Meister Carolus (Hamburg 1255).

Dr. A. Haseloff, der mit dem Grafen Erbach die Geschichte der deutschen Miniaturmalerei des Mittelalters erforscht, hatte mir vor einem Jahre geschrieben, daß er auf der Kopenhagener Bibliothek eine dreibändige Bibel gefunden, die im Jahre 1255 von Meister Carolus in Hamburg mit Miniaturen ausgemalt sei für den Hamburger Domherrn Berthold. Vor hundert Jahren sei sie in Hamburg mit den übrigen Schätzen der Dombibliothek verkauft worden.
Er teilte noch einige Einzelheiten mit.

Ich war nun zwar nicht nach Kopenhagen gegangen, um die Bibel zu sehen, aber ich konnte es doch nicht über mich gewinnen, die Stadt zu verlassen, ohne dies ehrwürdige Denkmal unserer heimischen Kunst aufgesucht zu haben.
Die Zeit wurde von einem Frühstück im Yachtklub abgezwackt.


Es ist ein Wunder, dass die königliche Bibliothek noch vorhanden ist. Sie liegt in einem Nebenflügel des königlichen Schlosses, und man sollte denken, dass bei der ungeheuren Glut des Brandes von 1884 die Dachstühle und Bücherbörter von selber mit aufgeflammt wären.

Obwohl die Bibliothek Ferien hatte, empfing mich der Direktor Herr Dr. Lange und führte mich zu dem Schatze, dessen besonderer Wert in Kopenhagen wohl gewürdigt wird. Die Riesenfolianten wurden vor mir ausgebreitet, und mit Ehrfurcht öffnete ich die Pergamentblätter.

Das war durch viele Geschlechter in Hamburg bewahrt worden. Die Eltern vieler Lebender hätten es noch in hamburgischem Besitz sehen können. Und die Stimmung einer einzigen Generation, die die Fühlung mit der Vergangenheit verloren hatte, die alles neu anfangen wollte, der das lebendige Gefühl der Überlieferung abhanden gekommen war, genügte, um es uns zu entreißen. Bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts besaß Hamburg in den Kirchen und Klöstern und im Rathaus unsagbare Schätze mittelalterlicher Kunst, Stoff genug, um ein großartiges Museum auszustatten, wenn es nicht an dem Ort seiner alten Bestimmung bleiben sollte, und seit der Rat 1787 mit der Versteigerung seiner Gemäldesammlung im Rathause begann, ist mit dem unermesslichen Besitz innerhalb eines Menschenalters völlig aufgeräumt worden, und was mit dem Dom, dem Johannis- und Magdalenenkloster nicht vorher schon zerstört worden war, hat dann das Feuer vernichtet.

Es ist nicht nur materieller Wert verschleudert und zugrunde gegangen. Wäre das Beste uns erhalten geblieben, so hätte Hamburg seinen Rang in der Kunstgeschichte unseres Volkes nicht verloren.

Wir haben uns in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bemüht, die Trümmer der heimischen Entwicklung in Hamburg selbst an aller Welt Enden aufzusuchen und soweit es möglich war, zurück zu gewinnen.

Unser Museum für hamburgische Geschichte, das Museum für Kunst und Gewerbe und die Kunsthalle treten mit diesen Schätzen ins zwanzigste Jahrhundert.

Aber wie armselig erscheint das alles gegen den ungeheuren alten Kultur- und Kunstbesitz, mit dem Hamburg in das neunzehnte Jahrhundert hinüber lebte.
In der Sammlung der Geschichte der Malerei, die die Kunsthalle seit 1890 pflegt, sind wir nun bis zu einem gewissen Abschluss gekommen.

Das Geschick ist uns bei dieser Arbeit über Hoffen und Verdienst günstig gewesen.

Wir können am Besitz unserer Galerie heute von 1379 ab eine tüchtige, in einzelnen Zeitaltern hervorragende heimische Malerei durch alle Jahrhunderte verfolgen. Aus der dunkeln Zeit von 1379 bis 1400, aus der es in Deutschland Malernamen die Fülle, Gemälde nur in geringer Zahl und Werke, deren Urheber gesichert ist, fast gar nicht kennt, grüßt uns der Charakterkopf Meister Bertrams, von dem wir mehr als dreißig Bildkompositionen und über achtzig Skulpturen zurückerworben haben, darunter den Hauptaltar der Petrikirche. Die Kenntnis dieser Werke wird für die Beurteilung der gesamten deutschen Kunst jenes Zeitalters grundlegend sein, weil nirgends, auch in Köln nicht, schriftliche Urkunden — wir verfügen über zwei ausführliche Testamente Bertrams — und Denkmäler sich in solcher Fülle ergänzen. Wir erkennen schon heute in Bertram alle die Züge lebendig ausgeprägt, die durch die Jahrhunderte für die Eigenart der großen germanischen Meister bezeichnend geworden sind.

Näher steht uns die reifere Kunst von Bertrams Nachfolger und Schüler Francke, die sich im Altar der Englandfahrer von 1424 und dem etwas später anzusetzenden Christus als Schmerzensmann offenbart. Künstler und Forscher sind sich darüber einig, dass Francke zu den größten Koloristen unserer gesamten Kunst gehört, und im Aprilheft 1904 sagte die Gazette des Beaux Arts, die einen reichillustrierten Artikel über Francke brachte, von dem Saal: Car ces Tableaux (die Bilder Franckes) sont devenus la gloire d'art de la somptueuse ville, et il est permis d'ecrire qu'il n'existe pas un ensemble aussi important de la peinture allemande du XVe siecle dans l'Alle-magne entiere.

An einzelnen Gemälden können wir dann im Lauf des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts verfolgen, wie die Hamburger Kunst in die Gefolgschaft der am Rhein und in den Niederlanden aufgeblühten Schulen gerät, wie um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts vorübergehend eine deutsche, die Kranachschule, einen Senkung hersendet in den „Werken Franz Timmermanns, wie aber schon um 1563 in der großen Kreuzschleppung von Franciscus Franck, der, koloristisch selbständig, in der Form von Pieter Aertsen abhängt, ein neuer Strom der Anregung aus den Niederlanden zu uns dringt. Die eindringlichen Bildnisse David Kindts bezeichnen um die Wende des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts eine Zeit, aus der uns nur wenige Kunstwerke erhalten sind, und mit dem gesteigerten Wohlstand nach der Überstehung des dreißigjährigen Krieges können wir in den Gesellschaftsbildern, Bildnissen, Heiligenbildern von Matthias Scheits und seinen Zeitgenossen eine im Anschluss an die holländische Kunst rasch entwickelte Produktion verfolgen, die im Bildnis und Stilleben bis weit ins achtzehnte Jahrhundert fortlebt, wo Denner und van der Smissen die letzten europäischen Modemaler deutscher Herkunft waren.
Mit ihnen schien uns bisher eine Entwicklung zu schließen. Was nach ihnen kam, sehen wir als durch einen Bruch von ihnen getrennt an. Aber nun lässt sich in unserer Sammlung nachweisen, dass Jens Juel, der spätere Direktor der Kopenhagener Akademie, dem Ph. O. Runge künstlerisch mehr als irgend einem andern zu danken hatte, in seiner Hamburger Lehrzeit mit Denner und van der Smissen eng zusammenhängt.

Mit Runge erhebt sich dann im neunzehnten Jahrhundert bei uns eine höchst eigenartige, die längste Zeit unbeachtet gebliebene und auf Jahrzehnte, bis unsere Sammlung sie zur Darstellung brachte, vergessene Blüte heimischer Kunst, deren spärlich auf uns gelangte Erzeugnisse heute mit zu unsern kostbarsten Besitztümern gehören. Die Namen der Hamburger Nazarener Oldach, Speckter und Milde, der ersten deutschen Vertreter der Stimmungslandschaft Vollmer, Morgenstern, Adolph Carl, Gurlitt, der Bildnismaler und Landschafter Gensler, des Darstellers unseres Bauernlebens Hermann Kauffmann gehören künftig nicht nur der örtlichen Kunstgeschichte an.

Angesichts der Bilder unseres ältesten Hamburger Meisters in der Bibel von 1255 dachte ich an die lange Reihe bedeutender Künstler, die unser Boden seit jener Zeit hervorgebracht hat, und die — wenigstens im neunzehnten Jahrhundert — fast ohne Ausnahme darunter gelitten haben, dass sie in der Heimat kein Vertrauen und keine Liebe fanden.

Und auf dem Weg zum Yachtklub, wo die Freunde auf mich warteten, musste ich an die ganz verschiedene Entwicklung denken, die die Kunst auf Kopenhagener Boden genommen.

Seit unausdenklicher Zeit sitzt auf diesem Boden dieselbe Rasse, deren künstlerische Begabung nicht in Frage steht. Eine dänische Malerei, die den Namen verdient, gibt es jedoch seit kaum neunzig Jahren. Während in Hamburg schon viele Jahrhunderte lang große Kunstwerke entstehen konnten, war Kopenhagen in allem wesentlichen auf das Ausland angewiesen. Hanseatische Kunst des Mittelalters, niederländische des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, hamburgische Kunst der Malerei — die Dittmars im siebzehnten Jahrhundert — und der Silberschmiedekunst — die berühmten Werke des Hamburger Goldschmids Mores — dann die französische Kunst des achtzehnten Jahrhunderts deckten den Bedarf des Hofes.

Eine Wendung auf das Nationale wurde erst 1765 durch die Gründung der Kopenhagener Akademie angebahnt, an der gegen Ende des Jahrhunderts zwei bedeutende Meister dänischer Geburt aber, wie man es im Norden nennt, europäischer Erziehung wirkten, Abildgaard, der Phantasiekünstler und Jens Juel, der Porträtist, Landschafter und Stillebenmaler.

Erst mit der Rückkehr des Davidschülers Eckersbergs beginnt die eigentlich dänische Kunst. Er wendet das Können und die Erkenntnis, die er in Paris und Italien gewonnen, frischweg auf seine Heimat an, und seiner Schule entstammt die lange Reihe bedeutender Künstler, die eine dänische Kunst schufen, bis um 1880 ein neuer Einstrom französischer Ideen folgte, diesmal der impressionistischen.
Es ist eine sehr auffallende Erscheinung, dass nun im neunzehnten Jahrhundert mit einem Schlage diese Fülle von Talenten auftritt, und es knüpfen sich viele Fragen daran, die schwer zu beantworten sind. Wo sind die Talente des achtzehnten, des siebzehnten und aller früheren Jahrhunderte und Jahrtausende geblieben? Dass künstlerische Begabung in der Rasse steckt, beweisen die Kopenhagener Sammlungen bis zurück in die Steinzeit. Wie weit hängt das plötzliche Aufblühen der dänischen Kunst mit dem Vorhandensein der Akademie zusammen? Wäre sie ohne diesen von den Königen nach französischem Vorbild geschaffenen Mittelpunkt der Studien überhaupt entstanden? Wie weit hätte sie anders werden müssen?

Es muss schon in der Gesamtseele des Volkes im neunzehnten Jahrhundert eine Neigung zum künstlerischen Ausdruck neu aufgetreten sein, und man greift wohl nicht fehl, wenn man, wie im übrigen Europa, die treibende Ursache in der Befreiung des Bürgerstandes sieht.

Für den Bürgerstand schufen die Künstler, dem Bürgerstand gehörten sie an. Was für Hof und Adel geschaffen wurde, trug ein bürgerliches Gepräge, oft bis an die Grenze der Karikatur, da gewisse äußere Fürstenzüge unvermittelt neben der schlichten Bürgerlichkeit stehen.

Uns Hamburger zieht in der dänischen Kunst des neunzehnten Jahrhunderts eine auffallende Verwandtschaft mit der eigentlich hamburgischen an. Die Landschaften und Bildnisse des jung dahingerafften Köbke sind aus derselben Stimmung und Gesinnung geboren wie die von Oldach, wenn sie auch in den Ausdrucksmitteln noch so verschieden sind.

Es ist vielen schon aufgefallen. Fritz August von Kaulbach, dem ich Oldachs Bilder gezeigt, und der sich für diese zarte Kunst begeistert hatte, schickte mir zur Erinnerung an dieses Erlebnis Emil Hannovers Buch über Köbke. Muther spricht in einem Aufsatz sogar vom Einfluss der dänischen Kunst auf die hamburgische. Es lassen sich auch Fäden genug nachweisen, die sich herüberspinnen, aber erst zu einer Zeit, als das eigentlich Hamburgische sich längst ausgesprochen hatte. Gurlitt, Morgenstern und Vollmer waren in Kopenhagen. Gurlitt ist unmittelbar Schüler der Kopenhagener Akademie. Aber er kommt erst in den Dreißigerjahren nach Deutschland zurück, und Morgenstern und Vollmer malen ihre frischesten Bilder in Hamburg, ehe sie Kopenhagener Einflüsse erfahren hatten. Sie brauchten sie nicht, denn sie hatten die befreiende Panoramenmalerei Suhrs hinter sich, dessen Gehilfe sie gewesen waren. Erwin Speckter zeichnet und malt von seiner ersten Kindheit an dieselben Dinge die auch Köbke anzogen, das Leben seiner Familie. Als Erwin Speckters schönste Bildnisse entstanden, die seiner Eltern, war Köbke zwölf Jahre.

Wenn vor Gurlitts Rückkehr Einflüsse stattgefunden haben, sind sie über München zu uns gelangt, wo nach 1830 Bendz, einer der höchstbegabten dänischen Künstler des neunzehnten Jahrhunderts, mit den Hamburgern zusammentraf. Aber Oldach war schon tot, Erwin Speckter hatte München nur auf der Durchreise nach Italien berührt. Kauffmann und Haeselich wurden von Bendz auf seinem berühmten großen Bild einer Münchner Bierstube — das Thorwaldsen für seine Galerie erwarb — unter den andern Künstlern mit dargestellt, es sind die singenden links. Aber bei diesen ist von einem Einfluss durch Bendz nichts zu merken. Bleibt nur noch Milde, und wer die Daten nicht berücksichtigt, kann wohl dazu kommen, Bendz als seinen Lehrmeister vorauszusetzen. Doch die Daten sagen anders aus. Das Zimmer, in dem er seinen Freund Erwin Speckter am Tisch sitzend dargestellt hat, ist 1825 in München gemalt. Es ist von allen seinen Arbeiten mit den gleichzeitigen Bildern von Bendz am nächsten verwandt. Aber es wächst ganz deutlich aus der Hamburger Tradition heraus.

Wir werden uns vorläufig damit begnügen müssen, das Gleiche oder Verwandte in der dänischen und hamburgischen Kunst aus einer Verwandtschaft der äußern Lebensbedingungen und der Rasse zu erklären.

Wenn hamburgische Künstler nach München oder Paris kommen, so pflegen sie sich noch heute am raschesten mit den Skandinaven zu verstehen. Es ist eine alte Erfahrung, dass sie mit den Dänen und Norwegern „cliquen“.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Sommerfahrt auf der Yacht Hamburg