Travemünde und die Bäder der Lübecker Bucht.

Von Saßnitz hatten wir nach Warnemünde gewollt, um von dort, wenn die Zeit langte, einen Abstecher nach Rostock zu machen, das den meisten unbekannt war.

Aber der Wind stand so scharf auf den Hafen, dass der Kapitän es für ausgeschlossen hielt, mit der tiefgehenden „Hamburg“ an eine Landung zu denken.


Wir sahen im Morgenlicht die Stadt deutlich vor uns und etwas weiter im Land die hochragenden Türme von Rostock in stolzer Gruppe. Aber wir mussten verzichten und steuerten auf Travemünde, das wir kreuzend erst gegen Abend erreichten.
Rostock hätten wir gar zu gern gesehen oder wieder gesehen, und gerade jetzt hätte es uns gereizt einen Ausflug nach der Fürstengruft im nahen Doberan zu machen, da ich vor einiger Zeit auf dem Hauptaltar ein Werk unseres Hamburger Meisters Bertram fand (um 1370—80), die Figuren der untern Reihe des Aufbaus.
Am nächsten Morgen wanderten wir zur Post, die in Travemünde ein ebenso furchtbares neues gotisches Haus bewohnt wie in Saßnitz, und besahen bei der Gelegenheit die alte Stadt.

Ich war seit Jahren nicht durch diese Straßen gegangen und fand doch alles ziemlich unverändert. Nur die Straße an der Trave mit den niedrigen Häusern hinter den geschorenen Bäumen hatte ich schöner in der Erinnerung. Es waren zu viele Glaskasten vor die alten Hausfronten gesetzt, und überall hatte der holzfarbene oder steinfarbene Anstrich den weißen verdrängt und hatte alles Leben zerstört.

Aber im Stadtteil um die alte Kirche ging es noch an. Welch ein Reichtum in der Abwandlung der wenigen Typen, die das Bedürfnis hervorbringt. Welche Angemessenheit und Vornehmheit der Mittel. Hier könnte eine deutsche Bauakademie, den Lehrkörper eingeschlossen, an einem Tage für das, was das Leben, was unser Leben heute braucht, mehr lernen als in Nürnberg, Florenz oder Rom.

Einfache Schiffer und Fischer haben die Häuser bauen lassen und pflegen sie, daß sie frisch aussehen, auch wenn sie Jahrhunderten stand gehalten haben. Steht einmal ein moderner Neubau dazwischen, so wirkt er wie ein Kadaver.
Der einfachste Typus hat im Erdgeschoss unter dem Giebel nur die Haustür und ein einziges Fenster. Aber das Fenster ist sehr breit, vier oder fünf Flügel breit, und reicht bis zur Decke des Zimmers. Die obern Scheiben können für sich geöffnet werden. Das schafft frische Luft und stört die Blumen nicht, die unter der pflegsamen Fürsorge kräftig gedeihen. Ein reizender Anblick, solch ein Fenster mit weißgestrichenen Rahmen in der roten Ziegelwand und mit üppigem Blumenflor hinter den Scheiben. Blumenkästen vor den Fenstern kommen nicht vor, weil die Fenster der Stürme wegen nach außen schlagen.

Unter dem Fenster steht jedesmal die grün oder weiß gestrichene Bank, die an schönen Sommerabenden alle Hausbewohner hinauslockt.

Die Haustür bewahrt in Travemünde noch manche altertümliche Züge. Bei der ältesten sitzt das Oberlicht, das bei geschlossener Tür die Diele erhellt, noch oberhalb des Türrahmens, ein aufrecht gestelltes Rechteck aus neun kleinen in Blei gefassten Scheiben. Erst gegen das neunzehnte Jahrhundert wird es hier, wie es in den großen Städten schon länger üblich war, unter dem Türsturz angebracht, als ein kleines Schmuckstück mit bunten Rahmenfüllungen ausgebildet, und im Gegensatz zur grüngestrichenen Tür stets weiß gestrichen wie die Fenster. Die Türen haben nicht selten noch die alten Klopfer oder wenigstens die Rosetten, an denen sie gesessen. Hie und da ist ihre obere Hälfte für sich beweglich, als sogenannte „Klöhntür“, ein Motiv, das seinen unleugbaren praktischen Wert hat, wenn er auch nicht gerade auf dem Gebiet liegt, auf das der volkstümliche Name anspielt.

Wo man ein altes Haus dieser Art modernisiert hat, indem statt des einen breiten Fensters zwei schmale in Hochformat angebracht wurden, die dann, wie die Tür, holzfarbenen Anstrich erhalten, ist es mit dem Zauber zu Ende. Das Haus wird sofort klein, ärmlich, unmonumental. Ein Vergleich mit der altern Form lehrt den, der es noch nicht empfunden hat, dass man, um eine monumentale Wirkung zu erreichen, jede Form so groß wie möglich machen muss.

Es ist ein Trost, dass in unserer Nähe solche kleine Städte wie Travemünde noch ziemlich unberührt dastehen, so dass die modernen Bauten, die hie und da auftauchen, nur dazu dienen, die Schönheit, Sachlichkeit und Angemessenheit der alten heimischen Bauweise auch dem Widerstrebenden sinnfällig zu machen. Vielleicht, dass der letzte Augenblick, aus dieser Quelle zu schöpfen, von Fachleuten und Laien doch nicht versäumt wird.

Wer von Hamburg aus Travemünde besucht, kann in diesen alten Straßen sehr viel lernen, das nicht in den Büchern steht.

Er täte auch wohl daran, sich die Wirkung der geschorenen Allee am Strande unbefangen klar zu machen. Will man in der Stadt Alleen haben, so sollte man sie scheren, wie es unsere Vorfahren immer taten. Sie wussten, wie unbequem es ist, wenn die Bäume in die Höhe und Breite wachsen und den Häusern Licht und Luft nehmen. Als die sentimentale Naturanschauung der Romantik, unter der wir heute noch leiden, vor hundert Jahren weitere Kreise ergriffen hatte, taten sich in Hamburg Naturfreunde zusammen, um das Scheren der Bäume zu unterdrücken. In der Stadt haben sie Erfolg gehabt: nur die Bewohner der Häuser an der Alster haben allen Verlockungen Stand gehalten, weil sie sich die Aussicht nicht wollten zuwachsen lassen, und sie haben uns ein Stück ernster Schönheit und praktischer Anlage gerettet. Die Allee an der Alster ist die einzige, die nicht beengt.

Ein neues Travemünde ist entstanden, seit die Stadt Lübeck das Bad übernommen hat. In den letzten Jahren hat sie sehr viel getan, so dass Travemünde heute zu den elegantesten Bädern an der Ostsee gehört.

Wer aber im neuen Stadtviertel am Strande die künstlerische Spur von Alt-Travemünde sucht, bemüht sich vergebens. Es muss zugestanden werden, dass die jüngsten Bauten die besten Absichten verraten. Gegen die entsetzliche Bauerei in Binz wirken die neuen Villen in Travemünde vornehm und würdig. In einem Falle darf sogar angenommen werden, dass als Vorbild die schönen klassizistischen Villen Lübecks vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts vorgeschwebt haben. Aber im allgemeinen herrscht der leidige internationale, auf die englischen Vorbilder zurückgehende Eklektizismus, der nur immer wieder auf Einfälle und Ornament ausgeht und nach wie vor in der Fassade stecken bleibt.
Was unserer gesamten bürgerlichen Baukunst fehlt, offenbaren die neuen Villenstädte an der Ostsee in erschreckender Klarheit. Jedes Haus will ein Individuum sein, anders aussehen als alle andern, womöglich alle Nachbarn übertrumpfen.

In Zeiten gesunden Gefühls wird das Gegenteil angestrebt: der Typus. In unserer Gegend gab es das Patrizierhaus der Stadt, das größer oder kleiner angelegt wurde, aber in den Hauptzügen keinem Wechsel unterlag, es gab das Bauernhaus, das örtlich abgewandelt wurde aber in Grundriss und Aufriss durch die Jahrhunderte gleich blieb. Es gab das Haus des Kätners, des Fischers und Schiffers, es gab das Haus des Kleinbürgers. Wer bauen wollte, wusste genau, wie sein Haus aussehen würde, weil er seinen Stand und sein Bedürfnis kannte und weil der Stil sich von selbst verstand. Das Ergebnis war die große Gleichmäßigkeit der Gesamterscheinung und eine unsagbare Fülle von Abwandlungen in den Einzelheiten. Nicht das Haus wurde Individuum sondern die Tür oder der Giebel. Heute weiß keiner, der bauen will, wie sein Haus aussehen wird. Heute setzt die Erfindung da ein, wo sie eine unmögliche Aufgabe vorfindet, bei der individuellen Gestaltung der Gesamtanlage und des Gesamteindrucks. Es geht beim Haus wie beim Stuhl. Die Maler, die jetzt unsere Stühle zeichnen, tun gern, als wäre das Problem des Stuhls noch nie gestellt und nie gelöst, und als seien sie berufen, das Versäumte nachzuholen. Was dabei herauskommt, sind mit seltenen Ausnahmen ungeheuerliche Ausgeburten an Geschmacklosigkeit und Unbrauchbarkeit. Wie es auch nicht anders sein kann, denn ein einzelner Mensch kann unmöglich soviel Arbeit leisten, wie fünfzehn Geschlechter von Spezialisten in Stuhlbau — so viele etwa haben Erfahrungen gesammelt, vermehrt und weitergegeben, bis am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Muster praktischer Brauchbarkeit und technischer Vollendung erreicht waren.
Wir müssen in unserer bürgerlichen Baukunst zu einer neuen Typenbildung kommen, wenn wir aus dem Tohuwabohu, das uns umgibt, herauswollen. Solche Typenbildung tritt schon auf, wo das Bedürfnis sich nicht länger knechten lässt, im Berliner Geschäftshaus, im Hamburger Kontorhaus. Sie fehlt noch oder steckt in den Anfängen der Entwicklung im Einzelwohnhaus, im Zinshaus, in der Villa, im Logierhaus der Badeörter.

Diese Typen können nur im Anschluss an örtliche Bedingungen gesucht und gefunden werden. Es gehört sich nicht, uns, wie es von einer jungen Architektenschar so vielfach versucht wird, die Bausprache der Engländer aufdrängen zu wollen.

Als wir Travemünde verließen, das einer großen Zukunft entgegenstrebt, dachte ich an das hamburgische Seebad Cuxhaven, an die starke materielle Entwicklung dieser einst so reizenden Stadt mit ihrer reichen Umgebung, und an die niederdrückende Barbarei der neuen Architektur, die das Bild der Stadt zerstört hat, so dass es an vielen Stellen ganz unleidlich geworden ist. Und ich fragte mich, warum man den Dingen den Lauf lässt, auch wenn es deutlich erkennbar wird, dass sie ins Verderben rennen. Gibt es innerhalb der bestehenden Einrichtungen keine Möglichkeit, dem groben Unfug zu steuern?

Von der Reede von Travemünde aus, wo die „Hamburg“ verankert lag, besuchten wir mit unserer flinken Pinasse, die für unser Gefühl etwas von einem lebenden Wesen angenommen hatte, die übrigen Seebäder an der Neustädter Bucht von Niendorf bis Scharbeutz.

Niendorf ist das älteste. Es hat viel von seinem ursprünglichen Wesen bewahrt. Seine Bauernhäuser sind zu Logierhäusern ausgebaut und haben auch noch hier und da ihre ursprüngliche Farbigkeit bewahrt. Zu irgendeiner Zeit hat irgend jemand die Giebel der niedersächsischen Bauernhäuser mit ausgesägten Ornamenten im Schweizerstil zu schmücken begonnen, und weil es sehr geschmacklos und unpassend war, ist es überall nachgeahmt worden.
Bis zu Timmendorf, dem nächstfolgenden größeren Badeort, ist der Kranz von Häusern an der Bucht schon fast geschlossen. Hier hat der hochbegabte Griesebach gebaut. Wir konnten im Vorübergehen sein Haus nicht wiederfinden. Es ist alles schon hinter dem Grün der Büsche und Bäume versteckt. Griesebach wäre der Mann gewesen, den Typus des Landhauses hinzustellen, soweit er jetzt schon bestimmt werden kann, und soweit ihn der Architekt bestimmt. Denn im letzten Grunde baut ja nicht der Architekt das Haus sondern das Leben des Bewohners, die feste Sitte, für deren Bedürfnisse gesorgt werden muß, und besondere Neigungen und Interessen, für die durch Musik- oder Bildersäle gesorgt werden muß. Wir hätten längst eine eigenartige und ausreichende bürgerliche Baukunst, wenn wir zu festen Lebensformen gelangt wären. Aber das ist eben unser Erbfehler, daß jeder sich sein Leben mit Eigensinn auch in den gleichgültigsten Dingen anders einrichten will als die andern, unsere Eigenbrödelei, unser Unvermögen, die kleinen persönlichen Wünsche und Neigungen zugunsten einer großen allgemeinen Lebensform, die Zeit, Kräfte und Mittel spart, zurückzustellen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Sommerfahrt auf der Yacht Hamburg