Fortsetzung (4)

Bei Einbruch der Nacht des folgenden Tages hatte ich mich von der mir zugewiesenen, am äußersten Ende des Ortes gelegenen Behausung aufgemacht, um „Heiligabend“ bei meinen Gastgebern, den „Staatsgefangenen“, zuzubringen. In Gedanken versunken ging ich durch die dunklen, nur vom Schnee erleuchteten Straßen. Seltsam, damals erschienen mir die kleinen, nur mit Eis und Schnee beworfenen Häuschen noch kleiner, noch elender, als si ohnehin schon waren. Ein unterdrücktes Hüsteln drang hier und da an mein Ohr. Ja, ich wusste ja, dass Krankheit und Sorge auch während der heiligen Nacht nicht aus dieser weltentlegenen Ansiedlung weichen würden, aber es presste mir doch das Herz zusammen, als ich beim Weiterschreiten an die Heimat dachte, im Geiste den im Lichterglanz erstrahlenden Tannenbaum und fröhliche Gesichter sah. Und hier! In licht- und luftleeren Räumen stumme Ergebenheit, dumpfes Hinbrüten. Kaum ein flüsternd fortgetragenes Wort. Kaum ein flüchtiges Lächeln auf den fahlen Wanken. Der trübe, glanzlose Blick auf das verräucherte Heiligenbild, vor dem die mit Fischtran genährte ewige Lampe flackert, geheftet. Auf dem Tisch die übliche Festspeise, gefrorener, in Späne geschnittener roher Fisch in einer Essigtunke und schwarzes Brot, 40 Pfennig das Pfund, vielleicht auch noch Chajak, dies ist gefrorene gesäuerte Milch. Und auch das nicht überall. Meist nur roher Fisch. Ich nähere mich der Kirche, deren Türen trotz der Kälte weit offen stehen. Blendender Lichterglanz; große goldumwickelte Kerzen. Vater Wladimir im silbernen, mit goldenem Kreuz bestickten Priestergewand, Diakon und Psalmist in Chorröcken aus glänzendem Brokat. Unaufhörliches Schwenken des Weihrauchfasses, unzählige Heiligenbilder inmitten imitierter Edelsteine. Dazu das „Christ ist gestorben“ andachtslos von den jugendlichen, ungeschulten Stimmen einiger Jakutenknaben vorgetragen. Weiber mit bunten Kopftüchern, Männer in Fellstiefeln und abgeschabten Renntierröcken. Über allem eine dunstige Fischtranatmosphäre, nur gemildert durch die Weihrauchstäbchen. Doch weiter. Am Kirchhof vorüber, dessen kleine Holzkreuzchen gleich Gespenstern weite Schatten über die schwankende Brücke über den Ankutin, welche die Stadt in zwei Teile schneidet; zuletzt noch eine kleine Anhöhe und ich bin am Ziel. An der Bibliothek, wo heute Christus der Herr im Hause der Abtrünnigen zu Gast weilt,,. Ein kleines Schneehaus, den übrigen gleich, 3 Meter hoch, vielleicht 10 Meter im Geviert. Man hatte schon auf mich gewartet. Ich bin der zuletzt angekommene, alle übrigen sind bereits versammelt. Etwa 24 Personen, mit den Gästen. Manche in hellgrauer Interimsjoppe mit blauer Verschnürung, ehemalige Besucher der Alma mater verratend, dann, in groben Kitteln, einige Arbeiter aus Odessa, ein Mediziner nebst Frau, ein Elektriker, ein Armenier und mehrere Gelehrte. Dunkle, blitzende Augen musterten mich. Derbe, sehnige Hände steckten sich mir entgegen. Es sind wohl sechs Damen anwesend. Die Unterhaltung wird vorzugsweise in russischer und deutscher Sprache geführt, doch hört man auch Französisch, Polnisch und Armenisch. Eine dumpfe, drückende Luft wälzt sich durch die kleinen unventilierten Räume. Im Kamin lodert ein prassendes Holzfeuer. Iwan Petrovitsch, seines Zeichens Naturforscher, leitet die Freier ein. Er begrüßt uns und entwickelt dann mit kernigen Worten das politische Programm seiner Partei. Er wird mit jedem Satz leidenschaftlicher, drohender und endet nach etwa zwanzig Minuten mit den Worten: Konstitution, Rede- und Gewissensfreiheit. Dröhnend fällt seine Rechte auf die Festtafel nieder. Er schüttelt das ins Gesicht gefallene lange Haar zurück und gibt dann einigen Genossen, welche begnadigt sind und demnächst nach Russland zurückkehren, gute Wünsche mit auf dem Weg.

Man setzt sich in zwangloser Reihenfolge zu Tisch. Eine Genossin spielt die Wirtin. Aufgetragen wird Fischpastete, Hasenbraten, Wildente und Renntierfleisch. Große Flaschen enthalten Schnaps und eine billige Sorte Ru. Alles unter großer Mühe noch kurz vor dem Fest beschafft. Es wird viel getrunken, wenig gegessen. Die „Arbeitermarsaillaise“ ertönt. Alles erhebt sich. Im Nebenzimmer dreht sich Marie Pawlowna mit einem kleinen Arbeiter aus Odessa nach den Klängen einer leidlich gut gespielten Fiedel im Tanz. Frenetisches Beifallklatschen. Ausgelassenste Heiterkeit! Vera Jefremowna, eine kleine hübsche Jüdin, trägt sodann ein die Terroristen verherrlichendes Gedicht vor. Es werden Süßigkeiten gereicht. Bonbons billigster Sorte. Dann wieder Schnaps, Schnaps und Schnaps, an dessen Vertilgung sich auch die Damen fleißig beteiligen.


Noch ein Mandolinenspiel und man setzt sich schläfrig zum Teetisch. Eine allgemeine Erschöpfung ist hereingebrochen. Im Ofen prassel's mehr als zuvor. Die heiße, unventilierte Luft in den staubdurchzogenen Räumen ist fast unerträglich geworden. Durch den Qualm, der sich in Wellenlinien durch die Stuben schlängelt, sehe ich an der einen Wand ein wohlgelungenes Porträt von Karl Marx, darunter ein schlechter Kupferstich, „Die Arbeit“, in allegorischen Figuren dargestellt. Man stellt noch mehr Schnaps in Aussicht, der irgendwoher beigeschafft werden soll: ein Genosse ist schon unterwegs. Ich ziehe es aber vor, mich zu verabschieden, und verspüre eine wohltuende Erquickung. Als der kalte Nachtwind meine Schläfen berührt. Ich höre noch, wie man drinnen mit heiserer Kehle brüllt: „Nieder mit der Regierung!“ Dann umfängt mich die Nacht und ihr eisiges Schweigen.