Kiel.

Nach dem Gewitter war der Wind ganz abgeflaut. Das Schiff lag mit schlappen Segeln an der Boje. Nur wenn ein Dampfer vorüber fuhr, gluckten die Wellen gegen die Planken. Der schwerfallende Gewitterregen hatte jede Bewegung der glatten Fläche ausgelöscht, der Wasserspiegel der Föhrde sah aus, als wäre sie frisch gewaschen.

In der mit Feuchtigkeit übersättigten Luft standen die Ufer ohne Modellierung als großer dunkler Schattenriß, in dem die Häuser körperlos wie helle Flecke hafteten.


Wie ich vom Heck aus das Ufer von der Nikolaikirche auf dem Stadthügel von Kiel bis zum Waldvorgebirge von Düsternbrook überblickte, schoß mir die lange Strecke zu einem redenden Bilde der Geschichte des Bodens zusammen. Ich weiß nicht, ob es noch eine andere Stadt gibt, deren Entwicklung sich so deutlich in ihrer Silhouette ausdrückt.

Ganz hinten auf dem höchsten Punkt des alten Stadthügels strebt der kräftige Turm von St. Nikolai auf. Dort wurde auf dem vorbestimmten Hügel im Wasser ganz am Ende der Föhrde, wo es am sichersten war, von schauenburger Grafen Kiel gegründet als ein Konkurrenz - Lübeck. Dort hat sich sein Bürgertum im Anschluß an die Hansa kräftiger entfaltet, als bei solchen Konkurrenzstädten, die als Typus zur Zeit der großen deutschen Städtegründungen nicht selten vorkommen, die Regel ist, so daß es sich schließlich einer gewissen Unabhängigkeit gegenüber der Fürstengewalt erfreute. Aus jener fernen Zeit ragt der trotzige Turm der Stadtkirche empor, dem die Restauration den Charakter nicht hat nehmen können. Sonst blieb aus der ersten Zeit der Entwicklung nicht viel übrig außer den Resten eines Klosters und dem ziemlich unveränderten Straßennetz, das ursprünglich in acht Straßenzügen kreuzförmig von dem im Mittelpunkt gelegenen Markt ausging. — Ein seltener Stadtgrundriß.

Auf den Turm von St. Nikolaus, dem Schutzpatron der Schiffer, folgt in der Prozession am Ufer eine andere Silhouette, die ihrer Form nach aus der Ferne schwer deutbar wäre, ein ungegliederter hochstrebender Kasten unter mächtigem Ziegeldach, alles zusammendrückend, was die Stadt enthält, mächtiger und massiger als selbst die Kirche, wenn sie auch mit der äußersten Turmspitze höher aufragt. Es ist das Schloß, auf dem Platz der alten Stadtburg errichtet zur Zeit der zweiten Blüte der Fürstenmacht, die seit Ende des sechzehnten Jahrhunderts alles unterjochend an die Stelle des erschlafften Bürgertums getreten war. Unser Hamburger Baumeister Sonnin, der Erbauer der Michaeliskirche, hat dem alten Schloß seine heutige Gestalt gegeben. Auf ihn wird auch der weitaus schönste Privatbau Kiels, das Schweffelsche Haus zurückgeführt. Als im achtzehnten Jahrhundert das Land sicher geworden, wurde auch dem Kieler Schloß ein großer Park angefügt, der am Strand der Föhrde entlang weit ins Land führte. Zwei mächtige Alleen schlössen ein Blumenparterre ein, das in der Ferne am Abhange der Hügelreihe in eine Terrassenanlage überging. Wie überall wurde im neunzehnten Jahrhundert, als die absolute Fürstenmacht ausgeklungen war, dieser Park der neuen Macht des Bürgertums ausgeliefert, und der Schloßgarten zog sich auf ein enges, wohlumfriedetes Gelände am Schloß zurück. Die alten hohen Baumgänge fassen nun die öffentlichen Schmuckanlagen ein, und sie sind nicht mehr auf das Schloß orientiert, sondern auf das Repräsentationsgebäude einer anderen Macht, der Universität, die, im 17. Jahrhundert vom Fürstentum gegründet, nach vielen Schicksalen, zeitweilig fast völlig untergegangen — 1765 konnte sie ihr hundertjähriges Bestehen nicht feiern, weil sie keine Räume und keine Studenten mehr hatte — im neunzehnten Jahrhundert Stadt und Land beherrscht hat. Die Gelehrtenwelt der Universität ist seit dem Mittelalter ganz republikanisch organisiert. Sie drückt sich im Städtebild nicht wie Kirche und Fürst durch eine einzige große Form aus, das würde ihrem Wesen nicht entsprechen, es ist in ihr nichts einzelnes, das ragen könnte. Breitgelagert ruht ihr Hauptpalast auf der untern Terrasse des alten Schloßparks. Zu ihm führen die Alleen, als Teppich zu seinen Füßen breitet sich dazwischen das in Rasenplätze verwandelte Blumenparterre des Schlosses aus, das ehemals von der entgegengesetzten Richtung ausging. Hohe Mauern, Bäume und Büsche des kleinen Schloßgartens unterdrücken jede Spur des ehemaligen Zusammenhanges.

Hinter dem Hauptgebäude der Universität, in dem die wichtigsten Funktionen des Gesamtorganismus ausgeübt werden, erhebt sich eine Akropolis von Laboratorien aller Art, von Krankenhäusern und andern Instituten, die zur Universität gehören, eine Stadt in oder neben der Stadt.

Auf die Universität ist dann seit der Gründung des Reichs im Bilde der Stadt eine andere Großmacht gefolgt, die ihr Wesen gründlicher als alle andern erweitert und umgestaltet hat, die Marine. Wo das Reich der Universität aufhört, beginnt das der Seegewalt. Und während vom Wasser aus nur eben die Dächer der Universitätsgebäude sichtbar sind, lagert sich die massige Marineakademie breit am Ufer. Ein trauriges Stück erzakademischen Unvermögens, ganz aus Anlehnungen zusammengefügt, ein typisches Erzeugnis der Ohnmacht und des Unverstandes unserer abstrakten Architektur, die nirgends zu Hause ist, als an den Zeichentischen der Akademien und Baubureaus.

An die Entwicklung der Marine schließt sich die vom Kaiser angeregte und geförderte Gründung und Ausbildung des Wassersports großen Stils, der in Kiel seine Heimat gefunden hat.

Auch diese Phase drückt sich im Stadtbilde aus. Als Seitenstück zur Marineakademie erhebt sich das von Krupp erbaute Hotel der Seebadeanstalt mit dem kleinern Gebäude des kaiserlichen Yachtklubs neben sich. Das Hotel rührt nun schon nicht mehr von den Akademikern alten Stiles her, die aus italienischen Phrasen einen stümperhaften Aufsatz zusammenleimen, sondern von einem Akademiker neuen Stils, der schon mit englischen Gemeinplätzen arbeitet. Was an diesem Platz zwischen Seestrand und bewaldetem Hügelzug seine Aufgabe war, hat er nicht eine Minute überlegt. Sein Werk ist wie das seines Vorgängers im Bureau am Zeichenbrett entstanden. An der Stelle, wo es steht, hätte dies Gebäude nur durch Masse und Einheit sich behaupten können gegen die Einheit des grünen Waldhintergrundes und die Einheit des Wasserspiegels zu seinen Füßen. Es hätte sich gehört, daß das Dach als eine große möglichst einfach gegliederte Masse zusammengehalten wäre, und daß die Hauswand als eine feste, einheitliche Masse darunter gestanden hätte. Aber das Dach ist durch lauter Giebel zerkleinert, man empfindet es überhaupt nicht mehr, und die Wand ist in zwei Teile zerlegt, einen roten Unterbau, der bis zum ersten Stock reicht, und einen weißen Oberbau bis zum Dach. Dazukommt, wiederum teilend und zerkleinernd, im obersten Stock allerlei Fachwerk, das gar nicht dahingehört und an soliden Bauten nichts als Blendwerk bedeutet.

Statt sich in die Hefte der englischen Zeitschriften zu vertiefen, wie sein Vorgänger an der Marineakademie in seine (oder anderer) italienische Erinnerungen, hätte sich der Erbauer dieses großen Hotels das Schweffelsche Haus in Kiel ansehen und sich fragen sollen, was sich dort an entwicklungsfähigen Gedanken findet, oder alte Herrensitze des siebzehnten oder achtzehnten Jahrhunderts in Holstein und Schleswig. Er hätte nichts gefunden, das er hätte kopieren dürfen. Aber er hätte Wirkungen beobachten können.

Vom Gebäude des Yachtklubs soll man lieber gar nicht sprechen, wenigstens nicht von der Fassade.

Bis zur Seebadeanstalt reicht heute der Stadtkern von Kiel. Alle Lebensmächte, die die Entwicklung bestimmt haben und noch bestimmen, sind, wie es sonst nirgendwo vorkommt, dem Gelände angepaßt in langer Linie hintereinander aufgereiht, Kirche, Schloß, Universität, Marineakademie, Seebadeanstalt.

Aber die Stadt reicht weiter. Am jenseitigen Ufer gehören die großen Werften dazu, von Holtenau her grüßen die neuen Torpedokasernen am Torpedohafen, und das früher wie eine ferne Nachbarstadt im Abendlicht leuchtende Friedrichsort mit seinen Kasernenbauten erscheint heute schon zur Stadt gehörig. Die ganze Föhrde ist jetzt der Marine untertan. Die Marine hat Kiel, das vor einem Menschenalter nicht viel mehr als zwanzigtausend Einwohner zählte, auf gegen hundertfünfzigtausend gebracht.

Ältere Hamburger, die Kiel in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gekannt haben, müssen sich erst besinnen, daß Kiel eine Großstadt geworden ist.

Kiel ist es freilich wie fast alle heutigen Großstädte nur der Einwohnerzahl nach, nicht durch Leistungen, die über die mechanische Einrichtung des Lebens hinausgehen. Es könnten Dutzende von solchen Großstädten in Europa vom Erdboden verschwinden, ohne daß die Menschheit um ein Atom an wertigem Besitz ärmer würde.

Wir müssen uns daran gewöhnen, in den heutigen Großstädten, in der modernen Stadt überhaupt, etwas anderes zu sehen, als in der antiken oder mittelalterlichen. Sie formt keinen geschlossenen Organismus mehr. Sie hat keine Bürger, sondern nur Einwohner. Sie verlangt nichts von sich, ihre Einwohner verlangen nichts von ihr, niemand wundert sich, wenn sie nichts anderes leistet als mechanische Verwaltungsarbeit der Polizei-, Sicherheits-, Versorgungs- und Reinigungsdienste.

Wenn es gelänge, die schlafenden Stadtseelen zu wecken? Oder sind sie tot für immer?

Wir lagen ruhig auf dem Heck im Sonnenschein und warteten auf die nächste Brise. Aber ohne Ungeduld. Alle Hast war von uns gewichen, wir fühlten keinen Antrieb mehr, wollten nichts erreichen, hatten nicht das Bedürfnis, vorwärts zu kommen. Der Augenblick erfüllte und genügte uns.

Spät abends erhob sich der Wind. Wir steuerten unserm nächsten Ziel zu, Kopenhagen.

Als wir am andern Morgen früh ans Deck stiegen, kreuzten wir im Sund.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Sommerfahrt auf der Yacht Hamburg