Eine Sitzung des Reichstages.

Die Gartenlaube, illustriertes Familienblatt.
Autor: Ring, Max (1817-1901) deutscher Mediziner, Journalist und Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1863
Themenbereiche
Die beiden Berliner „Häuser“. – Die Räume des Sitzungssaals im Reichstagsgebäude. – Delbrück. – Forckenbeck. – Schulze-Delitzsch – Löwe-Calbe. – Franz Duncker. – Kirchmann. – Ziegler. – Moritz Wiggers. – Hoverbeck. – Eugen Richter. – Albert Traeger. – Die Socialisten. – Die Nationalliberalen. – Lasker. – v. Treitschke. – Bamberger. – Das schwarze Centrum. Windthorst, Mallinckrodt, Majunke und die übrigen Mitglieder des Centrums. – Professor Ewald und die Elsässer. – Die Rechte. – Die Debatte um die Militärvorlage.

Wenn wir in Berlin durch die Leipziger Straße gehen, so bemerken wir in der Nähe des Kriegsministeriums zwei große Gebäude, denen man trotz ihres stattlichen Äußeren schwerlich ihre hohe Bestimmung ansieht. Das eine dieser Häuser war einst im Besitze der mit Geist und Glücksgütern so reich gesegneten Familie Mendelssohn. In denselben Räumen, worin einst der geniale Felix seine ersten Kompositionen vor einem auserlesenen Familienkreise aufgeführt, wo die Elite der Berliner Gesellschaft, Männer wie Zelter, Alexander von Humboldt und der junge Heine, Frauen wie Rahel, Bettina und die schöne Herz, verkehrt hat, hält jetzt das preußische Herrenhaus seine Sitzungen und statt der musikalen Harmonien, statt der Ouvertüren zum „Sommernachtstraum“ und zu den „Hebriden“, statt der geistreichen, humanen Gespräche über Kunst und Literatur hört man jetzt die oft verletzenden Dissonanzen der politischen Debatte und die nichts weniger als humanen Reden des Herrn von Kleist und des Grafen Brühl. Weit bedeutender ist das daran stoßende Haus, worin sich noch vor Kurzem die königliche Porzellan-Manufaktur befand, da in demselben gegenwärtig der deutsche Reichstag provisorisch sich niedergelassen hat, nachdem durch einen notwendigen Umbau ein der hohen Würde der Versammlung einigermaßen entsprechender Sitzungssaal hergestellt worden ist.

Erst wenn wir, mit der nöthigen Eintrittskarte versehen, durch das hohe Portal in das Innere treten, wo uns der Portier und Constabler empfangen und die in den Gängen aufgestellten Diener uns zurecht weisen, erkennen wir die öffentliche Bedeutung des Hauses, das sich äußerlich wenig oder gar nicht von der Wohnung eines reichen und angesehen Privatmannes unterscheidet. Wir steigen zunächst einige Treppen zu der bereits mit Zuhörern überfüllten Tribüne empor, von der aus wir den noch leeren Sitzungssaal mit Bequemlichkeit übersehen können. Derselbe ist höchst einfach, aber mit Geschmack dekoriert. Die Wände sind dunkelblau, ohne allen Schmuck, außer einer großen schwarz-weiß-roten Fahne mit in Gold gestickter Inschrift, einem Geschenk der deutschen Frauen in Amerika, und einer gerade dem Präsidentenstuhle gegenüber befindlichen Uhr. Für Beleuchtung und Ventilation ist hinlänglich gesorgt, weniger für die Akustik, welche vieles zu wünschen übrig lässt.

In der Mitte der durch einige Türen mit den verschiedenen Bureaus verbundenen Hauptseite erhebt sich der erhöhte Präsidentenstuhl mit den Sitzen der Schriftführer; vor demselben sehen wir die Redner-Tribüne und die Tische der Referenten und Stenographen, woran sich die Bänke für die Vertreter des Bundesrates anschließen. An ihrer Spitze sitzt gewöhnlich Bismarck’s rechte Hand, Herr Dr. Delbrück, einer der bedeutendsten Regierungsmänner, ein organisatorisches Talent ersten Ranges und auch ein sachgemäßer Redner, der den Reichskanzler in allen wichtigen Verhandlungen zu vertreten pflegt, wenn dieser am Erscheinen verhindert ist. Rings um den Saal ziehen sich von drei Seiten die Tribünen für die Zuhörer, welche jedoch nur selten ausreichen, die königliche und Diplomaten-Loge, die Tribüne der Abgeordneten und der Journalisten, in der die Vertreter der Presse den Verhandlungen mit gespannter Aufmerksamkeit folgen und dieselben mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit und möglichster Genauigkeit wiedergeben, was nur durch die ausgezeichnete Organisation und Teilung der Arbeit möglich ist. Als Vertrauensmann der Presse fungiert Herr Moritz Gumbinner, der besondere Reichstags-Korrespondent der Kölner Zeitung, neben welchem Herr Oldenberg, der Herausgeber der lithographierten Reichstags-Korrespondenz, als einer unserer geistreichsten Journalisten vorzugsweise unsere Beachtung verdient.

Nach und nach erscheinen einzelne Abgeordnete in dem leeren Saale, während die Mehrzahl noch ist den Gängen und in der großen, mit sinnigen Sprüchen gezierten Halle in eifrigem Gespräche auf- und niedergeht oder in der anstoßenden Restauration behaglich frühstückt, um sich für das schwere Werk zu stärken. Hier findet man die Mitglieder aller Parteien, die sich feindlich gegenüberstehen, jetzt friedlich an demselben Tische, wo Zentrum- und Fortschrittsmänner, Nationalliberale und Konservative die bekannte, gemütliche Fraktion Müller oder Rubin bilden, welche ihren Namen keinem berühmten Führer, sondern dem jedesmaligen Wirt der Restauration verdankt. Hier werden auch die Neuigkeiten des Tages harmlos erzählt, gute und schlechte Witze gerissen, aber auch manche ernste und bedeutende Worte gesprochen. Zur bestimmten Stunde erscheint der Präsident des Reichstags in Begleitung der Schriftführer, welche seinen Generalstab bilden. Herr von Forckenbeck, der statt des Jubiläums-Präsidenten Simson augenblicklich diese hohe Würde bekleidet, ist eine allgemein beliebte, von allen Parteien hochgeachtete und auch den maßgebenden Kreisen angenehme Persönlichkeit, ein angehender Fünfziger, mit intelligenten, freundlichernsten Zügen. Bekannt als einer der vorzüglichsten freisinnigen Redner im preußischen Abgeordnetenhause, zeichnet er sich in seiner jetzigen Stellung durch seine seltene Unparteilichkeit sowie die parlamentarische Sicherheit und Geschicklichkeit, womit er die oft schwierigen Debatten leitet, vortheilhaft aus. Bewunderungswürdig sind die Klarheit seiner Fragestellung, der Aufbau und die lichtvolle Anordnung, die er dem oft kaum zu bewältigenden Stoffe zu Theil werden lässt. Forckenbeck ist ein scharfsinniger Jurist, ein bedeutendes organisatorisches Talent; früher Rechtsanwalt in Elbing, ist er seit 1873 Oberbürgermeister von Breslau und als solcher Mitglied des preußischen Herrenhauses.

In diesem Augenblicke ordnet er mit den Schriftführern die eingegangenen Anträge und nimmt die Wünsche der verschiedenen Abgeordneten und Regierungsbevollmächtigten entgegen, bevor er mit der Glocke das Zeichen zum Beginne der Sitzung giebt. Unterdessen suchen auch die Abgeordneten ihre Plätze auf. Bekannte begrüßen sich; Parteigenossen treffen Verabredungen, und es vergeht noch einige Zeit, bevor die nothwendige Ruhe und Sammlung eintritt. – Die Sitze der Abgeordneten bilden gewissermaßen einen großen unregelmäßigen Fächer, dessen Stäbe die schmalen Gänge darstellen, in denen man sich frei bewegen und leicht von einer Bank zur andern gelangen kann. Vor jedem Sitze befindet sich ein besonderes Pult zum Schreiben. Die Parteien und Fraktionen sind so verteilt, daß auf der rechten Seite des Saales die Konservativen und die deutsche Reichspartei, in der Mitte das Zentrum und die Polen, auf der Linken die Nationalliberalen, die Fortschrittspartei und Sozialdemokraten ihre Plätze haben, obgleich diese Ordnung nicht immer streng beobachtet wird.

Wenden wir zunächst unsere Blicke nach der linken Seite, so begegnen wir manchem alten Bekannten und lieben Freunde unserer Gartenlaube. Gleich in der vordersten Reihe sehen wir Schulze-Delitzsch in eifriger Unterhaltung mit Löwe-Calbe. Der berühmte Vater der deutschen Genossenschaften zeigt noch immer in seiner kräftig gedrungenen Erscheinung die unverwüstliche Kraft und Frische seines Geistes, so daß die Jahre spurlos an ihm vorüberzugehen scheinen. Auch sein Organ hat nicht gelitten und nichts von seiner hinreißenden Gewalt verloren, wenn er auf der Tribüne steht. Ebenso hat sich Löwe-Calbe wenig oder gar nicht verändert, höchstens daß sich die Spitzen seines dunklen Haars und Bartes ein wenig grauer färben. Beide gleichen zwei sturmerprobten Eichen, um die sich der jüngere Nachwuchs schart. Dort jener interessante Kopf mit langem, weißem Haar und Bart, die seltsam mit dem noch jugendlichen, scharf geschnittenen Gesichte kontrastieren, gehört dem bekannten Herausgeber der Volkszeitung, die soeben ihr fünfundzwanzigjähriges Jubiläum gefeiert hat, dem Vorsitzenden des großen Berliner Handwerkervereins – Franz Duncker, In seiner Nähe sitzen der Präsident Kirchmann, ebenso ausgezeichnet als tüchtiger Jurist, wie als philosophischer Schriftsteller, und der frühere Bürgermeister Ziegler aus Brandenburg, der populäre Verfasser des „Landwehrmann Krille“, ein echter Märker, zäh und elastisch, spitz und stachlig wie die Kiefern der Mark, wovon so mancher Gegner, und vor Allem der verstorbene Kultusminister von Mühler ein Lied zu singen weiß. Mit Vergnügen sehen wir unsern alten Freund Moritz Wiggers, den Mitbefreier Kinkel’s, und Herrn von Hoverbeck, den treuen Ekkard der Fortschrittspartei. Aber auch der junge Nachwuchs ist in die Höhe geschossen, vor Allen der stattliche Eugen Richter, früher das enfant terrible der Fraktion, jetzt aber ein gefürchteter Gegner der Regierung, der durch seine gediegenen Sachkenntnisse in allen Finanzfragen, besonders bei der Feststellung des Budgets und neuerdings bei der Militärvorlage sich verdientermaßen die größte Anerkennung erworben hat; ferner der ehemalige Kreisrichter Ludolf Parisius, bekannt durch seine geistvolle Broschüre: „Ein Minister, der seinen Beruf verfehlt hat“, der humoristische Hausmann, der dem kleinen Fürsten von Lippe auf die Finger sieht, Herz aus Baiern, den der dritte Berliner Wahlkreis an Hoverbeck’s Stelle gewählt, ein sprechender Beweis, daß Nord und Süd sich die Hand zum Bruderbunde reichen, der gute Eberty, ein feingebildeter Publizist und Kenner der italienischen Literatur, und last not least der liebenswürdige Dichter der Gartenlaube Albert Traeger, dessen mit vielem Beifalle angenommene Jungfernrede den Beweis liefert, daß unser Freund nicht nur ein vortrefflicher Dichter, sondern auch ein ausgezeichneter parlamentarischer Redner ist.

Auf dem eigentlichen Berge der Linken thronen die Herren Sozialisten Hasenclever, Hasselmann, Vahlteich etc., meist noch junge und ganz manierliche Leute, die bis jetzt durch ihre Reden und besonders durch ihre geschichtlichen Zitate nicht gerade Furcht erregt haben. In ihrer Mitte bewegt sich der elegante Herr Sonnemann aus Frankfurt am Main, ein interessanter Kopf mit sorgfältig frisiertem Scheitel und dichten Bartcoteletten à l’anglaise, der Aristokrat seiner Partei, der mehr nach Eau de Colgogne als nach Petroleum zu riechen und lieber Champagner als Blut zu vergießen scheint, weshalb er den Namen eines Sozial-Aristokraten mit vollem Rechte verdient. Ursprünglich Kaufmann, vertauschte später Herr Sonnemann den Kurszettel mit der Feder, wurde ein geistreicher und pikanter Journalist und gründete als solcher die Frankfurter Zeitung, welche gegen die preußische Regierung eine scharfe Opposition unterhält. Außerdem wirkt Herr Sonnemann für den Deutschen Arbeiterverband und für Elsaß-Lothringen im föderalistischen Sinne. Konsequenter Weise stimmte er, obgleich er Israelit ist, mit den Ultramontanen gegen den bekannten Kanzelparagraphen und das Jesuitengesetz.

Auch unter den zahlreich vertretenen Nationalliberalen begrüßen wir manchen alten Bekannten, den unermüdlichen, redegewandten und durchaus braven Lasker, den Schrecken aller modernen Gründer, die beiden unzertrennlichen Dioskuren Bennigsen und Miquel und den berühmten Professor Gneist, gleich ausgezeichnet als geistvoller Jurist wie als parlamentarischer Redner. Unter den jüngeren oder neugewählten Notabilitäten der Partei bemerken wir Herrn von Treitschke, der, abgesehen von seinem schriftstellerischen Ruf, unwillkürlich unser Interesse in Anspruch nimmt. Obgleich er an schwerer Taubheit leidet, folgt er mit Hülfe seines Nachbars und Freundes, des Doktor Wehrenpfennig, der ihm fortwährend schriftliche Mitteilungen über die stattfindenden Verhandlungen macht, dem Gange der Debatte mit gespannter Aufmerksamkeit. Zuweilen ergreift er selbst das Wort und entwickelt eine unter diesen Verhältnissen doppelt überraschende Beredsamkeit. Zwar zeigt sein Organ eine gewisse Schwerfälligkeit, seine Sprache etwas Monotones, man möchte sagen Accentloses; auch stören die eigentümlichen, fast krampfhaften Bewegungen seines sonst nicht unschönen Kopfes, aber nichtsdestoweniger fesseln seine stets gedankenreichen, gediegenen Worte, wenn sie auch mehr den Eindruck geistvoller Essais als parlamentarischer Reden machen. Jener hochblonde blasse Herr ist Ludwig Bamberger, eine Autorität in allen volkswirtschaftlichen und Finanzangelegenheiten, da er, früher Advokat, als Flüchtling in Paris ein großes Bankhaus leitete, worin er sich die nöthigen praktischen Kenntnisse erwarb, um als Redner und Schriftsteller in allen sozialen Fragen eine entscheidende und beachtungswerte Stimme abzugeben. Ein gleiches Ansehen genießt auf dem Gebiete der kirchlichen Gesetzgebung Professor von Schulten aus Bonn, der eifrige Freund und Verteidiger des Altkatholizismus, dem würdig der jüngere Professor Hinschius aus Berlin zur Seite steht. Der Letztere hat im Bunde mit dem süddeutschen Abgeordneten Völk, der einer der mutigsten Streiter in dem großen Kulturkampfe gegen die römische Kirche ist, das neue Ehegesetz eingebracht. Außerdem besitzt gerade die nationalliberale Partei einen Überfluss an bedeutenden Talenten, zu denen außer den Genannten der ausgezeichnete Jurist Wolfsen aus Hamburg, Friedrich Kapp, der Geschichtsschreiber der Deutschen in Amerika, Professor Tellkampf aus Breslau, bekannt als juristisch-politischer Schriftsteller, der geistvolle Publizist und Biograph Waldeck’s Heinrich Bernhard Oppenheim und „unser Braun“ gehören.

Wenden wir uns jetzt dem schwarzen Zentrum zu, so zieht sogleich eine der interessantesten und bekanntesten Persönlichkeiten des Reichstages unsere Aufmerksamkeit auf sich. Gerade gegenüber dem Präsidentenstuhle sitzt auf der ersten Bank in Gedanken versunken ein kleiner untersetzter Herr mit kahlem Kopfe, kleinen kurzsichtigen, unter der stark gewölbten Stirn sich gleichsam versteckenden Augen und einer eigentümlich herabhängenden Oberlippe, so daß ihn, wie man zu sagen pflegt, gerade die Schönheit nicht erdrückt. Aber auch hier gilt die französische Redensart: C’est sa laideur qui fait sa beauté, da ein gewisser geistreicher Ausdruck der nichts weniger als durch Schönheit blendenden Physiognomie einen eigenen Reiz verleiht, besonders wenn im Laufe der Debatte sich sein gewöhnlich scheinbar ruhiges, aber still lauerndes Gesicht belebt. Dann funkeln die kleinen Augen; die schlaffen Züge spannen sich, und um die herabhängende Lippe zuckt ein ironisches, spöttisches Lächeln. Plötzlich unterbricht er den Redner auf der Tribüne und schleudert eine sarkastische Bemerkung in die Versammlung, welche gewöhnlich die allgemeine Heiterkeit erregt, oder auch zuweilen ein unwilliges Murren hervorruft. Der kleine, originelle Mann ist kein Anderer, als „die Perle von Meppen“, der Abgeordnete von Windthorst, früher hannoverscher Staatsminister des Königs Georg und gegenwärtig der Führer und das Haupt der Zentrumspartei. Zum großen Redner und Staatsmann, der er gewiss gern sein möchte, fehlt ihm vor Allem die Kraft der Wahrheit und die Wärme der Überzeugung, welche die Hörer unwillkürlich fortreißt. Dafür besitzt er einen scharfen Verstand, schlagenden Witz und die kühnste Rücksichtslosigkeit im Kampfe mit seinen Gegnern. Er erinnert vielfach an die Manier der französischen Fechtmeister mit ihrem spitzen, elastischen Fleuret. Wie sie, erspäht er mit scharfen Blicken jede Blöße seines Gegners und führt mit schlangenartiger Gewandtheit blitzschnell seine fein berechneten Stöße. Am interessantesten wird der Kampf, wenn er dem Fürsten Bismarck, seinem intimen Feinde, gegenübersteht. Dann verdoppelt sich seine Kühnheit und Rücksichtslosigkeit; seine kleinen Augen sprühen von Malice, und sein Witz wird immer beißender und schneidender. Aber trotzdem erliegt gewöhnlich der kleine Windthorst den wuchtigen Keulenschlägen des großen Bismarck, dem er mit seinem französischen Fleuret nicht gewachsen ist. Immerhin bleibt die Perle von Meppen ein gefährlicher Gegner, da er nach allen Seiten bis in die höchsten Regionen einflussreiche Verbindungen unterhält und in der Wahl seiner Mittel echt jesuitischen Grundsätzen huldigt. Bald reicht er den Elsässern die Hand, bald sieht man ihn Arm in Arm mit dem Sozialaristokraten Sonnemann, bald lächelt er den Konservativen und Partikularisten zu, bald coquettirt er selbst mit den Nationalliberalen und der Fortschrittspartei, wenn es sich darum handelt, der Regierung und besonders dem verhassten Reichskanzler eine unangenehme Verlegenheit zu bereiten, ein schlauer Plänkler, ein unermüdlicher Parteigänger, ausgezeichnet im kleinen Kriege, aber kein Feldherr, der welthistorische Schlachten schlägt.

Sein nächster Nachbar ist der auch geistig ihm nahestehende und verwandte Herr von Mallinckrodt, ein begabter Redner, dem ebenfalls die Waffe des Witzes, wenn auch nicht in demselben Maße wie seinem Freunde Windthorst, zu Gebote steht, den er noch an Fanatismus, aber auch an Ehrlichkeit übertrifft. Beiden zur Seite sitzen die Brüder Reichensperger, gleichfalls Mitglieder der streitenden Kirche, sonst ebenso begabte wie achtungswerte Männer, von denen der ältere, August, durch seine Arbeiten aus dem Gebiete der christlichen Kunst sich einen Namen erworben hat, während Peter, Mitglied des Obertribunals und scharfsinniger Jurist, auch als parlamentarischer Redner einen bedeutenden Ruf genießt, obgleich seine Reden an einer gewissen Breite und salbungsvollen Selbstgefälligkeit leiden. Aber jener junge, schlanke Mann in schwarzem Talar, dessen blasses, glattes Gesicht mit den bald zu Boden gesenkten, bald keck herumschweifenden und herausfordernden Blicken den unverkennbaren Typus des jüngeren katholischen Klerus zeigt, jene seltsame Mischung von seminaristischer Demut und ultramontaner Streitlust, von römischem Übermute und jesuitischer Schlauheit, kann wohl kaum ein Anderer sein, als der vielgenannte Herausgeber der „Germania“, Paul Majunke, der Journalist im Priesterkleide, der den Ton und die Taktik der auswärtigen ultramontanen Zeitschriften und Jesuitenorgane mit anerkennenswerter Geschicklichkeit ins Deutsche übersetzt und mit seinen französischen und italienischen Vorbildern an Feindseligkeit gegen den protestantischen Staat wetteifert. Auch als Redner zeichnet er sich mehr durch eine gewisse kecke Schlagfertigkeit aus, als durch Reichtum an Gedanken und priesterliche Würde. Der helle Klang seiner Stimme hat etwas Schreiendes, Herausforderndes und erinnert im Vereine mit seiner ganzen demonstrativen Haltung an die Disputationsübungen junger Theologen im Convicte.

Ebensowenig kann der Herr Domcapitular Moufang aus Mainz den katholischen Geistlichen verleugnen, wenn er auch einen ganz andern Typus repräsentiert. Eine untersetzte, gedrungene Gestalt mit kahlem, auf dem kurzen Nacken sitzendem Kopfe, an dessen breiter, flacher Stirn man das berüchtigte „Non possumus“ zu lesen, den Consultor der römischen Curie und Verteidiger der päpstlichen Unfehlbarkeit zu erkennen glaubt, ebenso starr und unnachgiebig wie sein College Majunke elastisch und beweglich erscheint, der Eine ein mittelalterlicher Ketzerrichter, mit dem Scheiterhaufen, der Andere ein moderner Jesuitenzögling, mit dem sozialistischen Petroleum drohend. Unter den übrigen schwarzen Herren, welche diesmal im Reichstage stark vertreten sind, bemerken wir noch den bekannten geistlichen Rath Müller aus Berlin, einen äußerlich gemütlich aussehenden, blonden, wohlgenährten Herrn mit rosigen Wangen, der besonders auf sozialem Gebiete unter den katholischen Arbeitern und Gesellen für den Ultramontanismus Propaganda macht; ferner den Stadtpfarrer Westermaier aus München und den Prinzen Radziwill aus Beuthen, eine elegante hocharistokratische Erscheinung, halb vornehmer Dandy, halb frommer Priester und ganz von dem Holze, woraus man in Rom gefügige Werkzeuge, deutsche Bischöfe und Kirchenfürsten zu machen pflegt.

Einen seltsamen Kontrast mit diesen geistlichen Elementen bilden die weltlichen Herren des Zentrums, unter denen man vorzugsweise den hohen Adel der Rheinprovinzen, Schlesiens, Westphalens, Baierns, Badens und Württembergs findet, die Grafen Stollberg-Stollberg, von der bekannten katholischen Linie, die Freiherren von Aretin, von Heeremann-Zuydwyk, von Landsberg und von Hafenbrädl, die Grafen Nayhauß, Ballestrem, Praschma, Chamaré, Galen, Preysing, Bissingen-Nippenburg und Waldenburg-Zeil, meist junge, lebenslustige Herren, die im ultramontanen Lager ohne besondere Auszeichnung dienen, zum Theil Schüler der Jesuiten, kaiserlich-königlich österreichische Kammerherren und Ritter päpstlicher Orden, von denen Einer oder der Andere sogar unter Lamoricière die Waffen für den heiligen Vater getragen, moderne Kreuzfahrer, die jedoch bis jetzt keine nennenswerten Eroberungen gemacht haben.

Bedeutender sind dagegen die beiden Diplomaten des Zentrums, die Herren von Savigny und von Kehler; Ersterer, der frühere Bevollmächtigte und Minister Preußens bei der Bundesversammlung in Frankfurt am Main bis zur verhängnisvollen Katastrophe am 14. Juni 1866, schloss sich später aus Unzufriedenheit mit der Politik des Fürsten Bismarck den Ultramontanen an, obgleich er ein Sohn des bekannten preußischen Justizministers und Rechtsgelehrten von Savigny ist. Ebenso stand auch Herr von Kehler als Legationsrat in preußischen Diensten; gegenwärtig aber gilt er für einen besonders eifrigen und in alle Geheimnisse eingeweihte römischen Emissär. Außerdem zählt die Partei noch einige bemerkenswerte Persönlichkeiten, wie den Inspektor der königlichen Erzgießerei in München, Herrn von Miller, der sich durch den schwierigen Guss der „Bavaria“ einen Namen und den Adel erworben hat, den Historienmaler Baudri, dem die neuere Glasmalerei manche gelungene Arbeit verdankt, und den Professor Herrn von Buß aus Freiburg im Breisgau, Verfasser verschiedener staats- und kirchenrechtlicher Schriften.

Umgeben von diesen Mitgliedern des Zentrums erblicken wir einen alten Herrn, dessen weißes, würdiges Haupt uns statt Ehrfurcht nur Mitleid einflößt, wenn wir seinen Namen hören, der einst einen so guten Klang in Deutschland hatte. Es ist der oft genannte Professor Ewald, einer der sieben Göttinger Kämpfer gegen die Willkür des Königs Ernst August von Hannover, jetzt der wütendste und verbissenste Partikularist, dessen tragikomische Erscheinung und Reden unwillkürlich Heiterkeit erregen, eine traurige Ruine, in der statt des früheren Geistes der Freiheit jetzt nur das Gespenst des Welfentums spukt. Mit dem Zentrum mehr ober minder verbunden sind die Polen, unter denen der Abgeordnete Dr. Niegolewski durch Geist und Rednergabe hervorragt, ferner die reichsfeindlichen Elsasser, welche eine ganz besondere Beachtung verdienen. An ihrer Spitze steht der Bischof Räß von Straßburg, ein kleiner, klug aussehender Greis mit scharfen Zügen, der in seinem violetten Talare und mit dem gleichfarbigen Käppchen auf dem weißen Kopfe einen recht würdigen Eindruck macht, obgleich ihn Herr About wegen des bekannten Protestes gegen den Antrag seines Collegen Teutsch für einen verkleideten Weinhändler hält. Ein nicht gewöhnliches Redetalent entwickelte der Canonicus Gerber oder Guerber aus Hagenau, der mit vielem und rührendem Pathos den Klagen seiner Landsleute Worte lieh, und sein College, der Pfarrer Winterer aus Mühlhausen, welcher in ähnlichem Sinne mit jener leidenschaftlich theatralischen Rhetorik sprach, welche die französische Rednerschule charakterisiert. Ihre zum Teile begründeten Vorwürfe gaben dem Fürsten Bismarck die Gelegenheit, eine seiner glänzendsten Reden zu improvisieren, gegen die ihre französische Rhetorik sich nicht behaupten konnte, obgleich sie sichtlich Eindruck machten.

Auf der rechten Seite des Hauses herrscht wieder entschieden das aristokratische Element vor, das sich auch äußerlich durch die hohen, eleganten und vornehmen Gestalten kund giebt. Mitten unter diesen Herren zeichnet sich Graf Moltke durch seine schlichte, bescheidene Erscheinung aus. Der weltberühmte Stratege hat sich auch als bedeutender Redner mehrfach gezeigt, obgleich er sich nur selten hören lässt und es vorzieht, gedankenvoll zu schweigen. Sein schlanker Nachbar mit aristokratischem Gesichte und blondem Vollbarte ist der Prinz Wilhelm von Baden, Bruder des regierenden Großherzogs, früher Kommandeur der badischen Truppen im Jahre 1866, gegenwärtig preußischer General der Infanterie und Kommandeur der ersten badischen Infanterie-Brigade im Feldzuge gegen Frankreich, ein fein gebildeter und allgemein beliebter Herr. In seiner Nähe sitzt der Fürst von Lichnowski, der Bruder des genialen, unglücklichen Felix, mit dem er jedoch wenig oder gar keine Aehnlichkeit zu haben scheint. Interessanter sind die nächsten beiden Abgeordneten, die als Führer der sogenannten deutschen Reichspartei gelten, der bekannte Graf Bethusy-Huc, ein gewandter Redner, der nur mitunter allzu kühne Bilder braucht, und Herr von Kardorff, jener schlanke Herr mit feinen intelligenten Zügen. An Beide schließt sich der frühere Landrath Friedenthal an, zwar kein Aristokrat von Geburt, aber ein reicher Gutsbesitzer, der sich um die neue Kreisordnung entschiedene Verdienste erworben hat und dessen Rath in allen ähnlichen Fragen von der Regierung gern gehört und beachtet wird. Hinter demselben erblicken wir die beiden Herzöge von Ratibor und Ujest, den Fürsten von Pleß und den – Kultusminister Falk, einen angehenden Vierziger, dessen schlichte äußere Erscheinung keineswegs den energischen Gegner aller kirchlichen Übergriffe vermuten lässt. Das Gleiche gilt von seinem Kollegen, dem Handelsminister Achenbach, dem Nachfolger des vielberufenen Grafen Itzenplitz. Eine besondere Gruppe bilden die alten Excellenzen, unter denen man manche interessante und bedeutende Persönlichkeit findet, wie den früheren Reichsminister für Justiz im Jahre 1848 und jetzigen Präsidenten der Oberrechnungskammer von Mohl aus Karlsruhe, der die deutschen Grundrechte verkündigt hat, ferner von Bernuth, gleichfalls Justizminister der neuen Aera in Preußen unter dem Ministerium Hohenzollern und endlich noch den ehemaligen bairischen Ministerpräsidenten Fürsten von Hohenlohe-Schillingsfürst, den Nachfolger des Herrn von der Pfordten, Vizepräsidenten des Zollparlaments und des deutschen Reichstags, bekannt durch seine echt patriotische Gesinnung.

Die aus so verschiedenartigen Elementen zusammengesetzte Versammlung bietet natürlich dem Beobachter ein ebenso interessantes wie bewegtes Schauspiel, das an manchen Tagen, wenn eine besonders wichtige Verhandlung vorliegt, einen bedeutenden Eindruck macht. Im Ganzen herrscht meist ein ruhiger, gemessener Ton vor, der nur selten durch einen stürmischen Auftritt unterbrochen wird und den Ordnungsruf des Präsidenten nöthig macht. Die politischen Gegensätze haben im Laufe der Zeit von ihrer Schärfe verloren und sich aneinander abgeschliffen; auch finden sie in den Kommissionssitzungen hinlängliche Gelegenheit, sich auszusprechen und zu bekämpfen. Nur in den religiösen Fragen verraten die Heißsporne des Zentrums eine große Reizbarkeit, die sich zuweilen in scharfen Worten oder unartikulierten Lauten Luft macht. Auch fehlt es nicht an Rednern, welche eine unwillkürliche Heiterkeit erregen oder durch ihre bloße Erscheinung eine wahre Panik verbreiten, indem sie den Saal leeren und die Fraktion Rubin füllen.

Dagegen giebt es Momente der höchsten Spannung und einer wahrhaft heiligen Stille. Dies ist stets der Fall, wenn bei einer großen Verhandlung sich ein besonders hervorragender Redner zum Worte meldet, oder wenn gar Fürst Bismarck sich von seinem Sitze erhebt, um in seiner bekannten Weise sich selbst oder eine Maßregel der Regierung gegen die Angriffe eines Abgeordneten zu verteidigen. Meist beginnt er mit leiser Stimme, von der Tribüne kaum vernehmbar, stockend und zögernd, bis er wärmer und erregter Schlag auf Schlag immer dichter und vernichtender auf das Haupt seiner Gegner niederfallen lässt, bald mit würdigem Ernste und staatsmännischer Größe, bald mit vernichtendem Spotte und schlagendem Witze ihre Gründe widerlegend, trotz Krankheit, Schmerzen und sichtlicher Schwäche die Hörer fesselnd und mit sich fortreißend, kein eigentlicher kunstvoller, schulgerechter, aber ein geborener, genialer Redner, den wir unwillkürlich bewundern müssen, auch wenn wir nicht mit seiner Politik immer einverstanden sind.

Ein ganz besonderes Interesse erregte in der letzten Zeit die große und wichtige Debatte um die Militärvorlage, wobei es sich eigentlich um das Budgetrecht handelte. Wenn auch die Mehrzahl der Versammlung die Notwendigkeit einer starken Heeresmacht anerkannte und auch bereit war, aus diesem Grunde die Forderungen der Regierung zu bewilligen, so war doch selbst ein großer Theil der Nationalliberalen nicht geneigt, sich für ewige Zeiten durch die Annahme des Gesetzes binden zu lassen und auf das Bewilligungsrecht der nöthigen Kosten für immer zu verzichten. Von Neuem drohte daher ein sowohl für die Regierung wie für den Reichstag und das ganze Land höchst gefährlicher Konflikt, der durch den bekannten Kompromiss beseitigt wurde.

Während der schwebenden Verhandlungen herrschte die größte Aufregung, die sich auch in den Debatten des Hauses kund gab und leider eine Spaltung der Fortschrittspartei herbeiführte, indem zehn Mitglieder derselben unter der Führung von Löwe-Calbe, wie wir hören, mehr aus persönlichen als aus sachlichen Gründen ihren Austritt aus der Fraktion erklärten, ohne deshalb ihre politische Gemeinschaft mit derselben aufzugeben. Obgleich durch die vorher erfolgte Vereinbarung, woran sich hauptsächlich der kranke Reichskanzler und die Herren von Forckenbeck und Bennigsen lebhaft beteiligten, dem Kampfe die Spitze abgebrochen war und der Erfolg sich mit Gewissheit voraussehen ließ, so waren doch die Tribünen bis auf den letzten Platz besetzt und die Abgeordneten selbst leidenschaftlich bewegt. In den Gängen und der großen Halle des Hauses machte sich schon früher eine fast stürmische Unruhe bemerkbar; alte Freunde und Fraktionsgenossen begegneten sich in heftigem Streite und schieden als Gegner, da sie sich über ihre Stellung zu der Militärvorlage nicht vereinigen konnten. Selbst ist dem Lager der Nationalliberalen drohte ein Zwiespalt auszubrechen, weil Lasker mit anerkennungswerter Festigkeit das Budgetrecht gewahrt wissen und sich höchstens zu der siebenjährigen Frist verstehen wollte. Unterdessen fanden an dem Lager des leidenden Fürsten Bismarck in der Wilhelmstraße fortwährende Besprechungen mit den bereits genannten Herren und selbst ernste Berathungen unter dem Vorsitze des greisen Kaisers statt, deren Resultate die Abgeordneten jetzt mehr oder minder erregt besprachen.

Unter so gespannten Verhältnissen wurden die höchst interessanten Verhandlungen über die Militärvorlage mit einem durchaus objektiven und klaren Bericht des Abgeordneten Miquel eröffnet, an den sich eine überaus lebhafte Debatte knüpfte. Mit schneidender Schärfe griff Windthorst das Gesetz an, welches von Bennigsen in einer seiner glänzendsten Reden verteidigt wurde, wobei er der Perle von Meppen mit gleicher Münze zahlte und die politische Vergangenheit des früheren hannöverischen Ministers einer geistreichen, fein ironischen Kritik unterwarf. Mit wahrhaft bewunderungswürdiger Beredsamkeit kämpfte Richter von der Fortschrittspartei für das Budgetrecht des Reichstags, von dem häufigen und wohlverdienten Beifall seiner Parteigenossen unterbrochen. Auch das Zentrum schickte außer Windthorst noch seine besten Redner, Mallinckrodt und Reichensperger in’s Gefecht, während von Seiten der Nationalliberalen Treitschke und Lasker das Wort ergriffen. Obgleich der Sieg der Regierung, nachdem sie in den Kompromiss gewilligt, nicht länger zweifelhaft sein konnte, entbehrte doch die Debatte und die namentliche Abstimmung nicht eines hohen dramatischen Interesses.

So erscheint der deutsche Reichstag in seiner jetzigen Gestalt und Wirksamkeit ungeachtet mancher Mängel und Schwächen als eine der bedeutendsten und großartigsten Schöpfungen der Neuzeit, als der verkörperte Ausdruck des deutschen Volkswillens, als die Arena, in welcher die Geister auf einander platzen und die großen Fragen der Zeit in friedlicher Weise gelöst werden, als eine Bürgschaft für die Einheit und Größe unseres Vaterlandes, wenn es auch nicht an manchen feindlichen und trüben Elementen fehlt, welche die großen Errungenschaften der letzten Jahre bedrohen. Nichtsdestoweniger scheiden wir mit der Überzeugung, daß das deutsche Volk und die deutschen Regierungen mit Hülfe des Reichstags über alle inneren und äußeren Feinde triumphieren und in dem großen Kulturkampfe gegen Ultramontanismus und Sozialismus stets ihre Pflicht thun werden.