König, Bürger und Adel

Aus dem Stadtplan von Kopenhagen lassen sich leicht die Mächte erkennen, die den Organismus geschaffen haben: König, Bürger und — für sehr kurze Zeit und auf engerem Raum mitbestimmend — Adel. Vom König hängt die Wehrmacht ab, die mit ihren Wällen und Schanzen für einige Jahrhunderte reichlich so viel Platz einnahm wie alle Wohnstätten zusammen; vom Bürgertum der Freihafen, der nicht wie in Hamburg außerhalb der eigentlichen Verkehrszone liegt, sondern Umgehungen notwendig macht, wie wenn der Hamburger Freihafen bei sonst unverändertem Stadtplan die Stelle von St. Pauli einnähme.

Viele Verschiebungen sind im neunzehnten Jahrhundert eingetreten. Der Adel hat sich fast gänzlich zurückgezogen. Seine stolzesten Paläste bewohnt die Königsfamilie. Andere sind Gasthäuser oder Mietskasernen geworden. Die gewaltige Königsburg liegt in Trümmern, Rosenborg ist Museum geworden. Im öffentlichen Leben merkt man vom Königshaus und vom Adel so gut wie nichts. Der Bürger ist alles. Und wenn Fürsten und Adel auf der Straße erscheinen, sehen sie aus wie Bürger.


Anders muss das Treiben in der Stadt gewirkt haben, als in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts der König im Stadtschloss Hof hielt, als die Paläste des Adelsviertels neu waren, und goldglänzende Equipagen und Sänften die in Seide und Sammet gekleideten Fürstlichkeiten und Adeligen durch die Straßen trugen, umgeben von einem Heer bunter Lakaien.

Aber wenn sie auch äußerlich nicht in die Erscheinung treten, die alten Mächte des Hofes und des Adels sind doch noch da, und ihre politische und gesellschaftliche Aufgabe hat noch nicht aufgehört.

Sie leben noch als Gefäße einer bestimmten Art der Überlieferung, der der guten Form im Auftreten und Verkehr. Das ist außer dem politischen Einfluss ziemlich alles, was ihnen geblieben ist. Kunst, Literatur, Musik, Wissenschaft, die Lebensgebiete von Fürst und Adel noch im achtzehnten Jahrhundert, sind durch den Staat, den es damals eigentlich noch nicht gab, und durch das Bürgertum ihrer Einwirkung entzogen.

Es ist den Künsten in Dänemark gegangen wie überall. Von dem Augenblick an, wo das Übermenschentum der aristokratischen Stände aufhörte, mussten sie gänzlich veränderte Formen annehmen und lösten sich auf. Mit einem Schlage war der Typus gesteigerten Menschentums, den der Aristokrat mit seinen ungeheuren Ansprüchen an das Leben und an die Lebenskunst darstellte, verschwunden und hatte einer kleineren Ausprägung bescheidener, wunschloser Menschlichkeit Platz gemacht, der mit dem Nötigsten zufrieden war, und dem das stolze Selbstbewusstsein und die anspruchsvolle Begehrlichkeit des Aristokraten sündhaft erschien.

In diese neue Welt einer Menschheit von vermindertem Gehalt und herab gestimmtem Selbstbewusstsein ragten jedoch in Kopenhagen die Schöpfungen der aristokratischen Zeit als etwas immer noch Lebendiges hinein, nicht nur die Paläste, die Parks und Gärten, auch Einrichtungen, die ursprünglich dem Lebenshunger des Fürstentums zu dienen bestimmt waren, wie die Akademie.
Darin unterscheiden sich die bürgerlichen Zustände in Kopenhagen von denen in Hamburg.

Uns fehlt der Hintergrund eines aristokratischen Zeitalters. Bei uns hat der einzelne nie Ansprüche gemacht und somit eigentlich auch nie etwas gegolten. Wir haben deshalb auch fast gar keine Erinnerungen an einzelne Menschen. Es gibt keine volkstümlichen Namen bei uns. Man kann nicht oft genug wiederholen, daß der populärste Mann in Hamburg durch ein halbes Jahrtausend ein Seeräuber und Erzfeind der Stadt war. Sein Name ist wohl der einzige, den das Volk aus seiner ganzen langen Geschichte behalten hat. Unsere Straßen, unsere Bauten reden nicht zu uns von Menschen, deren Namen und Taten wir kennen und lieben oder hassen, sondern von glanzlos, namenlos untergegangenen Geschlechtern. Wer durch unsere erinnerungslose Stadt wandert oder in unserer ebenso erinnerungslosen Gesellschaft sich umtut, könnte die Vorstellung bekommen, dass in Hamburg seit einem Jahrtausend ein Geschlecht fleißiger Kaufleute das andere abgelöst habe mit der immer wiederkehrenden Absicht, möglichst viel zu erwerben, um über möglichst viel von den niedern Genüssen des Daseins zu befehlen, und sich nicht zu fragen, wozu denn die Güter einer mäßigen Zivilisation eigentlich da seien, welchen höheren Zwecken sie dienstbar gemacht werden sollten. Und der Fremde, der nur soviel von Hamburg kennen lernt, wird von der Gegenwart nichts anderes erwarten und für die Zukunft nichts anderes prophezeien als immer wieder neue dunkle Geschlechter, die sich an nichts zu erinnern vermögen, die sich an keiner Erinnerung zu freuen gelernt haben, die kein Gefühl der Dankbarkeit gegen die Vergangenheit und kein Gefühl der Verpflichtung für die Zukunft hegen, die immer nur arbeiten und es immer wieder nur gut haben wollen.

Dass dies Bild nicht stimmt, kann man im Reich besser widerlegen als bei uns, denn dort hat man nicht vergessen, wie oft große neue Impulse von Hamburg ausgegangen sind.

In Kopenhagen sind alle wirtschaftlichen Kräfte einst auf große Dinge gerichtet gewesen, und der Hintergrund dieser Zeit gibt der Stadt heute noch den monumentalen Charakter.

Ist es ein Lebensgesetz, dass in Hamburg die großen Mittel, die immer wieder erworben werden, auf die äußere Lebenshaltung verwandt werden? Leidet nicht auch auf die Dauer die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt darunter, dass die Lebenshaltung das Entstehen wirklich bedeutender Vermögen verhindert? Sollte es undenkbar sein, dass die Neigung aufkäme, den ungeheuren Luxus der im Grunde von allen beseufzten Geselligkeit niederzuschlagen? Im letzten Grunde liegt doch hier die Ursuche, dass jedes Geschlecht von vorn anfangen muss, dass sich eine feste Überlieferung, die auch in der Stabilität und dem durch Generationen fortgeführten Wachstum des Familiengutes ans Licht träte, nicht bilden kann, und dass infolgedessen eine dauernde Kulturtradition nicht aufkommen kann. Das äußere Leben verzehrt Zeit, die für höhere Interessen nötig ist, verzehrt Kraft und Mittel. Wie wird es um uns stehen, wenn sich in den übrigen Zentren deutschen Lebens, heute, wo der typische Deutsche ein kulturloser Mensch ist, in der Auffassung und Führung des Lebens eher noch materieller als wir, wenn sich die Deutschen im Reich eine neue Bildung und neue Überlieferung schaffen?

Das Kunstleben, das mir als Beispiel am nächsten liegt, spiegelt am deutlichsten die Verschiedenheit der wirkenden Kräfte in Kopenhagen und Hamburg.
An beiden Orten hatte im neunzehnten Jahrhundert das Bürgertum die Kunst zu tragen. Es war in Kopenhagen bei wesentlich minderer wirtschaftlicher Kraft nicht freudiger und leistungswilliger als bei uns. Dort wie hier haben die Künstler fast allein gestanden, ihr Hauptmäcen war, wie beinahe überall, der unpersönlich gewordene Staat. Thorwaldsens Stellung ist ein Ausnahmefall. Wäre er in Kopenhagen geblieben, es hätte wohl kein Huhn und kein Hahn nach ihm gekräht. Sein europäischer Ruhm war der Sockel seiner Stellung in der Heimat.
Nur einen Vorteil hatte man in Kopenhagen, und er war eine Überlieferung der Fürstenzeit, das Bestehen einer Akademie als Hochschule, auf der die Talente lernen konnten, was an der Kunst lernbar ist.

Den Wert dieser Überlieferung handwerklicher Tätigkeit weiß man am besten da zu schätzen, wo sie ganz fehlt, wie bei uns.

Gewiss enthält das Prinzip der Akademie große Gefahren, und auch eine ganz unbefangene Geschichte der Akademien, die wir nicht haben, würde sich leicht zu einer Anklageschrift wandeln. Aber das ist der im innersten Wesen liegende Mangel aller festen Einrichtungen, dass ihre Diener Menschen vom Durchschnitt oder darunter sein müssen. Die Mehrsten taugen nichts, das war schon das tiefsinnige Urteil des alten griechischen Weisen, zu dessen Erkenntnis man sich so spät durchzuarbeiten pflegt. Es ist kaum anders möglich, als dass die Akademien ihre Lehrer auch aus dieser Mehrzahl wählen müssen, da sie den Genius, der für das akademische Lehrerhandwerk nicht taugt, höchstens vorübergehend fesseln können. Und diese Mehrzahl wird die Überlieferung in äußeren Dingen sehen, wo sie schädlich, ja tödlich ist, und wird sie nicht da zu pflegen imstande sein, wo sie allein Leben und Gedeihen fördert, in der Gesinnung. Es ist in jeder Art Lehre nicht anders als in der Familie, wo die Tradition von Äußerlichkeiten verknöchert, während die Pflege des guten Willens, der Gesinnung, den Keim zu allem Höchsten enthält. Hier allein liegt der Wert einer Überlieferung.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Sommerfahrt auf der Yacht Hamburg