Rügen.

Von einer Fahrt nach Schweden hatte ich die Erinnerung, in Saßnitz des Nachts ausgestiegen, zum Hafen hinabgeklettert zu sein und vom Ufer in der Dunkelheit nichts gesehen zu haben. Ein andermal hatte ich auf einem Nachmittagsausflug von Greifswald über Stralsund den Boden der Insel betreten, abergerade dort hat das Gelände nichts eigentlich Charakteristisches. Eine Reise nach Rügen zu machen, hatte ich mich nie entschließen können, denn Bilder und Photographien, die ich kannte, hatten mich nicht sehr angezogen, und was ich an mündlichen Äußerungen zufällig gehört, hatte mich mit einer Art Vorurteil erfüllt.

Als wir uns von Bornholm kommend der Insel näherten, kam ich mir wie entrückt vor. So hatte ich mir in meiner Kindheit eine Fahrt durch den stillen Ozean geträumt, wo unbekannte unbewohnte Eilande aus der blauen Flut auftauchen, den üppigen grünen Mantel des Urwaldes über Berg und Tal geworfen und über weißen Felsufern nachschleppend.


Rügen hat an dieser Ostseite etwas Traumhaftes und Entlegenes, etwas, das nicht zu Deutschland oder irgend einem europäischen Kulturland passt, weil keine Spur menschlichen Daseins erkennbar ist. Ein Wall weißer Klippen und darüber das lückenlose Grün des einen ungeteilten Buchenwaldes, der alle Formen des hochansteigenden Berggeländes erraten lässt und sich über die weißen Steilufer neigt.

Das Fremdartige blieb ungebrochen, als wir um das Vorgebirge segelten und Saßnitz auftauchen sahen. Mit seinen weißen Häusern klettert es in die breiten Waldhügel hinein wie eine mittelmeerische Küstenstadt.

Wir nahmen uns vor, zwei Tage in Rügen zu bleiben.

Am ersten Tag machten wir von Saßnitz aus den Spaziergang nach der Stubbenkammer.

Vom Strand aus sieht die Stadt, die aus der Ferne sich so vornehm aufgipfelt, banal aus wie die meisten deutschen Badeörter. Wer vor diesen gemauerten Gemeinplätzen steht, und daran denkt, dass die Zeit, wo man solche Aufgaben ganz allgemein in Deutschland mit künstlerischem Takt gelöst hätte, noch kein Jahrhundert hinter uns liegt, und dass wir Millionen über Millionen für unsere Bauakademien und Bauschulen ausgegeben haben, um solches Elend zu erzeugen, dem schaudert vor den Zuständen, in die wir hinein geboren sind, und er mag sich wohl nicht ohne Bangen die Frage vorlegen, wie viel Arbeit dazu gehört, um unser Volk aus diesem Abgrund zu ziehen, und wer sie leisten wird.
Wir mussten zunächst die Post aufsuchen. Während die Hotels am Strande leichtfertiger Import aus Berlin sind, ohne einen Blick auf die Eigenart der noch vorhandenen Fischer- und Bauernhäuser, hat die Post ihren Palast mit derselben Rücksichtslosigkeit in einem Rohbau — nomen et omen — hannoverschen Stils hingesetzt, der weder zum Alten noch zum Neuen und ebensowenig zum Charakter der Landschaft passt. Der Aufenthalt in der Schalterhalle mit der unsäglichen Geschmacklosigkeit und Sinnwidrigkeit ihrer Dekoration gehört zu den unangenehmsten Erlebnissen. Der Eindruck legt sich wie eine Last von Kummer auf das Gemüt.

So rasch wir konnten, eilten wir zum Strand hinab und suchten durch einen Blick aufs Meer die Augen zu befreien.

Der Weg zur Stubbenkammer, den wir einschlugen, führt eine weite Strecke am Strand entlang. Links das weiße Steilufer mit den überhängenden Buchen, rechts zwischen Weg und Meer das Gerolle der ausgewaschenen Findlingsblöcke, die einst in dem zernagten Ufer steckten.

Je weiter wir uns von Saßnitz entfernten, desto wilder wurde das Ufer. Hier und dort lagen draußen auf dem Geschiebe der Blöcke die Leichen junger und alter Buchen, die hoch vom Rand des Ufers heruntergefallen waren, und hoch oben am grünen überstehenden Rand hingen mit letzter Wurzelkraft angekrallt die Opfer, die der nächste Sturm sich holen wird.

Den Abschluss dieser gangbaren Wegstrecke bildet eine Schlucht, die ein dünner Wasserfaden im Lauf der Zeit ausgegraben hat. Vor den Gefahren des weglosen Strandes jenseits der Schlucht warnen die Tafeln, aber man sieht doch immer noch einzelne dunkle Flecke sich in unregelmäßigen Linien über die Steine bewegen, Schwärmer, die die unberührte Natur vorziehen.

Durch die Schlucht stiegen wir dann zum Walde hinauf.

Stundenlang ging der Weg über Berg und Tal am hohen Ufer entlang, von Zeit zu Zeit führte er auf eine Klippe oder ein steil abfallendes Vorgebirge, wo zwischen weißen Stämmen ein Ausblick über das Meer frei lag, und bog dann gleich wieder in den dichten Wald ein.

Die Ausblicke hatten, obwohl sie einander ähnlich waren, nichts Eintöniges, denn von Mal zu Mal stand der Fuß höher über dem Wasserspiegel, und von Mal zu Mal dehnte sich die blaue Fläche weiter gegen den fliehenden Horizont. Die Stimmung steigerte sich in langsamer Schwellung, bis zuletzt auf der Stubbenkammer die schwindelnde Höhe erreicht war. Am Strand zu Füßen des Königsstuhls sahen die Böte wie Kinderspielzeug aus, und wie Punkte bewegten sich die Menschlein hin und her.

Ein kurzer Abstecher führte zum Herthasee, einem Teich, dessen bescheidene Ausdehnung und freundliche Umgebung der Erwartung, die eher auf etwas Düsteres und Unheimliches ging, nicht entsprach. Geheimnisvoll und schaurig wirkte daneben der mächtige, vom Hochwald zurückeroberte Burgwall, dessen regelmäßige steile Seiten auf die Hand des Menschen hinwiesen. Es heißt, dass in der Grube, der seine Massen entnommen, der See sich gebildet habe.
Wir stiegen zum Strand hinab und fuhren mit dem Dampfer zurück nach Saßnitz, nahe genug am Ufer entlang, um noch einmal die Herrlichkeit zu genießen.
Als wir nach dem Essen auf Deck stiegen, dunkelte es schon. Saßnitz war mit seinen weißen Häusern in den Wald gesunken und tauchte nun allmählich als Licht wieder auf. Es sah sehr traulich aus, wie im Wald hoch über der Stadt, wo am Tag kein Haus zu sehen war, einzelne Lichter aus dem gleichmäßigen Dunkel hervorbrachen.

Am nächsten Morgen wurde ein Ausflug nach Putbus und Bergen gemacht.
Wir landeten in Binz, das wir abends als Lichterstreifen am flachen Waldufer, bei Tag als weißen Streif in der Ferne hatten liegen sehen.

Der Strand ist ausgezeichnet, unvergleichlich besser als in Saßnitz. Die neue Architektur des Strandhotels entspricht in ihrem billigen Pomp mit zahllosen Türmchen schlechter Zeichnung, mit ihren ungefühlten Verhältnissen und grausam banalem Ornament dem Zustand unserer heutigen deutschen Kultur. Als Deutscher muss man sich schämen, wenn man so unvermutet diesem Dokument deutscher Kunst gegenübersteht. Gewiss, es kann ja nicht anders sein, es ist der Ausdruck des vorhandenen Unvermögens und der Gesinnung, die nun einmal herrscht. Aber traurig stimmt es doch.

Traurig war auch der Anblick der wimmelnden Menschheit. Die Karikaturen der deutschen Typen im Simplicissimus sind nicht übertrieben. Was einigermaßen menschlich aussah, war nicht mehr deutsch sondern eine mehr oder weniger gelungene Nachahmung englischer Vorbilder.

Gibt es ein hässlicheres Volk als die Deutschen?

Vom schönen Park zu Putbus, den wir mit der Eisenbahn erreichten, hatte ich viel gehört und erfuhr die übliche Enttäuschung. Nur die schönen alten Alleen rechtfertigten den Ruf. Der Park selbst, der vielleicht einmal als englische Anlage nicht so übel gewesen sein mag, hat durch die wüste Bepflanzung allen räumlichen Reiz verloren. Der moderne Gärtner hasst alle Größe und allen Rhythmus. Wo sich die Fläche eines Rasens dehnt, zerstückelt er sie durch einzeln draufgepflanzte Koniferen, wo eine Gruppe alter Bäume mit herrlichen Stämmen geheimnisvoll aus dem Boden aufsteigt, verhüllt er die Wirkung, die gerade durch das sichtbare Aufstreben des Stammes entsteht, mit Gebüsch. Aber die Alleen sind wirklich ein Staat, und wer sich müde gesehen hat in dem Park, immer gegen junge seltene Bäume und Büsche an, die die alten um die Wirkung bringen, dem schwillt die Brust, wenn eine Biegung des Wegs ihm den Zauber des Rhythmus und des gestalteten und beherrschten Raumes in einer der Alleen enthüllt, deren schönste sich über Berg und Tal zieht.

Was ich gern gewusst hätte, das Alter der Alleen, konnte ich nicht erfahren. Fand der Gründer der Stadt Putbus sie am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts schon vor? Dann erklärt sich das Spätere. Hat er sie mit angelegt, als er den „Zirkus“, den runden Platz ausmaß, die große Hauptstraße und den Markt? Das ließ sich bei dem kurzen Aufenthalt nicht feststellen. Ich möchte annehmen, dass die Alleen einem ältern Schlosspark entstammen und jetzt nur noch unvollständig erhalten sind, so dass der Organismus einer großen regelmäßigen Anlage nicht mehr sichtbar ist.

Auf der Wagenfahrt nach Bergen hatten wir in diesem lieblichen Gelände das Gefühl, dass hier wohl wie in der englischen Landschaft im Umkreis der Schlösser eine ordnende Hand tätig gewesen sei, die mit feinem Gefühl die Massen verteilt hat.

Bergen ist ein hübsches altes Städtchen, in dessen hochgelegener Kirche uns eine üppig entwickelte Wandmalerei romanischen Stils überraschte. Zwar ist sie restauriert, und wo ein Bild zerstört war, hat der Restaurator aus eigenem eine Komposition eingefügt, indem er sich, soweit er vermochte, der Farbe und Formengebung seines alten Vorgängers anschloss. Aber im ganzen schadeten diese Zutaten nicht viel. Auf dem Chor sind Paradies und Hölle geschildert, wobei natürlich die Hölle der Phantasie des Künstlers viel mehr zu tun gegeben hat als der Himmel (oder eben das Paradies).

Die Bahn brachte uns von Bergen nach Saßnitz.

Als wir zu Schiff gingen, hatten wir den lebhaften Wunsch, einmal zurückzukehren und Rügen auf einer Fußwanderung genauer kennen zulernen.

Hie und da rief mir ein Ausblick auf Meer und Waldufer die Werke des größten Meisters ins Gedächtnis zurück, der in Rügen seine Studien gemacht, des Malers Caspar David Friedrich, den man zu unrecht vergessen hat, und den die nächste Generation mit Staunen und Ehrfurcht betrachten wird. Das schönste in unsern Galerien von ihm erhaltene Bild ist gerade ein Motiv aus Rügen im Museum zu Weimar.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Sommerfahrt auf der Yacht Hamburg