Fortsetzung (3)

Der Nebel hatte tiefster Dunkelheit Platz gemacht. Die Polarnacht mit all ihren Schrecken hielt uns umfangen, seit wir die Indigirka hinter uns hatten. Es war mir unmöglich, auch nur den nächsten Schlitten zu unterscheiden. Nur ein gelegentliches Aufblitzen von Raubtieraugen war zu bemerken, nichts weiter. Durch gelegentlichen Zuruf „Türgannik“ - „schneller“ - trieb ich den Kutscher zur Eile an. Tage um Tage schlängelten wir uns durch Weidengestrüpp. Dann erreichten wir die ersten großen Seen, welche die Nähe von Chatygnach, die Grenze des Kreises Sredne-Kolymsk verkünden und welche sich viele, viele Meilen weit durch das Land hinziehen. Um den Tieren ein wenig Ruhe zu geben, rasteten wir am Ufer des ersten Sees, bis die Morgendämmerung anbrach. Die Nebelschwaden zogen noch über die spiegelglatte Fläche, als ich, frosterstarrt und übernächtigt, Befehl gab, mit dem Übergang über das Eis zu beginnen. Die Renntiere folgten nur unwillig ihrem Führer Iwan, der, mit einem langen Stock bewaffnet, vorausging und das Eis auf seine Tragfähigkeit untersuchte, da sich fast beständig infolge von warmen Quellen Löcher im Eis bilden, die durch die intensive Kälte allerdings alsbald wieder gefrieren, aber kein genügend starkes Eis haben, um sie mit Lastschlitten passieren zu können. Es war schrecklich, ansehen zu müssen, wie die armen Renntiere sich auf der glatten Fläche mit ihrer Last abmühten. Sie zitterten und schauten uns mit ihren großen braunen Augen hilfeflehend an. Aber wir mussten weiter, sollten nicht Menschen und Tiere zugrunde gehen. Nur zollweise kamen wir vorwärts, denn fast beständig lagen einige der Zugtiere keuchend um sich schlagend am Boden. Zu alledem setzte wieder furchtbarer Nebel ein. Ich war bisher zu Fuß gegangen und hatte mich eben auf Iwans Anweisung wieder in den Schlitten begeben, als ich durch seinen Schreckensruf darauf aufmerksam gemacht wurde, dass wir in offenes Wasser geraten seien. Sehen konnte ich vom Kutscher nichts, der Nebel hatte ihn aufgenommen. Dafür hörte ich aber, dass einige der Renntiere sich in sinnloser Angst von ihren Schlitten befreit hatten, scheinbar festen Fuß fassten und ohne Bürde davon jagten. Mir rann es eisigkalt über den Rücken, mein Schlitten schwamm zwar und mit ihm die braven Renntiere, aber wie lange konnte das dauern? Wie bald musste ich unter die Eisdecke geraten! In einer solchen Situation gebiert der Bruchteil einer Sekunde mehr Gedanken, als es sonst Stunden vermögen. Meine Kleider begannen bereits zu gefrieren, aber ich empfand nicht den körperlichen Schmerz, sondern beobachtete nur das seltene Schauspiel, wie die Renntiere mit ihrer schweren Bürde versuchten, schwimmend festes Eis zu gewinnen. Und es gelang ihnen. Zitternd und Schnaufend arbeiteten sie sich förmlich mit allen Vieren zugleich wieder auf das rettende Eis. Die Zugtiere sowohl wie mein eigenes Ich waren vollkommen in eine glänzende Eiskruste eingehüllt. Iwan standen bei meinem Anblick Tränen in den Augen. Er war keines Wortes fähig, aber ich konnte es seinem Gebaren anmerken, dass er mich bereits für eine Beute des Sensenmannes gehalten hatte. Nachdem ich schnell an Ort und Stelle die Pelze gewechselt und Iwan die gehörnten Flüchtlinge mit Hilfe des Lassos wieder eingebracht hatte, ging's, so schnell die erschöpften Tiere laufen konnten, bis zum Rande des Sees und von dort nach Chatygnach, wo uns ein neuer grässlicher Anblick erwartete. Ein Bär hatte zwei Stunden vorher ganz in der Nähe der Niederlassung unmittelbar an dem Wege, welchen wir eben gekommen, eine Jakutenfamilie beim Holzsammeln überrascht, Vater und Mutter getötet und den zur Hilfe herbeieilenden Sohn schwer verwundet. Vor uns auf dem Schnee lagen noch die blutüberströmten Leichen. Ich ließ in aller Eile meine Reiseapotheke auspacken und versuchte dann mit meinen wenigen Kenntnissen von Medizin und Heilkunde, dem Schwerverwundeten zur Hilfe zu kommen. Er war in übler Weise zugerichtet. Der Unterkiefer war zerschmettert, ein furchtbarer Biss in die linke Wange hatte diese vollkommen entstellt und auch der rechte Arm war gebrauchsunfähig. Der Kranke selbst lag im Delirium. Ich stillte zuerst, so gut es unter den obwaltenden Umständen möglich war, die Blutung, reinigte sodann die Wunden und legte einen Notverband an. Alles, was ich als Laie eben tun konnte. Dann legte ich mich zur Ruhe, da sich infolge des unfreiwilligen kalten Bades bei mir Fieber eingestellt hatte.

Der nächste Morgen sah mich jedoch wieder frisch, auch der Patient war am Leben. Ein Zeichen, wie zähe die Natur dieser Leute ist. Als Dank für meine ärztliche Hilfe packte man mir einen Sack gefohrene Mich, zwanzig Pfund Butter und ein großes Stück Renntierfleisch auf die Schlitten. Nun ging's über Berdigystiach und Sythgytar nach der letzten Schutzhütte vor Sredne-Kolymsk, Jatschitschee. Zum letzten mal suchte ich auf dem eisigen, glitzernden Lager für wenigen Stunden Ruhe, denn eine „Povarnaja“, das ist Schutzhütte , hat keine Bewohner und keinerlei Einrichtung, außer einem meist vollkommen verfallenen Kamin, einer Holzpritsche und einen Tisch. Sie ist lediglich eine Zufluchtsstätte, und wenn man sich in ihr zum Schlafen niederlegt, kann man sicher sein, mit gefrorenem Kopf- und Barthaar wieder zu erwachen.


Der andere Tag, der letzte, brachte nichts abnormes. Pawel – ich hatte in Berdigystiach wieder den Kutscher und die Zugtiere Gewechselt – sang lustige Jakutenweisen, wohl in der Erwartung, dass er nun bald wieder in der „Großstadt“ sein würde und sein Bräutchen Mä-äm-mä sehen könne. Um letzten Mal während dieser siebenundzwanzigtägigen Reise durch die nordasiatische Wildnis würde es Abend. Die Formen versanken langsam in ungewissem Lichte und nahmen gigantische Größe an. Sredne.Kolymsk mit seinem langen, glitzerndem Bande, der von der nördlichen Fortsetzung des Stanowojgebirges kommenden Kolyma, lag vor uns. Aus den Eisenfenstern der wenigen Jurten, welche die seltsame Stadt bilden, drang nur matter Lichtschein auf die Straße, eine weihevolle Stille empfing uns. Als ich mit Schellengeläute am Postgebäude vorfuhr, war meine Kraft zu Ende, aber ich hatte als erster Europäer die sibirische Post 1.200 englische Meilen durch eines der unwirtlichsten Gebiete der Erde geführt.

So müde war ich so froh, wieder unter Dach und Fach zu sein. Und alle umstanden sie mich, alle, die fern von der Zivilisation ihr eigenes Leben führten, in Armut und Finsternis von der Wiege dem Grabe entgegenwanderten. Und allen schlug in nimmermüdem Schlage ein Menschenherz. Auch durch ihre Adern floss warmes Blut. Ihre Augen leuchteten für Sekunden auf, ein Sehnen sprach aus ihren Zügen. Dann falteten sie wieder in Ergebenheit die Hände, und gar an manche Wimper heftete der Nordwind eine zu Eis erstarrte Träne. Während ich noch mit der Übergabe der Post beschäftigt war, trat ein Abgesandter der für politische Verbrechen ins Exil gesandten Gefangenen auf mich zu und mich im im Namen der Genossen ein, für die Dauer meines Aufenthaltes in Sredne-Kolymsk ihr Gast zu sein. Gleichzeitig überbrachte er mir eine Einladung, der am nächsten Abend stattfindenden Weihnachtsfeier der Verbannten beizuwohnen. Ich sagte unbedenklich zu und will hier versuchen, den für mich unvergesslichen Abend zu schildern.


Eine Schlittenfahrt durch Nordsibirien 04

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Mamutlokomotive

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Milchverkauf am Zug

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sibirischer Reisewagen

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