Fortsetzung (1)

Bald lag der 67. Breitengrad hinter uns. Vor uns dehnte sich weit, unermesslich die Tundra. Fast schien es mir, als hätten uns die verkrüppelten Lerchenbäume für alle Ewigkeit in ihre Gemeinschaft aufgenommen. Kein Weg, kein Steg, das erschauernde Entsetzen nur durch den ungestümen Schlag des Herzens unterbrochen. Um meine fröhliche Stimmung war's unter solchen Umständen gar bald geschehen. Ein sonderbares Etwas schnürt mir die Kehle zu, während die Renntiere in großen Sätzen über die knirschende Schneedecke dahineilten. Ein leichter Nordost blies uns entgegen und hinterließ auf den Wangen rote Flecke, die wie das leibhaftige Fegefeuer brannten. Kleine Eispartikelchen setzen sich an die Augenwimpern, und jeder Versuch, sie zu entfernen, verursachte nur um so größere Schmerzen. Die Finger wurden trotz der sorgfältig ausgefütterten Handschuhe aus Wolfsfell bedenklich klamm, und auch die Füße begannen nicht gerade angenehm zu kribbeln. Der Bart hatte sich schon längst in große und kleine Eiszapfen eingehüllt. Auch in der Brust schien etwas vorzugehen. Der eisige Wind, der mit jedem Atemzug Einlass fand, begann in den inneren Organen Schlupfwinkel zu suchen, und ich hatte das Empfinden, als wenn ungezählte Messerklingen an der Arbeit wären, um meine Lunge in kleine Atome zu zerlegen. Die entsetzliche Kälte schläferte mich bald ein. Bilder des vergangenen Tages zogen an mir vorüber.

Richtig, wir hatten ja noch zu guter Letzt Michael zu Grabe getragen. Drei Tage hatten zwei Kosaken angestrengt gearbeitet, um der durch die Kälte fast hart wie Stahl gewordene Erde eine Grube abzutrotzen, die tief genug war, um den „Erfrorenen“ aufzunehmen. Hatte ich nicht mit bloßem Kopf an dem offenen Grabe gestanden; gesehen, wie der einfache schwarze Sarg in die dunkle Tiefe sank und wie unter dem ungeschulten, dabei doch ergreifenden Gesang kleiner Jakutenbuben glitzernde Eisschollen als letztes Zeichen der Pietät polternd das Grab, die letzte Ruhestätte eines Menschen schlossen, den fern von der Heimat die ewig gleichgestellte Uhr des Dienstes bis zum letzten Atemzug im Gleise hielt? Keinen Kranz, keine Blume konnte man ihm mitgeben; Eis, nichts als Eis. - Wie das Leben, so der Tod. -


Ein langer, klagender Ton ließ mich erwachen. Wir waren rechts und links von Wölfen umgeben, die allerdings keine Miene machten, uns zu belästigen, sondern sich damit begnügten, in respektvoller Entfernung uns auf weite Strecken hin zu begleiten. Nur grüne, unheimlich flimmernde Augen, die zu beiden Seiten des Weges auftauchten, und hin und wieder ein klägliches Heulen verrieten ihre Gegenwart. Unsere Renntiere schienen nicht sonderlich von ihnen Notiz zu nehmen. Nur wenn eine der Bestien gar zu dreist wurde und näher an die Schlitten kam, sprangen sie erschreckt zur Seite.

Nach einer zweitägigen Reise, an der rechten Seite eines Bergsees, fanden wir einige kleine Blockhäuschen, die Jakutenniederlassung Küreliach, zugleich Kaiserlich Russische Hilfspoststation.

Nikolai hält vor der Tür des größten Gebäudes an, schirrt die Renntiere aus, hängt jedem von ihnen einen ansehnlichen Holzpflock um den Hals und überlässt sie dann sich selbst. Den Leitbock voran, verschwinden sie schnell im Wald, um dort, von einem Jakuten bewacht, sich an Renntiermoos zu erfrischen. Ich selbst begebe mich inzwischen ins Haus. Eine angenehme Wärme und zugleich auch eine ägyptische Finsternis empfängt mich. Polternd falle ich in die Stube. Ich hatte nicht berechnet, dass der aus gestampftem Lehm Fußboden drinnen tiefer liegt als draußen. Beim Emporrichten fächelt mir irgend jemand mit einer Quaste in das Gesicht. Da ich nichts sehen kann, greife ich beherzt zu. Vollkommen harmlos. Ein Kuhschwanz, nichts weiter. Die erstaunte Besitzerin desselben lässt ein lautes „M-u-uh“ ertönen, sie hat anscheinend mehr Rücksicht von meiner Seite erwartet. Endlich hat Niklai irgendwo ein Licht aufgestöbert und hält die brennende Kerze dem Hausvorstand vor dem im Schlaf weit geöffneten Mund. Unter Gähnen und Grinsen erwachen die einzelnen Familienmitglieder; man dehnt und streckt sich unter der höchst mangelhaften Bettdecke in seiner paradiesischen Schönheit, fühlt sich nicht im mindesten geniert, und ein freundliches „Sorowa“ - „guten Tag“ - gibt mir ihre Freude über mein Eintreffen kund.

Schnell hat eine junge Schöne im Kamin Feuer angefacht, und bald schmort in einem gewaltigen Eisenkessel ein ansehnliches Stück Pferdefleisch, das die Jakuten allem anderen Fleisch vorziehen. Nikalai richtet indessen mein Lager her, damit ich für einige Stunden der Ruhe pflegen kann. Die Schlafstsätte ist bald fertiggestellt. Ein kleine Bund Heu auf einer Holzpritsche, darüber zwei Renntierfelle und als Decke zusammengenähte Felle vom Polarhasen, nichts weiter. Die Jakuten haben sich inzwischen alle einiges Notdürftige übergestreift, und nun geht das Ausfragen und Besichtigen los. Jeder will darin den anderen übertreffen. Wer bist du? Woher kommst du, wohin gehst du? Wie viel Frauen besorgen dein Haus? Handelt euer „Knäs“ - in diesem Sinne „Kaiser“ - auch mit Tabak und Schnaps? Dann werden die Kleidungsstücke untersucht. Von der Mütze angefangen bis zu den Hosen. Die letzteren scheinen den Weibsleuten besonders zu gefallen, da die meinigen aus blauem Tuch und die ihrigen nur aus gewöhnlichem Renntierleden sind. Man klopft mir vertraulich auf die Backen und ergeht sich in Schmeichelausdrücken darüber, wie schön fett ich sei.

Dann bittet man zu Tisch. Ein großer, rußiger Eimer nimmt die Suppe auf. Eine umfangreiche Holzmulle, die verteufelte Ähnlichkeit mit einem Schweinstroge hat, muss als Bratenschüssel dienen. Jeder setzt sich mit untergeschlagenen Beinen auf die Erde, bekommt dann ein mehr als faustgroßes Stück Fleisch, und ohne Teller, Messer und Gabel geht unter gewaltigem Schmatzen und noch größerem Redeschwall die Mahlzeit vor sich. Nikolai fungiert als Dolmetscher. Er führt selbstverständlich das große Wort. Erzählt, dass ich ein Abgesandter des Zaren sei, zehn Frauen mein Eigen nenne und eben auf der Suche nach Nummer elf wäre. Selbstverständlich habe ich auch ungeheuer viel Tabak mit auf den langen Weg genommen, obwohl ich in nature nur zwanzig Pfund von dem armseligsten Kraut mitführe. Die Augen meiner Gastgeber werden immer größer und größer. Man nötigt mich beständig, mehr zu essen, und scheint absolut nicht zu bemerken, dass ich nur mit Hängen und Würgen ein kleines Stück Fleisch vertilgt habe. Pferdefleisch ist eben niemals meine Spezialität gewesen.
Eine Schlittenfahrt durch Nordsibirien 02

Eine Schlittenfahrt durch Nordsibirien 02

05 Hilfspoststation Küreliach

05 Hilfspoststation Küreliach

06 Jakutenbettlerin

06 Jakutenbettlerin

07 Jakutenpferde suchen ihr Futter unterm Schnee

07 Jakutenpferde suchen ihr Futter unterm Schnee

08 Eine politische Gefangene wird von einem Kosaken nach ihrem Bestimmungsort transportiert

08 Eine politische Gefangene wird von einem Kosaken nach ihrem Bestimmungsort transportiert

alle Kapitel sehen