XIX. In des Kranken Zimmer angelangt, fand sie diesen in wilden Fieberphantasien. Der Arzt wurde geholt, neue Verordnungen wurden gemacht und Eva sah an der ängstlichen Eilfertigkeit, ...

XIX. In des Kranken Zimmer angelangt, fand sie diesen in wilden Fieberphantasien. Der Arzt wurde geholt, neue Verordnungen wurden gemacht und Eva sah an der ängstlichen Eilfertigkeit, mit der sie vollzogen wurden, an dem schnellen und doch leisen Umhergehen der Frauen, daß die Gefahr von Stunde zu Stunde wachse.

Völlig fassungslos, lag sie auf dem Sopha und hüllte das Gesicht in die Kissen, als Agnes zurückkam und nun, da alles Nöthige geschehen war, sich neben sie setzte. Sie versuchte Eva zu ermuthigen, erzählte ihr von andern Krankheitsfällen, die hoffnungslos geschienen und doch einen glücklichen Ausgang gehabt hatten, aber Eva beachtete es nicht.


Du gutes Mädchen, sagte sie, sich emporrichtend, Du weißt ja nicht, wie mir zu Muthe ist. Ich war ein Kind bis jetzt. Ich kannte vom Leben nichts als die Freuden, man hatte mich absichtlich in Sorglosigkeit erhalten. Nun hat mich die Liebe aus meinem Paradiese erweckt, und statt der blühenden Blumen, von denen ich geträumt, finde ich welke Kränze, ein geliebtes Grab damit zu schmücken.

Eva! bat Agnes, fasse Dich doch, nimm Deinen Muth, Deine Liebe für Therese zu Hilfe. Was soll sie denken, wenn sie Dich so außer Dir findet? Muß sie nicht glauben, der Arzt habe uns jede Hoffnung genommen?

Hat er das gethan? fragte Eva. Sage es mir! o ich weiß, daß es so ist, und dann sterbe ich auch. Ich möchte neben Julian begraben werden. Sie hielt inne, dann bat sie: Agnes! wenn ich todt bin, laß mich nicht von fremden Händen berühren, kleide Du mich an, ganz schlicht, ganz weiß, wie Julian mich gern sah, und das goldene Kettchen mit dem Flacon, das laß mich auch im Grabe behalten, es war Julian’s letztes Geschenk.

Sie vertiefte sich immer mehr in den Anordnungen für den Fall ihres Todes und beweinte diesen bald eben so herzlich und aufrichtig, als sie vorher Julian beweint hatte. Dann sank sie wieder in die Kissen zurück, und schlummerte eben auch wie ein Kind, vom Weinen ermüdet, ein.

Es war der Abend, der dem einundzwanzigsten Tage voranging. Die zehnte Stunde war vorüber, Eva’s Wagen lange vor der Thüre, sie abzuholen, aber Agnes konnte sich nicht entschließen, sie zu stören. Seit vielen Nächten hatte der Schlummer ihre Augen geflohen, sie bedurfte der Ruhe, und auch Therese meinte, es würde besser sein, sie ruhig auf dem Sopha schlafen zu lassen, als sie zur Heimkehr zu erwecken, da leicht die Nacht wieder ohne Schlaf vergehen und die Einsamkeit ihr qualvoll sein möchte.

Man verdunkelte die Lampe und Agnes zog sich in die Stube zurück, die dem Krankenzimmer zunächst lag, um auf den ersten Wink Theresen’s zur Hand zu sein, falls man irgend einen Auftrag auszuführen hätte. Vergebens ermahnte Therese sie, sich zur Ruhe zu begeben, sie blieb beharrlich bei der Bitte, die Freundin möge sie ihr Theil zu des Kranken Pflege beitragen lassen. Ein Nähzeug in der Hand, vollständig angekleidet, saß sie da, als, lange nach Mitternacht, Theophil in das Zimmer trat, von dem Klingeln der Hausglocke auf die Vermuthung gebracht, daß irgend ein neues bedrohliches Ereigniß vorgefallen sei. Ueberrascht blieb er in der Thüre stehen, als er das junge Mädchen erblickte. Sie legte den Finger an die Lippen, zum Zeichen, daß er leise auftreten möge. Sie sah sehr schön aus. Der Schein der Lampe fiel auf ihr reiches schwarzes Haar, und der Ausdruck von ruhigem Verstand gab ihr eine auffallende Aehnlichkeit mit der Madonna della Sedia.

Sie sind noch wach? fragte Theophil leise, als er an sie herantrat. Ermüden Sie denn nicht? Den ganzen Tag hindurch sehe ich Sie rastlos beschäftigt; wird das Nachtwachen für Sie nicht zu anstrengend sein? Sie sind noch so jung!

Haben Sie mich das wol gefragt, als der gute Präsident mich auf die Maskerade geführt hat, von der wir auch erst sehr lange nach Mitternacht aufgebrochen sind?

Die Jugend ist die Zeit der Freude, meinte Theophil, mag sie genießen, so viel sie kann. Zum Leiden findet sich immer später noch Raum im Leben, und es bleibt nicht aus.

Grade darum, wendete Agnes ein, muß man uns schon in der Jugend unsern Antheil an den Leiden nicht nehmen, wir lernen sonst ja nicht, sie zu ertragen, wie wir sollen. Sehen Sie, wie unglücklich jetzt die arme Eva ist, daß sie nirgend helfen, nirgend nützen kann! Ich habe in diesen Tagen es meiner Mutter innerlich schon oft gedankt, daß sie nie schwächliches Mitleid mit mir gehabt und mich gelehrt hat, auch in schweren Stunden Muth und Kraft zu behalten. Ich hoffe das Beste für Julian und ich wollte nur, ich könnte Therese und Ihnen Allen etwas von meiner Zuversicht geben, denn auch Sie, Theophil, sind gänzlich niedergeschlagen seit heute Nachmittag. Haben Sie denn alle Hoffnung verloren?

Alle Hoffnung verloren! wiederholte er träumerisch und sagte dann, als er das Erschrecken von Agnes bemerkte: Verzeihen Sie, Liebe! ich war nicht bei Ihren Worten, ich dachte nicht an Julian, ich sprach von mir.

Sie schwieg und sah lange in sein trauriges Gesicht, wie er so vor sich niederblickte. Je länger sie ihn aber ansah, desto schwerer ward ihr das Herz. Eine ungekannte Angst und Unruhe wurden in ihr wach. Sie wußte nicht, ob sie Theophil liebe, ihn bedauere, oder ob sie ihm zürne und sich beklage. Das Herz klopfte ihr schwer in der Brust, sie fühlte sich so beklommen und traurig, daß ihr die Thränen in die Augen traten, und, sich zu Theophil wendend, sagte sie, als wolle sie ihre Thränen damit entschuldigen: Es thut mir sehr leid, daß Sie unglücklich sind, lieber Theophil!

Erstaunt und überrascht blickte er das junge Mädchen an, nahm ihre Hand und rief: Muß ich denn auch Sie betrüben, gutes, liebes Kind!

Er behielt ihre Hand in der seinen, alles Blut drängte sich Agnes nach dem Herzen, sie fing heftig zu zittern an und Theophil fragte ängstlich: Um Gottes willen, was fehlt Ihnen? Sie sind krank, liebe Agnes! wollen Sie, daß ich Jemand rufe? Sie haben sich doch wol zu sehr angestrengt?

Nein, nein! sagte sie, mir ist schon besser. Sie stand auf, wollte lächeln, aber sie war so bleich geworden, daß Theophil besorgt seinen Arm um sie legte. Da neigte sich ihr schönes Haupt auf seine Schulter und leise weinend ruhte sie an seiner Brust.

Er fühlte das Schlagen ihres Herzens, es herrschte tiefe Stille umher. Agnes war so jung und schön. Er hatte eben noch trauernd an Therese gedacht und doch empfand er plötzlich eine ihm selbst befremdliche Neigung für das junge Mädchen. Fast ohne es zu wollen, drückte er sie an sein Herz, und ein leiser Kuß berührte ihre Stirne, als Therese in angstvoller Hast mit den Worten eintrat: Schnell einen Arzt, mein Bruder stirbt. Ohne Agnes und Theophil zu beachten, eilte sie an das Krankenbett zurück, wo bald, von Teophil gerufen, der Arzt erschien.

Das Uebel hatte seinen höchsten Grad erreicht, nach furchtbarer Erregung trat ein plötzliches Ermatten ein; immer leiser wurden die Athemzüge des Kranken, immer schwächer das Schlagen seiner Pulse. Lautlos saß die Schwester an des Bruders Bette; das einförmige Ticken der Uhr ward ihr zur qualvollsten Marter. In Todesangst zählte sie die Sekunden, denn jede konnte die letzte für den Bruder sein. Sie wagte die Augen nicht von seinem Gesichte zu entfernen, damit ihr kein Aufschlag der seinen verloren gehe, damit sein letzter Blick auf sie falle.

Theophil war bei ihr, der Arzt hielt die Hand des Präsidenten, um die Pulsschläge zu beobachten. Plötzlich ließ er sie los, gab Theophil ein Zeichen, dieser trat leise an Therese heran und, getroffen von der Veränderung in des Bruders Zügen, sank sie, Theophil von sich weisend, vor Julian nieder und drückte ihre Lippen fest auf seine starre, eisigkalte Hand.

Vergebens waren die Bestrebungen des Arztes und Theophil’s, sie von dem Bette zu entfernen. Sie bat, sie flehte, man möge sie allein lassen, nur allein könne sie Ruhe und Kraft finden, und man fügte sich ihrem Willen.

Der Arzt fuhr nach Hause, Theophil zog sich in sein Zimmer zurück, Eva schlummerte ruhig fort und Agnes saß weinend in der Nebenstube, betäubt durch bas Leiden, das sie umgab, und verwirrt von der eigenen stürmischen Erregung.

Die tiefste Stille folgte der angstvollen Unruhe, die während der letzten Stunden geherrscht. Von Zeit zu Zeit schlich Agnes an die Thüre des Zimmers, um nach Therese zu sehen. Die Unglückliche kniete regungslos auf derselben Stelle, wie eine Figur auf einem Grabmale anzuschauen. Es schien, als habe das Leben auch sie verlassen, und doch zerriß der herbste Schmerz ihre Seele.

Stunde auf Stunde schwand dahin, plötzlich war es ihr, als höre sie leise Athemzüge. Sie richtete sich empor, Niemand war im Zimmer. Verwirrt, entsetzt blickte sie umher. Der Ton wiederholte sich. Sie stand auf, neigte ihr Haupt an des Bruders Lippen, sie wagte ihrem Ohre nicht zu trauen, das Glück dünkte sie unmöglich. Zitternd in der Furcht, sich getäuscht zu haben, blickte sie starr auf ihn hin, da schlug dieser mühsam die Augen auf und Therese mußte sich gewaltsam zwingen, nicht durch ein unzeitiges Zeichen ihrer Freude den Kranken zu erschrecken.

Sie eilte zu Agnes. Es war schon heller Tag. Schnell wurde der Arzt abermals herbeigerufen, Julian lebte. Ein Starrkrampf, der selbst den erfahrenen Arzt getäuscht hatte, war die Krisis gewesen. Nach vielen Tagen zum Erstenmal erkannte Julian seine Umgebung wieder. Er reichte Therese die Hand, er nannte ihren Namen. Sie erlag fast ihrer Freude, der Umschwung war zu gewaltig gewesen; sie mußte einen Augenblick den Bruder verlassen, um sich von den Eindrücken der letzten Stunden zu erholen.

Kaum aber saß sie in ihrer Stube, als Alfred bei ihr eintrat. Ganz früh am Morgen hatte Theophil zu ihm geschickt, ihm den Tod des Präsidenten zu melden, und noch war die freudige Botschaft der Besserung nicht zu ihm gelangt, als er herbeigeeilt war, Therese zu sehen.

Aller Schmerz der letzten Tage, alle Freude dieser Stunde bestürmten sie aufs Neue, als sie Alfred’s ansichtig ward, in dessen Antlitz die Trauer um den Freund sich unverkennbar aussprach. Zagend ging er der Geliebten entgegen, aber mit dem Ausruf: Er lebt, Alfred! er lebt! warf sie sich an seine Brust und weinte ihre Freudenthränen aus befreitem Herzen.

Lange hielt er sie umschlungen, und sie entzog sich ihm nicht; sie duldete und erwiderte seine Küsse, bis sie sich losriß, um zu dem Bruder zurückzukehren.

Indeß war Eva erwacht, der Schlaf hatte sie erquickt, die Freude that das Uebrige. Sie umarmte Agnes, Theophil, Alfred, sie schenkte der Dienerschaft, was sie von Geld und Schmuck an sich hatte, und erklärte dann, mit einem raschen Blick in den Spiegel, nun werde sie nach Hause fahren, um ihren Anzug in Ordnung zu bringen.

Ein neues Leben schien wie für Julian, so auch für alle Andern angebrochen zu sein. Zwar war der Erstere wieder in die Nacht der Bewußtlosigkeit zurückgesunken, dennoch erklärte der Arzt die Gefahr für beseitigt, und versprach mit Zuversicht fortschreitende Genesung.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Lebensfrage. Zweiter Teil.