In Shanghai, China

Nachdem wir das Whang Hai, oder gelbe Meer, dessen Name schon anzeigt, dass das Wasser von schmutzig gelber Farbe ist, was von der Losreißung der Erde an beiden Ufern des großen Yang-tse-Kiang Flusses, der in das gelbe Meer mündet, herrühren soll, durchschifft hatten, langten wir am Montag, den 2. Februar 1885, um drei Uhr Nachmittags, in Shanghai an. Wir hatten also die Reise, mit Einschluss des Aufenthaltes an Landungen, von Yokohama in sieben Tagen zurückgelegt und waren in 47 Stunden von Nagasaki nach Shanghai gekommen. Wir begaben uns sofort nach dem Astor Hause, wo uns sehr komfortable Quartiere angewiesen wurden.

Dieses Hotel, das von Amerikanern geführt wird, liegt in dem amerikanischen Hong Kew und ist kaum einen Square vom Ufer des Flusses Whang Poo entfernt; man kann in wenigen Minuten alle bedeutenden Werfte, Bauten, öffentlichen Gebäude und den Geschäftsteil der Stadt erreichen.


Wir engagierten bald einen brauchbaren chinesischen Führer, dem wir gleich zu verstehen gaben, dass er gute Zahlung erhalten würde, wir aber dafür von ihm seine ungeteilte und fortwährende Aufmerksamkeit erwarteten. Die Chinesen sind listiger und heimtückischer als die Japaner. Wir brauchten daher die Vorsicht, unserem Führer gleich einzuprägen, dass wir seine Mucken kannten und nicht mit uns spaßen ließen.

Unsere erste Zusammenkunft blieb augenscheinlich nicht ohne Eindruck auf den Führer, denn wir hatten durchaus keine Schwierigkeiten mit ihm, sondern bemerkten mit Vergnügen, dass er jederzeit tapfer für uns eintrat.

Zwei Stunden nachdem wir gelandet waren, begannen wir bereits, begleitet von unserem Führer, der Wong Kwai Ching hieß, unseren Streifzug nach dem eigentlichen Shanghai, nämlich dem von Eingeborenen bewohnten Stadtteile, der von einer zwölf bis fünfzehn Fuß hohen Steinmauer umgeben ist.

Die Tore, sieben an der Zahl, welche die Eingänge schützen, sind sehr massiv von Holz gebaut, sonst aber ganz einfach und lediglich auf den Schutz berechnet. Der Haupt-Eingang, durch welchen wir einpassierten, liegt in der Nähe des französischen Viertels und bildet eine Art Tunnel von 30 Fuß Länge, der durch ein inneres und ein äußeres Tor geschützt ist.

Die Mauer soll drei und eine halbe Meile im Umkreise messen und wurde im letzten Teile des sechszehnten Jahrhunderts, während des japanischen Einfalles, erbaut. Als wir in die Stadt eintraten, wurden wir von einer Schar Bettler, von einer Sorte, wie sie in den schlimmsten Gegenden der Vereinigten Staaten nicht gefunden werden, begrüßt. Die erste Straße, die wir passierten, kann sich noch nicht einmal mit einer Allee in Cincinnati vergleichen. Sie ist nicht mehr als sechs bis acht Fuß breit und von beiden Seiten von Geschäftslokalen eingefasst, in die man sich ohne einen verlässlichen Eingeborenen nicht wagen darf.

Gleich nachdem wir das Tor passiert hatten, wurden unsere empfindlichen Geruchsnerven durch einen wahrhaft schrecklichen Geruch und unsere Augen durch den ekelhaftesten Anblick beleidigt. Ich hätte nie geglaubt, dass menschliche Wesen an einem solchen Orte und unter solchen Verhältnissen leben können. Der Durchgang — denn man konnte das kaum Straße nennen, da ein Wagen dort nicht zu passieren im Stande war — wimmelte von schmutzigen, zerlumpten, kranken und wüst aussehenden Bettlern.

Es war ein schrecklicher Anblick! Diese unglücklichen Kreaturen, von denen die meisten verstümmelt oder verkrüppelt sind, waren mit Geschwüren bedeckt und lagen zusammengekrümmt am Boden, von wo aus sie die Vorübergehenden um Hilfe anflehten.

Niemand hält an oder gönnt ihnen ein Wort, und wenn man wirklich mildtätig genug ist, um ihnen etwas zukommen lassen zu wollen, so wirft man die Geldmünze auf die Erde. Ein wütender Kampf entsteht dann unter den Bettlern darum und der Stärkste sackt natürlich die Beute ein. Kein Mensch gibt ihnen Geld in die Hand, da man sich vor Ansteckung fürchtet, denn Alles scheint hier ansteckend und befleckend und selbst die Luft mit Ansteckungsstoff erfüllt zu sein. Es litt uns nicht lange in dieser Atmosphäre und wir trieben unsere Coolies an, sich zu beeilen, um aus diesem Loche herauszukommen.

Das Geschrei und Gestöhn dieser Bettler ist oft herzzerreißend und Alle sehen aus, als würden sie im nächsten Augenblick schon verhungern. Ob das auf Wirklichkeit, oder Verstellung, beruht, ist schwer zu unterscheiden, doch ist die Tatsache über allen Zweifel erhoben, dass daselbst großes Elend herrscht. Natürlich wird auch hier, wie überall, viel Betrug verübt, denn es ist ja bekannt, dass der Chinese eine besondere Vorliebe dafür hat, im Trüben zu fischen.

Aber je weiter wir kamen, desto schlimmer wurde es, wenn das überhaupt noch möglich war. Es schien, als ob die ganze Stadt ein kolossales Pest-Hospital, oder Armenhaus, sei, denn kaum zeigte sich hie und da ein Punkt, der eine Art Erholung bildete, wie ab und zu ein schöner Laden, dessen Inhalt einen schreienden Kontrast zu dem Bilde des Elends und Schmutzes draußen bildete.

Auf unseren Streitzügen fanden wir nicht eine einzige Straße, die breiter war als acht Fuß. Wir hatten die Vorsicht gebraucht, für jeden von uns eine Sänfte zu mieten, die von zwei Coolies getragen wurde, und wie herzlich froh waren wir, so vernünftig gewesen zu sein. Es gibt keine Trottoirs, kein Pflaster und auch keine Spur von Abzugs-Kanälen, so dass die Leute gezwungen sind, ihre Abfälle mitten in die Straße hinein zu werfen.

Während unserer Reise durch die Stadt folgten uns fortwährend eine Unmasse von neugierigen Eingeborenen, deren Demonstrationen zu Zeiten alles andere, als wie Freundlichkeiten bedeuteten. Wir fühlten uns manchmal sehr unbehaglich, denn wir erwarteten Unannehmlichkeiten und waren gerüstet, uns zu verteidigen. Doch war das glücklicherweise nicht nötig.

Das Chinesen-Viertel in San Francisco, das sich des wenig beneidenswerten Rufes erfreut, der schmutzigste und unsauberste Stadtteil in den Vereinigten Staaten zu sein, ist rein und wohnlich im Vergleich mit dem Eingeborenen-Viertel in Shanghai. Es ist absolut unmöglich, eine wirklich getreue Beschreibung des unsauberen Zustandes zu geben, in welchem diese Chinesenstadt sich befindet.

Es dauerte fünf volle Stunden, ehe wir Shanghai vollständig durchstreift hatten. Die einzigen wirklich interessanten Sehenswürdigkeiten sind die zahlreichen Buddhisten-Tempel, die mit wahrhaft abschreckend hässlichen Götzenbildern angefüllt sind. Viele dieser von Menschenhand geschaffenen Götter werden als die Wohnsitze abgeschiedener Priester, Herrscher, Volksführer und Lehrer betrachtet, zu deren Andenken ewige Flammen unterhalten werden. Wehe dem Priester, dem der Unterhalt dieser Flammen obliegt, und dem es mit oder ohne seine Schuld passiert, dass eines dieser Feuer ausgeht!

Die Priester, denen die Hut über diese Tempel obliegt, zeichnen sich besonders dadurch aus, dass sie unverschämte Bettler sind.

Während wir die vielen kuriosen und interessanten Sachen ansahen, wurden wir fortwährend von einer Rotte dieser Kreaturen belästigt, die nicht etwa nur um eine Gabe baten, sondern in der frechsten und impertinentesten Manier verlangten, dass wir ihnen einen Teil unserer Barschaft auslieferten. Während unserer fünfstündigen Wanderung besuchten wir sechs oder acht Tempel und in allen wurden wir in dieser Weise behandelt. Die Priester scheinen in der Tat Besucher nur zu dulden, um sie in unbarmherzigster Weise berauben zu können.

Als wir beim letzten Tempel angekommen waren, war unser Kleingeld bis auf 30 Cents zusammengeschmolzen, die wir einem der Priester gaben. Das war ein großer Fehler von uns, denn da alle seine Kollegen leer ausgingen, so fingen sie in einer so energischen Weise an zu protestieren, wie das nur ein Chinese tun kann. In ihrem ungezügelten Zorn brüllten und fluchten sie und benahmen sich wie Tolle. Wir konnten natürlich kein Wort verstehen, das gesprochen wurde, aber sahen doch ohne Hilfe unseres Führers, dass die Priester sehr unzufrieden waren. Obgleich sie sich zu Zeiten anstellten, als ob sie mit Gewalttätigkeiten drohten, war doch der ganze Vorfall so außerordentlich komisch, dass wir uns riesig darüber amüsierten. Wir hüteten uns jedoch zu lachen, oder auch nur das Gesicht zu einem Lächeln zu verziehen, um sie nicht noch mehr aufzureizen, da sie uns sonst wohl tätlich angegriffen haben würden.

Unser Führer war ein etwas wilder Geselle, ähnlich wie unsere „Roustabouts“ zu Hause, und schien weder Furcht noch Achtung vor den Priestern zu empfinden, ja, wir hielten die Art und Weise, wie er diese geistlichen Räuber behandelte und mit ihnen sprach, für höchst ketzerisch. Er trat ihnen kühn entgegen und hielt ihnen eine Standrede, die großen Eindruck auf sie zu machen schien. Ob er mit ihnen vernünftig, oder verächtlich, sprach, weiß ich nicht, jedenfalls hatte die Rede die erwünschte Wirkung, denn sie befreite uns für den Augenblick von den Räubern und während Wong Kwai Ching unseren Rückzug deckte, retirierten wir schnell, ehe die Priester sich von ihrer Überraschung erholt hatten. Als wir aus dem Tempel heraustraten, erwartete uns dort dieselbe Menschenmenge, die uns seit unserem Eintritt in die Stadt gefolgt war, nur noch durch neue Rekruten vermehrt. Sobald sie unserer ansichtig wurden, fingen sie an zu schreien und zeigten uns in jeder Weise ihr Missvergnügen und ihren Hass. Sie umringten uns, schwatzten fortwährend wie Idioten und schienen sich mit aller Gewalt in eine Wut hineinreden zu wollen. Von da an bis wir wieder aus den Toren heraus waren, fürchteten wir jede Minute angegriffen zu werden und wir atmeten erleichtert auf, als wir das Außentor erreicht hatten.

Das europäische Shanghai, das in das französische, englische und amerikanische Viertel zerfällt, ist ohne Zweifel das größte Geschäfts-Zentrum des fernen Ostens, selbst Hong Kong nicht ausgenommen, obgleich dort, da es günstiger gelegen, mehr Schiffe einlaufen. In dem europäischen Shanghai gibt es viele große und prächtige Gebäude, von denen besonders das Konsulat von Großbritannien, mehrere der Bankgebäude und das Haus des Shanghai Clubs wahrhaft großartig sind.

Während der „Saison“ ist die Gesellschaft in Shanghai in ebensolcher Aufregung wie in London, oder anderen großen Städten. Die Regeln der Etiquette werden streng eingehalten und die Mode herrscht unbeschränkt. Viele englische Vollblut-Aristokraten sind in Shanghai ansässig und behalten hier ihre gesellschaftlichen Gewohnheiten und Satzungen vollständig bei. Ihre „Receptions,“ Diners, Soireen und Feste sind daher sehr aristokratisch.

Der Handel Shanghais ist enorm. Die Ein- und Ausfuhr für das Jahr 1884 belief sich, wie die amtlichen Register ausweisen, auf $180.000.000. Gut vier Fünftel dieses Umsatzes kommen auf britische Untertanen, deren Regierung ihnen jeden nur möglichen Vorschub leistet.

Es gibt auch einige amerikanische Häuser hier, die ihren vollen Anteil am Geschäfts-Umsatze haben.

Im Jahre 1884 legten im Hafen Schiffe an, die insgesamt vier Millionen Tonnengehalt repräsentierten, aber ich muss leider hinzufügen, dass nur ein sehr kleiner Prozentsatz dieser Schiffe unter amerikanischer Flagge fuhr.

Im Osten herrscht England unumschränkt, während die Vereinigten Staaten kaum zu bemerken sind und keinen beneidenswerten Platz einnehmen. Es wäre zu wünschen, dass unser Congress sich einmal mit eigenen Augen vom wahren Stande der Dinge in diesen östlichen Ländern überzeugte, um zu sehen, welche untergeordnete Rolle dort die „größte Nation der Welt „spielt. Vielleicht würde er sich dann dazu verstehen, die Millionen, welche unberührt im Schatzamte liegen, zur Herstellung einer tüchtigen Kauffahrtei- und Kriegs-Flotte zu benutzen. Auf die Art könnte der Nation im Auslande Achtung verschafft und dadurch der Export-Handel gefördert werden.

Die Tatsache, dass unter dem jetzigen ärmlichen Bestände von Schiffen die Vereinigten Staaten nicht mit den anderen großen Nationen der Erde konkurrieren können, lässt sich nicht verheimlichen und je eher man in der Union zu dieser Einsicht gelangt, je schneller dem so häufigen Rufe um Hilfe Folge geleistet wird, desto besser wird es für die Nation und deren Handel sein.

Es steht außer allem Zweifel, und ist eine anerkannte Tatsache, dass die Vereinigten Staaten früher oder später gezwungen sein werden, in den Weltmarkt einzutreten, um ihren Überschuss von Fabrikaten und Landesprodukten los zu werden, und das Land sollte für diese Eventualität vorbereitet sein.

Das beste Bild und die genaueste und wahrheitsgetreueste Beschreibung der Chinesen, ihres Charakters und ihrer Religion findet man in dem nachstehenden Artikel des Rev. Geo. L. Mason von Ning-Po. Der Artikel ist „Chinesische Falschheiten“ überschrieben und erschien in der Januar-Nummer des „Star of the East,“ einer bedeutenden Missions-Zeitung, die in Shanghai herausgegeben wird. Der Artikel lautet:

„Ob Falschheit eine Universal-Untugend in allen heidnischen Ländern ist, oder nicht, so steht so viel doch unumstößlich fest, dass sie das allgemein verbreitete Laster der Chinesen ist. Und dabei hält man es nicht einmal für ein Laster. Bei Streitigkeiten werfen die Leute sich alle anderen Sünden vor, nur nicht die Lüge. Es ist keine Beleidigung, ein Lügner genannt zu werden, denn man erwartet von einander weder Wahrheit, noch Aufrichtigkeit. Falschheit ist nur ein Unrecht, wenn sie einen Anderen wirklich schädigt. Die gewöhnlichen Höflichkeits-Phrasen sind voll von hohlen Komplimenten und eigener Herabsetzung, die nicht aufrichtig gemeint sind. Um Herrn Sing zu fragen, wo er wohnt, muss man fragen, wo sein Palast sich befindet, und er wird antworten, dass seine niedere Hütte sich dort und dort befindet. Selbst die Geschäfts-Schilder lügen. Über einer Opiumhöhle kann man sicher allerlei Symbole edler Anschauungen, wie der „Rechtlichkeit“ und „Tugend,“ finden. Menschen und Dinge bemühen sich so zu erscheinen, wie sie nicht sind. Gemüse und Früchte sind wässerig, das Fleisch im Schlächterladen ist mit Luft aufgeblasen. Anscheinend solide Mauern sind hohl. Viele reiche Leute kleiden sich in Lumpen, um den Steuer-Einnehmer und hungrige Borger zu täuschen. Die Armen erscheinen am Neujahrstage und bei Hochzeiten in erborgten seidenen Gewändern. Eine Rolle mit hundert Geldstücken enthält immer nur neunundneunzig, ja im Norden ist man so höflich, fünfzig hundert zu nennen. Wenn man ein Geschenk erhält, so geschieht das in der Voraussetzung, dass man ein gleich großes, oder noch wertvolleres, Geschenk zurückgibt.

Die chinesische Militärmacht ist eine lächerliche Farce. Pulver, Lärm und mehr Fahnen als Bajonette machen hier eine Armee aus. Man sagt, dass ein Mann vom Donner erschlagen wurde, nicht vom Blitze. Ein General gibt seine Garnison auf Tausende an, während er in der Tat nur einige Hundert Mann zur Verfügung hat.

Bei Inspektionen ist jedoch fast immer die vorgeschriebene Anzahl vorhanden, da man für diesen Zweck eine Anzahl Herumlungerer aus den Teehäusern holt und sie in Uniformen steckt, die extra dazu stets bereit gehalten werden. Ein junger Chinese, der früher an der Harvard Universität studierte und sich jetzt für den Dienst in der Armee vorbereitet, schreibt mir ein Klagelied über seine Lage. Er sagt: „Es liegt mir gar nichts daran, ein Mandarin zu sein, denn um im Regierungsdienste Carriere zu machen, muss man lügen, schmeicheln und unehrlich sein; und das kann ich nicht.“ Die politische Schwäche von China ist nicht seine Unwissenheit, oder seine Armut, oder seine unvollständige Ausrüstung, (die letztere bessert sich zusehends) sondern der vollständige Mangel wahrheitsliebender Leute unter Denen, die an der Spitze der Regierung stehen. Das offizielle Organ, die sogenannte „Pekin Gazette,“ gibt keineswegs eine wahrheitsgetreue Darstellung der Tatsachen. Es ist ein politisches Amtsblatt, dem man nur Glauben schenken kann, wenn man Grund hat, es für glaubwürdig zu halten.

„Das Gerichts-System ist ein grausamer Betrug. Niemand erwartet Gerechtigkeit. Mexikanische Dollars sind das einzige Beweismittel, das Wirkung hat. Die Richter sind vielleicht noch eher zu entschuldigen, denn es ist nahezu unmöglich die Wahrheit zu ergründen. Zeugen werden unbarmherzig geprügelt, damit sie die Wahrheit, oder eine Lüge, sagen, je nachdem der Fall es erfordert. Der Kläger und der Verklagte wetteifern mit einander, wer die meisten Lügen erfinden kann. Eines unserer Gemeinde-Mitglieder wurde verhaftet, weil es einen Baum umgeschlagen hatte, den ein anderer Mann als sein Eigentum reklamierte; die Anklage lautete aber auf Diebstahl von zwölf Bäumen! Wenn Jemand zu fünfhundert Stockschlägen verurteilt ist, kann er sich davon loskaufen, da der mit der Ausführung des Urteils betraute Beamte für eine Summe Geldes die Strafe so erteilt, dass er die Bewegungen des Schlagens macht, ohne dem Delinquenten weh zu tun. Aber wehe dem Missetäter, der kein Geld hat! Er wird aufs grausamste geprügelt.

„Chinesische Bildung ist eine Falschheit — so sagen erfahrene Pädagogen wie Doktor Mateer. Selbst wenn eine literarische Würde von einem Chinesen nicht mit Geld erkauft wurde, so besteht seine Bildung im besten Falle nur in einer Eintrichterung von Worten. Man bestrebt sich nicht, die Wahrheit zu erfahren. Das Gedächtnis ist Alles, Denken gilt gar nichts. Ein zwölfjähriges Schulmädchen im Westen weiß mehr von Naturwissenschaften und allgemeiner Geschichte, als ein gewöhnlicher chinesischer Gelehrter.

„Der größte Teil der chinesischen Religion ist in der praktischen Ausführung ein falscher Schein, der offen zu Tage liegt. Die Leute lachen über ihre Götzen. Die buddhistischen Priester sagen, ohne zu erröten, dass sie Priester sind, um Reis essen zu können. Keiner fragt: „Wo liegt die Wahrheit?“ sondern: „Was ist gebräuchlich?“ Ihre vielgepriesene Elternliebe ist eine Illusion. Es ist ganz einerlei, wie wenig der Sohn den Pflichten der Dankbarkeit gegen den noch lebenden Vater nachkommt, wenn er nur fleißig Weihrauch verbrennt, Dollars, von Zinn gemacht, und Nahrungsmittel opfert, nachdem der Vater gestorben ist, dann gilt er als ein liebevoller Sohn.

„Aber man muss nicht glauben, dass die Chinesen unwiderruflich unwahr sind und alle ihre Einrichtungen nur auf falschem Scheine beruhen. Die Anbetung falscher Götzen, die seit Jahrhunderten betrieben wird, hat den Charakter und die Sitten mit Falschheit durchzogen. Es existiert aber für das Werk des Evangeliums eine solide Grundlage, denn sonst hätten ihre Sitten und Gewohnheiten nicht Jahrtausende hindurch dem Andränge des Zeitgeistes widerstehen können. Wir kennen viele Chinesen, welche von der Liebe zur Wahrheit durchdrungen sind, und deren Charaktere und Lebenswandel sich merklich von denen der sie umgebenden Heiden unterscheiden. Deswegen sind wir guten Mutes und arbeiten weiter.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Reise um die Welt im Jahr 1884-1885