Eine Schlittenfahrt durch Nordsibirien von Oscar Iden-Zeller*)

Stern- und Schicksalsstunden deutsch-russischer Beziehungen
Autor: Iden-Zeller, Oscar (1879 1925) einer der ersten deutschen Ethnologen des 20. Jahrhunderts, der ein spezielles Interesse an Sibirien entwickelte, Erscheinungsjahr: 1909

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Deutsche, Sibirien, Asien, Exil, Verbannung, Politische Gefangene, Verbannte, Jakuten, Renntiere, Bodenschätze, Sitten, Kosaken, Schnee, Kältepol, Wölfe, Schneesturm,
*) Der Verfasser dieses Aufsatzes ist unlängst nach einer bemerkenswerten Reise durch Nordasien über Alaska in den vereinigten Staaten eingetroffen. Er ist der erste, der die im äußersten Nordosten von Sibirien liegende, bisher wenig bekannte Halbinsel Tschulzotsk in ihrer ganzen Länge durchquerte, und zwar in der Verkleidung eines Nomaden. Dieser Artikel zeigt, mit welchen Schwierigkeiten der Reisende zu kämpfen hatte, bevor es ihm gelang, sich bis an die Grenze der Halbinsel durchzuschlagen. 1909

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Am nächtlichen Himmel flackert das Polarlicht auf. Feurige Garben schossen unaufhörlich gleich Raketen zum Zenit. Ein prächtiges Farbenspiel. Blau, rot, grün, orange Und dann die ungezählten Sterne, die ihr bläulich schimmerndes Licht auf die schlafende Erde streuten. Ich befand mich innerhalb der Zone des asiatischen Kältepols, innerhalb der Zone des asiatischen Kältepols, innerhalb der aus wenigen Jurten bestehenden Stadt Werchojansk. Elende Hütten aus roh behauenen Stämmen mit Schnee und Eisbelag: ein Friedhof könnte nicht trauriger stimmen. Ein leichter Dunst aus Eiskristallen wogte leise zitternd durch die wenigen Straßen. Der Atem ging schwer und verursachte Beklemmung. Trotz alledem, ich hatte den Ort liebgewonnen, und jetzt, wo ich ihn verlassen sollte, erschien er mir in seiner Ärmlichkeit doppelt wert. - Langsam schlenderte ich durch den glitzernden tiefen Schnee die breite Hauptstraße entlang. Eine Grabesruhe umfing mich. Nur in langen Zwischenräumen ließ sich ein Polarhund mit seiner kläglichen, winselnden Stimme vernehmen, offenbar durch einen bösen Traum aufgeschreckt. Außer dem Polizeipräfekten, dessen Gast ich war, und der mir nun bei meiner Abfahrt ein letztes Lebewohl zurufen wollte, sich deshalb mit seiner Kosaken-Besatzung noch wach hielt, lag alles im tiefsten Schlaf. Nur der Mond, der eben aufging, warf sein bleiches Licht an die aus Eisblöcken bestehenden Fenster der zu beiden Seiten der Straße sich hinziehenden Behausungen russischer Staatsverbrecher. Doch nein, noch in einem anderen Haus war man in Bewegung. Die Postagentur, die am Ende der Hauptstraße lag, zeigte Licht. Schellengeläut und vereinzelte Stimmen erreichen mein Ohr. Ich wusste, man stellte die für Sredne-Kolymsk bestimmte Post, die als Postillon nach dorthin zu bringen ich mich verpflichtet hatte, zusammen. Ich trat darum in beschleunigte Gangart meinen Rückweg an, um meine wenigen Habseligkeiten bereitzuhalten und meinem Gastgeber Valet zu sagen. Eine Sternschnuppe fiel. Nur der Bruchteil einer Sekunde, und doch hatte ich mir, noch bevor sie die gleißende Schneedecke erreichte, instinktiv gute Weiterreise gewünscht. Kaum hatte ich das Haus des Präfekten erreicht, da kam's auch schon, bim, bim, bim, den Weg herauf. Zwölf leichtfüßige Renntiere zogen, von einem Kutscher geführt, den Schnee zu beiden Seiten der Straße aufwirbelnd, sechs schmale, mit großen Lederballen beladene Starten hinter sich her. Mit scharfem Ruck blieben sie vor unserem Haus stehen, und im Augenblick war alles auf den Beinen. Nikolai, der Kutscher, übergab mir die Posturkunde, die besagte, dass ich 3.000 Pfund Postpakete, einen Ballen Briefe und 3.500 Rubel in Anweisungen und barem Geld unter meiner Verantwortlichkeit zu den Ufern der Kolyma – ein Weg von etwa 1.200 englischen Meilen – zu führen habe. Ich quittierte den Empfang und prüfte dann die großen Ledersäcke sorgfältig auf ihren Verschluss. Es war alles in besten Ordnung. Die Stahlketten waren nicht beschädigt, und auf jedem einzelnen Packen befand sich das Kaiserliche Russische Wappen als Siegel. Jetzt kam auch noch die siebente Starte, die mich aufnehmen sollte, heran. Es war eine ziemlich alte Fregatte, mit Heu ausgefüttert und mit einem Dach aus Segeltuch zum Schutz gegen Schneestürme versehen. Freundeshände brachten meine Utensilien, als da war ein Sack mit Lebensmitteln, enthaltend Butter, Fleisch, Reis und Dörrgemüse. Ferner ein Sack gefrorener Fische; außerdem noch ein Kasten mit Tee, Zucker, Tabak und einigen Delikatessen. Die Kaufleute von Werchojansk hatten mir einige Flaschen alten Kognak mit auf den Weg gegeben. Da kam der Abschied. Beim trüben Schein der kleinen Lampe kreiste zum letzten mal der mit Wodka gefüllte Silberbecher, und während ich den Präfekten umarmte und küsste, traten die Kosaken ins Gewehr. Dann kam jeder von ihnen auf mich zu, und ich küsste sie nach russischer Sitte dreimal – auf die rechte und die linke Wange und auf den Mund. Es war ja eventuell ein Abschied auf Nimmerwiedersehen. Den alten wetterharten Sibiriaken, die teilweise in der Wildnis geboren waren, ging denn auch dieser Abschied recht nahe. In den Augen des Polizeichefs, den ich schon von Jakutsk nach Werchojansk als Ordonanz begleitet hatte, standen sogar ein paar große Tränen. Der Lustigste war zweifelsohne ich selbst. Ich kannte ja die Gefahren noch nicht, welche draußen in der furchtbaren Eiswüste meiner harrten, wo der Tod in tausend Gestalten am Wege lauert und wo die Erde nur ein endloses, weites Grab zu sein scheint.

Ich wusste nur, dass ich durch diese Fahrt meinem Ziel, der Beringstraße, wieder um ein Bedeutendes näher kam, und das allein genügte schon, mich fröhlich zu stimmen, wenigstens für den Augenblick.

Man legte mir den schweren Renntierpelz um, noch ein fester Händedruck, ein letztes: „Do swidanja“ - „Auf Wiedersehen“ - , dann zogen die Renntiere an, und uns umfing die lautlose, eisige Nacht. Ein Schlitten war an dem anderen befestigt. Auf dem ersten saß als Führer mein Kutscher Nikolai, im letzten hatte ich mich eingekuschelt.

Eine Schlittenfahrt durch Nordsibirien 01

Eine Schlittenfahrt durch Nordsibirien 01

00 Ansicht der Stadt Werchojansk

00 Ansicht der Stadt Werchojansk

01 Russischer Staatsgefangner auf der Reise ins Exil

01 Russischer Staatsgefangner auf der Reise ins Exil

02 Russisch-sibirische Post

02 Russisch-sibirische Post

03 Poststation im sibirischen Urwald

03 Poststation im sibirischen Urwald

04 Leprakranke Jakuten am Fluss Kolyma

04 Leprakranke Jakuten am Fluss Kolyma