Der Stadtplan von Kopenhagen.

Wir lagen auf dem Heck und studierten den Plan von Kopenhagen, und wo sich ein Anlass gab, ließen wir ihn sinken, spannen einen Gedanken aus oder verfolgten die Schiffe, die den Sund passierten. Es war ein behagliches Genießen der schönen Gegenwart, gehoben durch die beglückende Erwartung des Sehens oder Wiedersehens. Nicht alle von uns kannten Kopenhagen.

Mir war die schöne Stadt seit langen Jahren vertraut, und viele freundliche Beziehungen zu bedeutenden Menschen hatten mir den Ort lieb gemacht. Es gibt wenige Städte, die ich so gern wiedersehe wie Kopenhagen.


Wir hatten uns vorgenommen, den Plan zu untersuchen, als wüsste keiner von uns von der Stadt. Dies ist der beste Weg, rasch den Organismus zu entdecken. Natürlich lässt sich eine solche Fiktion nicht bis zur äußersten Folgerichtigkeit aufrecht erhalten. Aber darauf kommt es bei diesem Spiel schließlich nicht an.

Es fällt beim ersten Blick auf die Karte ins Auge, dass Kopenhagen an der äußersten Peripherie des Inselreiches liegt. Das ist eigentlich nicht der natürliche Platz für eine Hauptstadt. Die zentrale Gewalt muss Neigung haben, den Platz nahe am Zentrum zu suchen, namentlich in den unsichern Zeiten der Gründung der modernen Reiche, die aus der Unterjochung und Zusammenfassung vieler Kleinherrschaften zu entstehen pflegen. Von Kopenhagen aus Jütland zu bezwingen und zu beherrschen musste in gährender Zeit örtlicher Kleinherrschaften unmöglich erscheinen.

In der Tat ist Kopenhagen nicht die älteste Hauptstadt des geeinigten Inselreichs. Mitten auf Seeland, der größten der dänischen Inseln, von der aus die Einigung des Gesamtgebietes vor sich gehen musste, liegt am Ende des tief einschneidenden schmalen Isefjord die ältere Königsstadt des Landes, Roeskilde.

Von Kopenhagen aus hatte ich die einsame Stadt besucht und konnte von ihr erzählen. Der Ausflug lohnt sich sehr. Ich wurde an die Stimmung von Torcello erinnert. Dort hatte sich, nördlich von Venedig in den Lagunen gleichzeitig mit dem ältesten Venedig eine Stadt gebildet, die eine Zeitlang vielleicht als seine Rivalin gelten durfte. Mit der Entwicklung Venedigs trat sie zurück, verlor ihre Einwohner an die glücklichere Nebenbuhlerin, und jetzt ist nichts mehr übrig von ihr als der großartige Dom mit seinen Kunstwerken und eine schön geschwungene Marmorbrücke, die zwei Inseln verbindet. Mit dem Baumaterial wurde ein Teil von Venedig aufgebaut.

So steht in Roeskilde, das einst 100000 Einwohner gehabt haben soll und jetzt kaum 6000 hat, noch der die Landschaft beherrschende Dom mit seinen zwei Türmen, und von den unzähligen Kirchen, Kapellen und Klöstern des Mittelalters, von den Sitzen der Könige und ihrer Großen und von der mächtigen Befestigung ist nichts geblieben als ein alter Turm. Aber für Dänemark ist Roeskilde immer noch heiliger Boden, denn der Dom enthält die Gräber der Mehrzahl der christlichen Könige und Königinnen des Landes von Harald Blauzahn (985)bis zur Königin Louise(1898).Auch Roeskilde ist schon die zweite Hauptstadt des Landes. Die erste, die der heidnischen Könige, Leire, lag nicht weit davon, ebenfalls dem Isefjord nahe, und wurde erst von Harald Blauzahn aufgegeben. Für eine nordische Hauptstadt des eigentlichen Mittelalters ist die Lage von Roeskilde typisch. So hielten sich die ältesten Hauptstädte Schwedens, Sigtuna und Upsala an das äußerste Ende eines Fjords, wo es zur Zeit der Wikingerstreifzüge am sichersten war. Als die Wikinger- und Seeräuberzeiten vorüber waren, wurde die versteckte Lage der Hauptstädte unbequem, und in Schweden wie in Dänemark ging der Herrscher daran, seine Residenz zu verlegen. Universität und Erzbistum — auch in protestantischer Zeit die Spitze der Kirchenmacht — verleihen Upsala bis heute eine Machtstellung neben Stockholm. Roeskilde ist eine kleine Landstadt geworden, fast eine Vorstadt Kopenhagens, und mit dem benachbarten Leire ein Wallfahrtsort für den Freund der dänischen Geschichte. Ein Ausflug von Kopenhagen her lohnt sich übrigens allein durch die Anmut der Landschaft.

In Roeskilde thronten die Herrscher, die von der Hansa besiegt wurden, in Roeskilde haben wir uns den Hof der Königin Margaretha zu denken, die die drei nordischen Reiche unter ein Szepter brachte. Kopenhagen ist erst 1443 Hauptstadt geworden.

Beim Studium eines Stadtplans empfiehlt es sich, zuerst einmal ohne Rücksicht auf die Namen und ohne die Geschichte zu fragen, den heutigen Organismus zu untersuchen. Man wird in vielen Einzelheiten irren, wie sich später beim Rückgriff auf die Geschichte herausstellt. Aber man hat den großen Vorteil, den Körper der Stadt sehr eindringlich betrachtet und zergliedert zu haben und unmittelbar auf die Probleme der Entwicklung zu stoßen.

Bei einer alten Königsstadt hat man zunächst zwei Punkte zu suchen, das Schloss als Sitz des Fürsten und den ältesten Stadtmarkt als Ausgangsort der bürgerlichen Entwicklung.

Das Schloss drängt sich von allen Formen im Stadtplan zuerst auf. Seine gewaltige Masse bedeckt eine ziemlich regelmäßige Insel rechteckiger Grundform. Ein breiter Kanal umgibt sie, sechs Brücken verbinden sie mit dem umliegenden Stadtgebiet. Es ist ohne weiteres zu erkennen, dass von der ursprünglichen Gestalt der Insel nichts mehr übrig ist. Der Grundriss des Schlosses reicht von einem Kanal bis zum andern. Für Festungswerke, die bis ins siebzehnte Jahrhundert unbedingt erforderlich waren, bleibt nirgends Platz. Dem Grundriss des Schlosses fühlt man denn auch auf den ersten Blick an, dass es ein Werk des achtzehnten Jahrhunderts ist.

Die Geschichte weiß, daß hier die Insel lag, auf der im zwölften Jahrhundert Bischof Absalon von Lund in Schweden ein festes Schloß baute, um einen Stützpunkt gegen die Seeräuber zu haben. Wieviel damals von Kopenhagen als Stadt schon bestand, ist strittig. Aber soviel ist sicher, Bischof Absalon hat mit klugem Blick den Schicksalspunkt erkoren und geschützt, von dem sich der Sund und das Inselreich am sichersten beherrschen ließen, und den Dänen gilt er heute als der Gründer der Stadt. Er hat sein Reiterdenkmal auf dem Höjbroplatz mit dem Blick auf die Schlossinsel, und an der Hauptfassade des neuen Rathauses erhebt sich seine Gestalt in vergoldeten Bischofsgewändern.

Für die Beherrschung des Sundes konnte ein günstigerer Platz nicht gewählt werden. Hier ist dem vorspringenden Lande die Insel Amager vorgelagert, ein Schutz gegen Südwinde, die einzigen, die über weiter Seefläche auf den Hafen stoßen. Späterhin bildete die Insel den Stützpunkt für die Befestigung der Stadt.
Absalons Eiland war wesentlich kleiner als die heutige Schlossinsel. Es lag auch nicht eingefügt in die Stadt, sondern nach allen Seiten frei. Man sieht es heute noch den Straßenzügen neben der Schlossinsel an, dass sie in ihrer Regelmäßigkeit jungen Ursprungs sein müssen. In der Tat ist ihr Boden durch Aufschüttung gewonnen. Noch im siebzehnten Jahrhundert stand das Schloss auf der Insel wie im Meer verankert da.

Der zweite Ausgangspunkt, der Markt, muss im Gewirre des Straßennetzes gesucht werden. In den deutschen und nordischen Städten kann man sich dabei auf die Namen stützen, denn sie pflegen fast ohne Ausnahme alt zu sein und die ersten, die gegeben wurden, im Gegensatz zu den Gewohnheiten der romanischen Völker, die ohne Bedenken die urältesten Straßen- und Platznamen aufgeben, um einen volkstümlichen Mann zu ehren.

Den ältesten Markt wird man in der Nähe des Schlosses suchen. In der Tat liegt vor der wichtigsten Verbindungsbrücke zwischen Schlossinsel und Stadt ein weiter Platz, groß genug für den alten Markt. Sollte er es sein? Die heutige Form stimmt nicht recht. Er ist an der Seite nach dem Schloss offen, und nach der Stadtseite fließt er mit einer marktartig breiten, sicher in dieser Form uralten Straße zusammen. Solche Formlosigkeit passt nicht für einen alten Stadtmarkt, dessen W?nde saalartig geschlossen wurden. Auch der Name stimmt verdächtig: Höjbroplatz. Ein alter Stadtmarkt kann so nicht heißen. Platz ist der Name für eine unbebaute Stelle in den modernen Stadterweiterungen, der „Platz“ hat keine Funktion als die Unterbrechung des Straßennetzes. Er dient nicht, wie der Markt, er ist nicht notwendig, wie der Markt.

Wer die Geschichte des Stadtplans von Kopenhagen kennt, kann die Auskunft geben, dass hier ursprünglich weder Markt noch Platz lag, sondern ein Häuserquadrat. Wie der Name vermuten ließ, ist der Höjbroplatz ein junges Gebilde.

Auf dem Gebiet der alten Stadt gibt es nun noch drei Plätze, die den Namen Markt führen. Ganz im Norden liegt der Königsneumarkt. Schon dem Namen nach muß er ausscheiden. In der Mitte der Stadt liegt der Amagermarkt. Der ist zweifellos alt. Aber der Hauptmarkt kann es nicht gewesen sein, denn er ist nur eine schlauchartig erweiterte Straße und macht vielmehr den Eindruck, als sei er ursprünglich gar nicht Markt gewesen, sondern die Straße an der Innenseite des Tors, die verbreitert wurde, um den Lastwagen Platz zu schaffen.
Auch der letzte Markt, weiter südlich, hat auf den ersten Blick etwas Verdächtiges. Er ist übergroß und eine Straße führt quer hinüber, was sich für einen alten Markt nicht passt. Hier geben jedoch die Namen einen Anhalt, denn die Hälften, in den die Straße den ganzen Markt zerteilt, haben eigene Namen. Der westliche Teil heißt Altmarkt, der östliche Neumarkt. Eine Befragung alter Überlieferung ergibt, dass der Neumarkt durch Niederlegung des alten Rathauses und des angrenzenden Häuserblockes entstanden ist. Nun versteht man auch, wie eine Straße quer über einen alten Platz führen kann.

Von hier aus ist es nun leicht, die Linien der altern Befestigung im Stadtplan zu verfolgen und zu beobachten, wie die Stadt gewachsen ist. Das neue, noch nicht ganz vollendete Rathaus mit dem mächtigen Rathausplatz (nicht Rathausmarkt) davor, liegt noch ziemlich nahe dem alten in der Linie der niedergelegten Befestigung des siebzehnten Jahrhunderts, deren Reste sich als Parks und botanischer Garten rund um die Stadt verfolgen lassen bis zur im Norden abschließenden großen Zitadelle, die heute einen Pfahl im Fleisch der Stadt bildet.

Der Raum innerhalb dieser Befestigung des siebzehnten Jahrhunderts zerfällt in zwei fast gleich große Teile, die alte Stadt, wie sie ohne Einheit des Plans ruckweise gewachsen ist, so dass man die einzelnen „Jahresringe“ aus dem Gewirre krummer Straßenzüge noch heute ohne Mühe lösen kann, und eine große Anlage mit lauter geraden, sich rechtwinklig überschneidenden Straßen, in deren scharfkantigem Gefüge nur eine einzige — und sehr kurze — schräge Straßenlinie vorkommt und keine Andeutung einer Kurve. Selbst ein scheinbar runder Platz löst sich in ein Achteck auf, wenn man näher zusieht.
So hat man im Norden vor dem achtzehnten Jahrhundert keine Stadtanlagen gemacht. Die Namen der großen Straßenzüge verraten ebenfalls die Stimmung des achtzehnten Jahrhunderts: Adels-Straße, Bürgerstraße, Königsstraße und daneben Kronprinzenstraße.

Dies Stadtgebiet würde noch viel uninteressanter aussehen, wenn nicht zwei Stellen die Regelmäßigkeit der Anlage unterbrächen.

Die eine ist ein großes nicht ganz regelmäßiges Viereck, der Park des Schlosses Rosenborg, das andere die große Platzanlage der Amalienburg.

Rosenborg ist der alte Sommersitz der Könige. Als es angelegt wurde, lag es außerhalb der alten Befestigungen, und die Zeiten waren so unsicher, dass das Schloss durch Wall und Graben vom Garten getrennt und durch einen Kranz von Kanonen auf den Wällen geschützt war. Die Zeit, wo das Vorbild der Tuilerien zu wirken begonnen hatte, war noch nicht gekommen, und so ist Rosenborg noch nicht auf das Stadtschloss orientiert. Es liegt ohne organischen Zusammenhang mit der Stadtanlage oder der Schlossanlage und bildet heute noch eine Enklave in der Stadt, obwohl der Park, der in den Besitz des Publikums übergegangen ist, nur durch ein hohes Gitter umhegt wird. Das Schloss ist Museum geworden.
Was die Amalienburg ursprünglich war, verrät ein Studium des Planes. Es sind vier Paläste, die den achteckigen Platz einschließen, und da in den benachbarten Straßen auf dem Plan verschiedene Adelspaläste eingezeichnet sind, so ist es kein Fehlschluss, dass auch diese vier Paläste von Adelsfamilien errichtet wurden. Freilich gingen sie in den Besitz des Staates über, und seit dem ersten Schlossbrand am Ende des achtzehnten Jahrhunderts werden sie von der Königsfamilie bewohnt. Im achtzehnten Jahrhundert bildeten sie das Zentrum des Adelsquartiers. Platzanlagen von ähnlicher Schönheit sind sehr selten in Europa. Man sieht schon den Grundrissen an, dass sie im französischen Sinne erbaut sind, genau wie mehr als ein Jahrhundert vorher Rosenborg im Stil der holländisch-deutschen Renaissance. Auch in Kopenhagen wiederholt sich die Regel, die für ganz Nordeuropa gilt, dass die Fürsten und der Adel als Träger der Kultur ihre Anregungen immer aus den Ländern holten, die gerade auf ihrem politischen und künstlerischen Höhepunkt angelangt waren.

Das neue Kopenhagen hat sich riesenhaft ausgedehnt. Dabei ist manches zerstört worden. Am meisten zu beklagen ist wohl die Zerstörung der Langen Linie, jenes reizvollen Spaziergangs am Ufer der See.

Außerhalb der letzten Befestigung liegen, dem Zug der Wälle folgend, drei große künstlich gegrabene Bassins, Filtrieranlagen der Wasserwerke. Sie bilden eine schwer zu überwindende Abschnürung der innern Stadt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Sommerfahrt auf der Yacht Hamburg