XXI. Als Alfred zu Sophien kam, erkannte er selbst sie kaum wieder. Sie hatte zu der dunkeln, nonnenhaften Kleidung, die sie jetzt beständig trug, eine Haube aufgesetzt, die mit breiter Stirnbinde das Gesicht verhüllte. ...

XXI. Als Alfred zu Sophien kam, erkannte er selbst sie kaum wieder. Sie hatte zu der dunkeln, nonnenhaften Kleidung, die sie jetzt beständig trug, eine Haube aufgesetzt, die mit breiter Stirnbinde das Gesicht verhüllte. Die geschickte Anwendung von Schminke trug dazu bei, sie völlig unkenntlich zu machen, und neben Alfred in einen Platzwagen steigend, fuhr sie nach der Wohnung des Präsidenten.

Wie sie es verabredet hatten, stellte Alfred sie Theresen als eine Wärterin vor, die ihm Frau Berent als zuverlässig empfohlen habe, da sie selbst nicht kommen könne. Therese nahm den Vorwand ohne Mistrauen an und Alfred hoffte, falls sie jemals die Wahrheit entdecke, eine Entschuldigung in Sophien’s Liebe für Julian zu besitzen.


Er sprach Therese nur flüchtig und im Beisein von Agnes; dann entfernte sie sich, um Sophie in das Krankenzimmer zu führen, wo sie ihr alle vom Arzte gegebenen Verhaltungsbefehle für die Nacht ertheilte. Alfred war erstaunt über Sophien’s Selbstbeherrschung; ihre Bewegungen, der Ton ihrer Stimme waren ein ganz fremder und sogar den französischen Accent, mit dem sie sonst das Deutsche sprach, wußte sie vollkommen zu überwinden. Weder Therese, noch Agnes und Theophil schöpften den geringsten Verdacht gegen sie, und mit völliger Selbstbeherrschung trat sie an das Lager des von ihr geliebten Mannes.

In ängstlicher Gewissenhaftigkeit hörte sie auf Theresen’s Anordnungen für den Kranken, versprach die größte Wachsamkeit und Sorgfalt und ließ sich neben dem Bette nieder, nachdem Therese sie dem Präsidenten als die Wartfrau vorgestellt und sich entfernt hatte.

Ihr sehnlichster Wunsch war erfüllt, sie sah ihn wieder. Das starke dunkle Haar des Präsidenten fiel auf die hohe Stirn herab, aber wie eingesunken waren seine Schläfen, wie hohl die Augen! O! die unaussprechlich geliebten Augen! rief es in Sophien’s Seele und sie hätte ihr halbes Leben darum gegeben, nur einmal ganz leise ihre Lippen auf diese geschlossenen Lider drücken zu dürfen.

Aber der Kranke hatte keinen Blick für seine Wärterin. Er lag ruhig da, in tiefer Ermattung. Nur dann und wann forderte er einen jener kleinen Dienste, die ihm sonst die Schwester geleistet hatte, und der gebrochene Ton seiner starken Bruststimme klang traurig an Sophien’s Ohr.

Das war der Mann, den sie so sehr geliebt! Die engsten, heiligsten Bande ketteten sie an ihn; im Einklang tiefsten Verständnisses, in vollster Liebe hatten ihre Seelen sich einst berührt, sie war sein, ganz sein geworden. Sie fühlte sich ihm zugehörend, ihm gleich an freier, schöner Begeisterung für das Große und Wahre; keine Ehefrau konnte ihrem Manne treuer ergeben sein, keine aufopfernder lieben, und doch stand sie jetzt da, von dem Geliebten verlassen, weil sie der Sitte getrotzt, weil die Welt sie tadelte, weil das oberflächliche Urtheil der gleichgültigen Menge sie verdammte.

Immer wieder regten sich die Fragen in ihr, die seit der Trennung von dem Präsidenten der Mittelpunkt ihres Denkens geworden waren. Sie hatte sich entschlossen, die Welt zu fliehen, welche sie verstieß; sie wollte ihr liebendes Herz der Menschheit weihen, weil Julian ihre Liebe verschmähte, und doch fragte sie in dieser Nacht sich wieder: Was habe ich denn verbrochen? was gesündigt? Kann Menschensatzung und Menschenwort verdammen und freisprechen? Kann das Sünde sein, was Tugend wird, wenn ein besoldeter Priester Worte des Segens darüber spricht, die man oft genug, zerstreut und von der mächtigeren Stimme im Innern übertönt, kaum beachtet? Ich, die nichts verlangte, als das Glück des Geliebten, bin die Verworfene, und jene Frau, die ihrem Manne das Dasein zu einer Qual macht, wird von der Gesellschaft geduldet und geschützt!

Ihr ganzes Leben zog an ihrem Geiste vorbei. Sie dachte des Abends, da Julian sich ihr zuerst vorgestellt und durch seine geistvolle Beredsamkeit einen Eindruck auf sie gemacht, dessen Andenken nur mit ihrem Dasein enden konnte. Der schmeichelnde, herzgewinnende Ton, mit dem er dann später sie um Liebe gefleht; der Jubellaut seiner Brust, als sie, zum ersten Mal an sein Herz gesunken und hingerissen von der Gewalt ihres Gefühls, ihre Arme fest um seinen Hals geschlungen – – das Alles war ihr gegenwärtig in diesen Stunden.

Ihr war, als müsse er sich aufrichten in gesunder Kraft, als müsse er ihren Namen rufen und ihr sagen, sie sei es, die in bangen Fieberträumen das ganz Unmögliche für Wahrheit halte. Er konnte nicht die ganze selige Vergangenheit vergessen haben, und, wenn er ihrer dachte, wie konnte er sie nicht zurücksehnen als sein höchstes Glück? Jeden Augenblick hoffte sie, er müsse wenigstens einmal träumend von ihr sprechen, wie auf eine Himmelsbotschaft wartete sie darauf mit der Zuversicht eines Gläubigen.

Aber sein Schlaf war sanft und traumlos, und sie mußte sich darüber freuen. Sie wendete den Lichtschirm etwas zur Seite, um ihn besser zu sehen. Ein ruhiger Friede war über sein Angesicht verbreitet, der kalte, spöttische Zug um seine Lippen verschwunden, er sah sehr mild und freundlich aus.

Hast Du denn nicht geahnt, daß Du mein Herz gebrochen? fragte sie so leise, daß nur sie selber es vernahm. Wie kannst Du so ruhig sein, so friedlich aussehen, und ich bin neben Dir und bin so elend?

Sie kniete an seinem Lager nieder, ihre schwer errungene Fassung und Entsagung schwanden gänzlich vor dem Anblick des Geliebten. Seine Hand hing schlaff zur Seite herunter und flüchtig wie ein Geisterwehen berührten ihre Lippen diese bleiche Hand.

Aber er mußte es doch empfunden haben, denn ein Lächeln glitt über sein Gesicht.

Agnes, süßes, liebes Kind! sagte er träumend in dem Augenblick, und der Schmerzensschrei, der sich aus Sophien’s Herzen hervorringen wollte, kehrte unterdrückt als ein furchtbares Weh in ihre Brust zurück.

Sie stand auf und nahm ihren Platz neben des Kranken Bette wieder ein. War sie ihm doch nichts als eine Wärterin, deren er nicht gedachte. Heiße Thränen strömten aus ihren Augen und fest und fester ruhten ihre Blicke auf seinem Antlitz, denn es war das letzte, das letzte Mal, daß sie ihn sah. Es war ihr erster schwerer Dienst als barmherzige Schwester.

So fand sie der Morgen. Erschöpft und bleich ging sie Therese entgegen, als sie sich nach dem Verlauf der Nacht zu erkundigen kam, und gab ihr den nöthigen Bescheid, den Jene mit großer Zufriedenheit anhörte; dann zog sie sich ängstlich zurück, da Julian erwachte. Sie sah die Zärtlichkeit, mit der er die Schwester begrüßte, das Glück in Theresen’s Zügen; sie empfand es ebenso warm als diese, aber wer dachte an sie?

Ein Wink von Therese forderte sie auf, ihr in das andere Zimmer zu folgen, wo sie verabschiedet werden sollte. Noch einmal, ehe sie das Gemach verließ, wendeten sich ihre Blicke nach Julian zurück und klammerten sich mit der Allgewalt der Liebe an ihm fest. Es war ihr, als trenne sich die Seele von dem Körper, als sie ihre Augen von ihm losriß. Der Kranke mochte ihr Zögern bemerken, er machte ein leises Zeichen mit der Hand und sagte: Ich danke Ihnen, Sie waren so sehr achtsam, liebe Frau! ich danke Ihnen! – und mit verhülltem Angesicht stürzte Sophie in dem Nebenzimmer auf die Kniee und rief: es ist vollbracht!

Therese wußte nicht, wie ihr geschah; aber wie sie die Wärterin nun in der vollen Beleuchtung des Tages näher ansah, war das Räthsel ihr gelöst. Sie trat an die Kniende heran und legte ihre Hand leise auf deren Schulter. Da richtete Sophie sich auf und sagte: Es ist vorbei! jetzt kann ich gehen! aber ich mußte ihn noch einmal sehen, vergeben Sie mir! mißgönnen Sie ihn mir nicht, den letzten trüben Trost!

Sie hatte ihre Ruhe wiedergefunden, aber die Spuren der Seelenschmerzen, welche sie in dieser Nacht durchgekämpft, waren deutlich in ihrem Gesichte zu lesen und sie vermochte kaum, sich aufrecht zu erhalten. Therese führte sie zum Sopha, sie hielt ihre Hand umschlungen und bat sie, sich zu erholen, da sie dessen bedürftig scheine. Arme, unglückliche Frau, wie sehr müssen Sie gelitten haben, sagte sie, wie lebhaft empfinde ich mit Ihnen!

Sie war sehr erschüttert und ihre Augen schwammen in Thränen. Sophie warf sich an ihre Brust. O! rief sie, Sie weinen! Diese Thränen sind meine Freisprechung. Sie können, Sie werden mich nicht verdammen, weil ich ihn liebte, weil ich ihn so sehr liebte, daß ich darüber Alles vergaß, Welt und Menschen und Sitte. Ihn noch einmal zu sehen, und mich vor Ihnen zu rechtfertigen, das war mein dringendstes Verlangen. Sie, die Julian und Alfred so tief verehren, Sie waren für mich der Richter, vor dessen Urtheil ich zitterte und von dessen Gerechtigkeit ich dennoch Erbarmen erwartete, um meiner Liebe willen. Sie weinen über mich! nun kann ich ruhig scheiden, meine Schuld gegen die Sitte ist getilgt. Sie erlösen mich durch Ihre Thränen. Leben Sie wohl!

Sophie! rief Therese schmerzlich, gehen Sie nicht fort, bleiben Sie hier, bleiben Sie bei uns! Mein Bruder soll durch mich erfahren, was er an Ihnen verliert; Sie bedürfen nicht der Einsamkeit, sich zurecht zu finden, eine Frau, wie Sie, findet er nicht wieder. So viel Liebe, so edle Entsagung ist ja Tugend, ist die höchste, weibliche Tugend. Mein Bruder kann so vieler Liebe nicht widerstehen –

Sophie lächelte schmerzlich. Hätte ich darauf gehofft, ich wäre nicht gekommen, sprach sie sanft. Nicht um ihn wiederzugewinnen kam ich hieher. Ich that es, weil ich nicht anders konnte.

Und wenn mein Bruder genesen nach Ihnen verlangt, nach Ihnen fragt?

Dann sagen Sie ihm, ich hätte das Recht gehabt, mich aus Liebe für ihn aufzuopfern, und ich hätte das niemals bereut, aber ihn mit mir hinabzuziehen, meine Schande, den Tadel der Welt auf ihn zu wälzen, das vermag ich nicht, das leiden weder meine Liebe noch mein Stolz.

Wunderbares Mädchen! rief Therese.

Es war mein höchstes Glück ihn zu beglücken, fuhr Sophie fort. Was kümmerte mich das spöttische Lächeln der Frauen, wenn ich an seiner Seite war und der zärtliche Blick seines Auges mich wie ein undurchdringlicher Schild gegen die Pfeile ihres Tadels schützte? Ich war ruhig, ich war stolz in dem Gefühle, meine Pflicht zu erfüllen, denn ihn glücklich zu machen, gleichviel um welchen Preis, dazu wähnte ich mich geboren. Nun weiß ich, daß ich mich getäuscht habe, daß ich es nicht vermochte, und deshalb gehe ich, um wenigstens Leiden zu lindern, da ich nicht zu beglücken verstand.

Sie erhob sich, nahm ein Medaillon von ihrem Halse und gab es Therese. Es ist Julian’s Bild, sagte sie weich, nehmen Sie es als ein Andenken von mir an, als eine Reliquie unwandelbarer Liebe, und bitten Sie ihn, daß er mein gedenke.

Therese war in tiefes Nachdenken versunken; als Sophie sich anschickte sie zu verlassen, stand sie auf, umarmte sie und sagte, das Haupt an Sophien’s Schulter gelehnt: O! wie viel wahrer, edler und besser sind Sie, als ich, die ich aus selbstsüchtiger Scheu vor dem Urtheil einer kalten Menge nicht thue, was mein Herz mich heißt! – Was Sie gefehlt gegen die Sitte, wie gering erscheint es mir in dieser Stunde gegen das Unrecht, das ich begehe! Dir wird vergeben werden, Du darfst Dir vergeben, denn Du hast geliebt, während ich –

Sie ruhten Herz an Herz in tiefer Stille. Plötzlich hörte man Schritte. Sophie riß sich los, preßte einen leidenschaftlichen Kuß auf Theresens Stirne und sagte: Gott segne Sie! Gott lohne es Ihnen, machen Sie Alfred glücklich! – Damit ging sie schnell davon.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Lebensfrage. Zweiter Teil.