ohne den Ehebruch nicht auskommen. Doch sonderbarer Weise tauchen die Letzteren ihre Federn nicht in Abscheu. Das Dichterwort: »Wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch« gilt nicht mehr. Das Laster hat aufgehört Laster zu sein, es bekommt einen hochtrabenden Titel und wird psychologische Notwendigkeit.

Greville wäre nicht Französin, wenn sie in diesem Punkte deutsche Anschauung hegte. Mit ihrer Toleranz huldigt sie vielleicht mehr der Mode als ihrem ureigenen Gefühle. Man hat sich gewöhnt, die Consequenz, der zufolge jede Schuld eine Sühne herbeiführen muß, umzustoßen oder doch eine äußerst milde Lösung herbeizuführen. Dieser Vorwurf trifft auch Greville, er charakterisirt ihre Leistungen als Producte der Zeit, er raubt ihnen den Anspruch, die Generation zu überdauern, welche in dieser Weise dachte, fühlte und handelte. Ewig ist nur, was von dem urewigen Sittengesetz beherrscht wird. Euripides, Shakespeare und Sophokles gehört die Ewigkeit – Flaubert und Zola gehören ihrer Zeit, man liest sie, wenn man Bilder derselben sucht.

In der französischen Tagesströmung der Frauenfrage nimmt Greville stets eine achtenswerthe Stellung ein. Sie hat über die Arbeit der Frauen und den Unterricht der Mädchen schätzenswerthe Schriften veröffentlicht. Eine ihrer Erziehungsschriften wurde vom Staat in den Lyceen obligat eingeführt.

Greville ist eifrige Republikanerin. Ohne das politische Gefühl der Pariserinen zu unterschätzen, läßt sich doch die Bemerkung, daß die Republik allen Frauen, die nicht der Geburtsaristokratie angehören, wesentliche Vortheile bietet, nicht unterdrücken.

Während in der Monarchie die Gesellschaft nach den Ahnen der Dame fragt und mit ihren Gesetzen der Verschiedenheit der Stände unverrückbare Grenzen zieht, schwingt sich in der Republik Talent und Bedeutung sofort in die ersten Reihen. Es ist daher nicht zu verwundern, daß die Frauen von der Feder die blau-weiß-rothe Flagge hoch halten, sie sichert ihnen gleichsam den socialen Vortritt, ein Ding, um das seit Kriemhild und Brunhild mancher Streit entbrannte. Die zahlreichen schriflstellerischen Arbeiten haben Madame Durand-Greville behaglichen Wohlstand geschaffen. Die meisten ihrer Schriften sind vielfach aufgelegt worden. Die Dame ist eine einnehmende Persönlichkeit, munter und lebendig, wie die meisten ihrer Landsmänninen, durch das Talent, anregend und angeregt zu plaudern, ausgezeichnet. Sie ist eine häufige Besucherin des Salons der Madame Adam. Jene versöhnende Liebenswürdigkeit, der wir in den Romanen Greville's begegnen und die wir nicht selten durch einen kraftvolleren energischen Zug ersetzt sehen möchten, ist der Erscheinung der Schriftstellerin eigen und gereicht dieser nur zum Vortheile.

Wenn man anerkennt, daß ein großer Theil der modernen französischen Literatur für den deutschen Familienkreis durch ihre derb materialistische, naturalistische Frivolität geradezu ungenießbar ist, wird man mit innigem Vergnügen daran denken, daß Greville eine lange Reihe von Romanen geschaffen hat, die zwar nichts mit der höheren Töchterschule gemein haben, sich zur Lecture für die Frauenwelt jedoch vollständig eignen.

Es sei uns noch gestattet, eine Bemerkung über die Diction anzuknüpfen. Der Deutsche, welcher französisch liest, um sich in dem Idiom zu vervollkommnen, hat gegenwärtig alle Ursache in der Wahl der Schriftsteller vorsichtig zu sein. Unter den wie die Pilze aufschießenden Erzeugnissen befinden sich sehr viele Giftschwämme. Nicht der Inhalt allein, auch die Sprache gehört zu dem Verwerflichen. Der Fremde stößt auf eine Fluth von Ausdrücken, die er sich nur zu leicht aneignet uud die ihn in der französischen, guten Gesellschaft lächerlich machen. Es handelt sich nicht allein um die im Munde des Parisers erträglichen Localismen, sondern um den Jargon verschiedener Kreise, der nur persifflirend in die Literatur eintreten sollte. Es genügt nicht für einen Ausdruck oder eine Redewendung, zu sagen, man habe sie in einem französischen Buche gefunden, man muß auch wissen, ob dieses Buch als Gewährsmann dienen kann. Die Schriften Greville's vereinigen zwei Vorzüge: vornehme elegante Sprache und fesselnden Inhalt. Das gibt ihnen ein Anrecht auf die Gunst des lesenden Publicums.

Wenn wir die leichtgeschürzte Auffassung manches ernsten Vorwurfes in den Werken der Schriftstellerin auch tadeln, es wird Vieles begreiflich. Man muß nur einen Tag die Luft an der Seine geathmet, nur einen Tag gelauscht haben, was die Wellen singen, was die Bäume flüstern.

Lutetia ist eben keine Virginia.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Wienerin in Paris