XI. Mit ebenso großer Unruhe hatte Therese an das erste Wiedersehen gedacht, das sie nach jenen schmerzlichen Ereignissen mit Alfred haben würde. Ihr Bruder war absichtlich mehrmals ...

XI. Mit ebenso großer Unruhe hatte Therese an das erste Wiedersehen gedacht, das sie nach jenen schmerzlichen Ereignissen mit Alfred haben würde. Ihr Bruder war absichtlich mehrmals mit Reichenbach und seiner Frau im Theater und an andern öffentlichen Orten erschienen, aber Therese hatte sich davon ausgeschlossen, weil sie sich nicht die Kraft zugetraut, den herben Eindrücken zu widerstehen, die ihr daraus erwachsen mußten.

Die Stunden waren ihr langsam hingeflossen und es schienen ihr Jahre entschwunden zu sein, seit sie den Geliebten nicht mehr gesehen hatte. Ruhig hatte sie sich in der Erfüllung ihrer täglichen Pflichten bewegt, gefällig für das Bedürfniß eines Jeden gesorgt, aber es war geschehen, als ob sie es nur aus Gewohnheit thäte, als ob nur der Körper mechanisch den Dienst verrichte, an dem die Seele keinen Theil mehr nahm.


Das entging den Ihrigen nicht. Julian’s Liebe und zärtliche Sorgfalt verdoppelten sich für sie; Theophil hing ängstlich beobachtend an ihren Blicken und auch Agnes litt mit ihr, bedrückt durch die Ahnung eines Kummers, dessen ganze Größe sie nicht kannte, den sie aber durch die liebenswürdigste Dienstfertigkeit und Hingebung zu zerstreuen suchte.

An dem Tage, den wir zuletzt im Reichenbach’schen Hause geschildert, befand sich Therese im Dämmerlichte mit Agnes und Theophil in ihrem Zimmer. Man hatte eben zu Mittag gespeist und der Präsident durch den Besuch eines Fremden abgerufen, hatte sich entfernt. Agnes saß auf einem Fußbänkchen vor Therese und hatte, wie sie es gern that, ihr Haupt auf den Schooß ihrer Beschützerin gelegt, während sie deren Hände in den ihren hielt.

Herr Assessor! sagte sie, plötzlich den Kopf erhebend, helfen Sie mir doch etwas ersinnen, womit wir Therese erheitern. Wir haben sie Beide so lieb, besinnen Sie sich, womit machen wir ihr wol eine Freude? Wenn ich denke, wie froh sie war, wie sie mit mir scherzte, als ich hieherkam, kann ich es nicht ertragen, sie so traurig zu sehen. Freut Dich’s denn nicht mehr, daß wir Dich so lieb haben, Du Beste?

Von ganzem, ganzem Herzen! entgegnete diese, und es thut mir leid, daß mein Trübsinn auf Dich zurückfällt, mein liebes Kind! – Die Jugend hat ja ein solches Bedürfniß, froh des Lebens zu genießen, ein so heiliges Recht auf Freude, daß man sie darin nicht verkürzen sollte. Ich tadle mich sehr, wenn ich Dich fühlen lasse, daß ich augenblicklich nicht heiter bin. Aber habe nur Geduld, es wird bald besser werden, recht bald wie ich hoffe.

Klage ich denn um meinetwegen? fragte Agnes im Tone leisen Vorwurfs. Ich habe ja am Krankenbette meiner Mutter und bei andern Anlässen, Sorgen und Kummer kennen gelernt, und ich glaube, ich bin nicht verzagt gewesen. Als ich vierzehn Jahre alt war, lag die Mutter zum Sterben krank, ließ mich an ihr Bett rufen und befahl mir, auf die Kinder zu wachen, wenn sie sterben sollte, und dem Vater treu zur Seite zu stehen. Du bist erwachsen genug und wenn Du es redlich willst, wirst Du es können, sagte sie. Wir beide waren ganz allein im Zimmer, denn die Mutter hatte die Wärterin fortgeschickt. Wie traurig das war, werde ich niemals vergessen. Ich weinte sehr und versprach es der Mutter fest; und Gott hat mir denn auch die Kraft gegeben, daß ich alles Nöthige zu thun wußte in den vielen Monaten, während deren meine Mutter daniederlag. Als sie nachher gesund wurde, da sagte sie selbst, ich käme ihr und dem Vater nicht mehr wie ein Kind vor, sondern wie eine Freundin, und die Eltern waren noch viel gütiger als je gegen mich. Ueberhaupt fast aus jedem Leide ist in unserm Hause doch immer etwas Gutes erwachsen, so daß ich immer denke, wenn es einmal recht traurig ist: Gott weiß, was das wieder für ein Gutes geben soll! Und in dem Gedanken ertrage ich es denn auch wieder leichter.

Du gutes Kind! sagte Therese und strich ihr liebkosend die Wangen. Ich habe auch Muth, ich bin nur müde und unzufrieden mit mir; aber ich will wie Du hoffen, daß Gott mir Gutes vorbereitet, das wird mich heiterer machen, denke ich.

Mir fällt immer, wenn ich traurig bin, ein Vers aus dem Zauberring ein, meinte Agnes, den ich sehr lieb habe. Er heißt: „Man geht durch Graus zu Wonne, man geht durch Nacht zu Sonne, durch Tod zum Leben ein.“ Das habe ich mir schon oft vorgesagt und immer hat es mich ermuthigt.

Sie küßte bei den letzten Worten Theresen’s Hand und ging hinaus, weil sie einen Lehrer erwartete, der bald kommen mußte.

Welch liebes, und welch tapferes Geschöpf ist das! sagte Therese, als Agnes sich entfernt hatte, und Theophil rief, von Herzen in das Lob einstimmend: sie ist so gut als schön, ein wahres Kleinod!

Dann, sich zu Therese neigend, sprach er: Wenn Sie, aus liebender Besorgniß, dem jungen Mädchen verbergen, wie schwer der Schmerz auf Ihrer Seele lastet, so lassen Sie mich wenigstens mit Ihnen leiden. Mein Auge ist nicht zu täuschen über den Grund Ihres Kummers, denn das Herz schärft meinen Blick. Ich habe gelitten wie Sie und die Wunde ist geheilt und vernarbt; ich habe das Leben wieder lieben, ich habe wieder wünschen und hoffen gelernt in Ihrer Nähe. Ich bin nicht mehr krank, ich fühle Kraft, zu leben, Kraft, Sie zu stützen und zu halten, Therese! – Seit vielen Tagen sehnte ich den Augenblick herbei, in dem ich Sie ohne Zeugen sprechen könnte. Nun ist er da und ich weiß nicht, wie ich Ihnen ausdrücken soll, was ich Ihnen zu sagen wünsche.

Er hielt inne und sann nach in stummer Bewegung, dann fuhr er fort: Ich verlange nicht, daß Sie vergessen sollen, ich weiß, das kann man nicht; ich begehre nicht, ein theures Bild aus Ihrer Seele zu verdrängen, für das meine Liebe Ihnen kein genügender Ersatz scheinen möchte. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß mein Leben Ihnen geweiht ist, und daß ich glücklich wäre, wenn Sie mir vertrauen könnten. Fortführen möchte ich Sie von hier, wo tausend schmerzliche Eindrücke Ihrer warten, Sie zu meiner Mutter bringen und geduldig des Zeitpunktes harren, in dem Sie ruhiger geworden, es empfinden könnten, wie ganz ich Ihnen gehöre, wie es mich beglückt, Sie zu beschützen, für Sie zu leben.

Bester, großmüthigster Freund! rief Therese und reichte ihm die Hand, die er küßte, als Agnes, eine Lampe tragend, zurückkehrte. Sie blieb, es gewahrend, erschrocken in der Thüre stehen und sprach sichtlich verwirrt: Ich wollte meine Stunde nehmen, aber mein Lehrer hat absagen lassen, deshalb komme ich zurück.

Sie wußte nicht, ob sie gehen oder bleiben sollte, und der Eintritt des Präsidenten erlöste sie aus einer quälenden Verlegenheit. Er nahm ihr die Lampe ab, die sie noch immer hielt, und sagte: Ich komme als Eva’s Vorläufer. Sie wird gleich erscheinen und den Abend bei Dir zubringen, liebe Therese! Da es Dir dann nicht an Gesellschaft fehlt, möchte ich Dir den Assessor entführen. Es sind Freunde von mir aus der Provinz angekommen und ich habe mit ihnen ein Zusammentreffen außer dem Hause verabredet. Wollen Sie daran Theil nehmen, Theophil, so werden Sie ein paar gescheidte Männer kennen lernen.

Der Assessor nahm die Einladung an, da auf ein ungestörtes Gespräch mit Therese in Gegenwart der beiden Andern nicht zu rechnen war, und die Männer entfernten sich bald nach Eva’s Ankunft, die alle Anwesenden aufforderte, am nächsten Tage ihre Gäste zu sein, da sie Alfred mit der Frau ebenfalls eingeladen habe.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Lebensfrage. Zweiter Teil.