VIII. Fast alle Personen unserer Erzählung waren am Morgen nach der Maskerade verstimmt oder traurig. Eva’s gehoffter Triumph war durch das Erscheinen von Agnes gestört, ...

VIII. Fast alle Personen unserer Erzählung waren am Morgen nach der Maskerade verstimmt oder traurig. Eva’s gehoffter Triumph war durch das Erscheinen von Agnes gestört, die Aufmerksamkeit Julian’s und Theophil’s zwischen ihr und Agnes getheilt gewesen, und das plötzliche Auftreten der Nonne hatte beide junge Damen unheimlich berührt.

Der Präsident hatte Sophie nicht mehr eingeholt, da noch andere Männer außer ihm und Alfred sie erkannt, und dieser sie beschworen hatte, den Ball zu verlassen, zu dem sie sich eine Einladung verschafft. Eine unwiderstehliche Sehnsucht, Julian noch einmal zu sprechen, Therese und Eva kennen zu lernen, die sie durch Alfred’s Erzählung auf dem Feste wußte, hatte sie zu dem auffallenden Schritte verleitet, der dem Präsidenten ein peinliches Gerede zugezogen und ein wiederholtes Stadtgespräch über dies Verhältniß zuwege gebracht hatte.


In der gereizten Stimmung hatte er noch in der Nacht an Sophie geschrieben, ihr heftige Vorwürfe gemacht und dem Diener den Brief zur Besorgung übergeben, der ihn in aller Frühe an seine Adresse befördert hatte. Jetzt am Morgen bereute er seine Härte. Das Andenken an ihre Liebe sprach versöhnend für sie, aber der Brief war abgesendet, die Sache unabänderlich. Er tadelte sich lebhaft und war in der Unzufriedenheit mit sich nicht aufgelegt, die Vorstellungen gelassen hinzunehmen, die ihm seine Schwester machte.

Wie kann ich von Agnes Vertrauen fordern, wie soll ich mich gegen ihre Mutter rechtfertigen, sagte Therese, wenn Du selbst sie zu Heimlichkeiten verleitest?

Was das nun für ein Aufhebens ist, liebe Therese, weil ich dem Kinde eine Freude ohne Deine Erlaubniß gemacht habe! Bilde Dir doch nicht ein, daß das Mädchen Dich wie einen Beichtvater betrachtet. Hast Du zu sechszehn Jahren nicht Deine kleinen Geheimnisse gehabt? Was soll die unnöthige Strenge? Agnes war unter meinem Schutze wohl aufgehoben und ich übernehme die Verantwortung, entgegnete Julian ablehnend.

Sie ist aber meinem Schutze anvertraut, bemerkte Therese, und es war Dir gewiß weniger um ihr Vergnügen, als um das Deine zu thun. Agnes bedarf so rauschender Feste noch nicht und ich finde Deine Handlungsweise in diesem Falle unvorsichtig.

Quäle mich doch nicht mit Gouvernantenmoral! sagte Julian verdrießlich, Agnes ist erwachsen genug, über sich selbst zu bestimmen, und Eltern, die ihre Tochter unbedenklich verheirathen, sie ganz selbständig machen würden, verlangen eine Beaufsichtigung, wie Du sie meinst, gewiß nicht mehr. Darum verschone mich mit Vorwürfen, die mir lästig sind, sie klingen wirklich ganz altjüngferlich. Gewöhne Dir diese unnöthige Strenge doch nicht an.

Mit den Worten ging er hinaus und ließ Therese, die dergleichen Ermahnungen von dem Bruder nicht gewohnt war, unmuthig zurück.

Später am Tage kam Eva, sie zu fragen, ob sie etwas dagegen hätte, wenn man den Abend bei ihr, statt bei Therese zubrächte, wie man es verabredet hatte. Therese nahm den Vorschlag an und Eva plauderte von dem Balle, von dem sonderbaren Einfalle des Präsidenten, Agnes gegen Theresen’s Willen hinzuführen, von den Eroberungen, die sie selbst gemacht, und von tausend andern Dingen.

Uebrigens sei auf Deiner Hut, Therese! sagte sie, Dein Bruder ist von Agnes wie bezaubert. Ich glaube, er denkt daran, sie zu heirathen.

Das ist ein thörichter Einfall von Dir, meinte Therese, wie kommst Du nur darauf? Mein Bruder und das kaum erwachsene Kind, das ist ein unmögliches Paar.

Nicht so unmöglich als Du glaubst, rief Eva eifrig. Du solltest nur hören, wie er seit Wochen von der reinen Natürlichkeit, von der häuslichen Tüchtigkeit und dem Verstande von Agnes spricht; wie er ihre gleichgültigsten Aeußerungen mir als etwas Besonderes wiederholt; wie er es sich reizend denkt, sie zur Tochter zu haben, sie zu bilden und zu erziehen – Dir würde, wie mir, die Vermuthung kommen, daß er noch lieber als eine solche Tochter eine solche Frau zu haben wünsche.

Therese hörte nachdenkend zu. Die Möglichkeit, daß Julian sich verheirathen, daß er Agnes heirathen wolle, war ihr befremdend. Er hatte so oft seine Abneigung gegen die Ehe ausgesprochen, sie war an das Zusammenleben mit dem Bruder so sehr gewöhnt, ihre ganze Zukunft so fest darauf gebaut, daß sie nicht an einen Zustand denken mochte, in dem sie von ihm getrennt werden konnte.

Indeß war Eva’s Vermuthung nicht unmöglich. Sie dachte der großen Theilnahme, mit der Julian das Mädchen betrachtete, ihr Streit am Morgen fiel ihr ein und sie selbst fing wider ihren Willen sich der Meinung Eva’s zuzuneigen an. Das regte sehr verschiedene Gefühle in ihrer Seele auf. Sie wünschte nichts lebhafter, als Julian recht glücklich zu sehen, aber konnte er das in der Ehe mit einer Frau werden, die dreißig Jahre jünger war als er? Agnes war ein Kind –

Soweit war Therese in ihren Gedanken gekommen, als Agnes eintrat und beide Frauen sich überrascht ansahen, denn es war eine ganz merkliche Veränderung mit ihr vorgegangen. Es schien, als habe sie den Schritt aus der Kindheit in das jugendliche Alter plötzlich gemacht; als habe das gestrige Fest, die Bewunderung, die sie gefunden, ihr plötzlich gezeigt, daß sie ein Recht habe, sich den Frauen zuzugesellen, die der Beachtung werth wären. Sie trug sich grader, trat freier auf, hatte ihre Kleidung sorgfältiger geordnet und begrüßte Frau von Barnfeld traulich mit dem Namen Eva, während sie sie bis jetzt „gnädige Frau“ zu nennen pflegte.

Ist Theophil nicht hier gewesen, liebe Therese? fragte sie, er wollte, da das Wetter so schön ist, uns auffordern einen Spaziergang zu machen. Wenigstens sagte er mir so, als ich von der französischen Stunde kam.

Die Worte klangen so natürlich als möglich und doch war für Therese etwas Ungewohntes darin. Wie Agnes Frau von Barnfeld nicht bei dem Taufnamen genannt, so hatte sie es auch mit Theophil niemals gethan, niemals sich mit Therese in gleiche Reihe gestellt.

Wie kommen Sie mir denn vor, Agnes! rief Eva, die keinen Eindruck zu verbergen wußte, ich glaube, Sie sind gewachsen seit gestern! Sie haben sich vollständig gemausert. Sind Sie größer als Therese?

Nein, sehen Sie nur, sagte Agnes freundlich, indem sie vor Therese hinkniete und ihr die Hand küßte. Ich bin noch immer Dein Kind, nicht wahr, Therese? und Du bist nicht böse, daß ich Dir nichts von dem Balle gesagt habe. Ich wußte es ja nicht bestimmt und ich dachte, wenn Dein Bruder es mir vorschlage, könne es kein Unrecht sein. Er ist so gut, Dein Bruder.

Therese küßte Agnes, drückte sie an ihr Herz und beruhigte sie durch die Versicherung, ihr nicht zu zürnen; dann gab sie ihr einige Aufträge für den Haushalt, das junge Mädchen entfernte sich dienstfertig und Therese bat Frau von Barnfeld, gegen Niemanden, am wenigsten gegen Agnes etwas davon zu erwähnen, daß sie an eine Neigung des Präsidenten für sie glaube.

Eva versprach es und sagte: Nur das Eine verlange ich zu wissen: glaubst Du, daß ich mich geirrt habe, daß mein Verdacht ungegründet ist?

Ich weiß es nicht, antwortete Therese, aber warum nennst Du es einen Verdacht? Wäre es ein Unrecht, wenn Julian ein gutes, schönes Mädchen zur Frau nähme?

Entsetzlich, o, entsetzlich wäre es! rief Eva in Thränen ausbrechend und eilte mit verhülltem Gesichte hinaus, ohne auf Theresen’s dringende Bitte zu achten, daß sie bei ihr bleiben und sich beruhigen solle.

Therese war in großer Gemüthsbewegung. Agnes, die sie von ihrem Bruder trennen konnte, erschien ihr fremd und doch zog der Gedanke, Julian könne das Mädchen lieben und glücklich durch dasselbe werden, sie wieder zu ihm hin. Eine Neigung Eva’s für ihren Bruder hatte sie lange vermuthet; nun hatte die Gewißheit derselben sie erschreckt. Wohin sie blickte, Trübsal und Verwirrung. Sie dachte des Tages, an dem sie mit Alfred und dem Bruder über die mögliche Ankunft ihrer Hausgenossen gesprochen, und der Besorgnisse, die sie dagegen gehegt hatte. Jetzt waren sie nahe daran, sich zu erfüllen. Jene heitere Vergangenheit war längst entschwunden. Alfred’s und Theophil’s Bilder traten ihr beunruhigend vor die Seele. Beide waren nicht glücklich, und welch schweres Leid konnte die Zukunft ihr selbst noch bringen, während nirgend eine Aussicht auf Glück für sie vorhanden war! Sie fühlte sich geistig müde und traurig und es erschien ihr fast wie eine Wohlthat, als ein Billet des Bruders ihr meldete, daß ein dringendes Geschäft ihn und Teophil nöthige, nach einem entfernten Stadttheile zu fahren, und daß sie deshalb auswärts speisen würden. Der Brief endete mit den Worten: „Ich war heute ungerecht gegen Dich, liebe Schwester; Du hast entgelten müssen, was mich innerlich quälte. Vergib mir das, Du liebe Treue! ein reuiger Sünder grüßt Dich mit Wort und Kuß.“

Das erquickte Therese. Sie suchte sich, wie es ihre Art war, alle Möglichkeiten durchzudenken, faßte die Zukunft fest ins Auge, stellte sich die Zeit vor, in der sie einsam ohne Julian leben würde, und sagte dann lächelnd: Habe ich ein Recht zu fordern, daß er für mich lebe? Werde ich nicht glücklich sein in seinem Glücke?

Aber trotz aller Liebe für den Bruder, trotz der reiflichsten Ueberlegungen behielt eine wehmüthige Stimmung die Herrschaft über sie und war nicht gewichen, als man sich am Abend bei Eva versammelte.

Mit Agnes bei Eva anlangend, fand sie Alfred schon dort, Eva ein wenig bleich, aber heiter wie immer, und kurze Zeit darauf erschienen auch Julian und Theophil. Der Erstere gab Theresen die Hand, und die vollständigste Versöhnung ward schweigend durch einen Händedruck besiegelt. Dann begrüßte er die übrigen Personen und sagte: Uns hat heute ein seltsames Ereigniß beschäftigt. Wollt Ihr es, so theile ich es Euch mit, oder besser, Theophil erzählt es Euch, denn er ist eine der Hauptpersonen dabei.

Man bat den Assessor um die Mittheilung. Ich glaube Ihnen schon neulich gesagt zu haben, hub er an, daß die Besorgniß vor dem neuen, die Ehescheidungen erschwerenden Gesetze eine große Menge von Ehescheidungsklagen zuwege bringt, weil die Leute, die in unglücklicher Ehe leben, die Klagen auf Trennung einzureichen wünschen, während das alte Gesetz noch in Kraft ist. Unter diesen Eingaben befand sich auch die Klage einer Frau, deren Mann hier in der Stadt als ein wüster Gesell, ein Spieler von Profession bekannt ist. Es war heute der zweite Termin in der Sache angesetzt, die ich führe. Schon das erste Mal fiel mir das Aeußere der Frau angenehm auf. Sie ist nicht hübsch, etwa in der Hälfte der dreißiger Jahre, hat aber jenes Aussehen, das auf eine gewisse geistige Entwickelung schließen läßt. Ihre Kleidung war dürftig, doch mit großer Sauberkeit und Sorgfalt geordnet. Sie erklärte in der Eingabe, daß sie, seit achtzehn Jahren verheirathet, zwei Töchter habe, von denen die älteste siebzehn, die jüngere funfzehn Jahre alt sei, und daß sie im Verein mit diesen Töchtern sich seit Jahren durch Handarbeit ernähre, da ihr Mann nichts erwerbe oder, falls er etwas erwerben sollte, es außer dem Hause verbrauche. Sie habe seit dem Beginn ihrer Ehe nicht glücklich mit ihrem Manne gelebt, die Eltern hätten sie zu der Heirath gezwungen. Trotzdem glaube sie, ihre Pflicht erfüllt und geduldig die Rohheit ihres Mannes ertragen zu haben. Jetzt aber, da diese täglich zunehme, da ihre Kraft durch den Gram gebrochen sei, da ihre Töchter mit von der Tyrannei zu leiden hätten und man ihr sage, die Scheidung solle künftig erschwert werden, jetzt sehe sie sich genöthigt zu verlangen, daß man sie von ihrem Manne trenne. Sie hatte die Klage offenbar selbst gemacht und war auch im Termine selbst erschienen, weil, wie sie mir sagte, ihr die Mittel fehlten, einen Justizcommissar zu bezahlen. Daß ich mit der größten Schonung gegen die Frau bei dem Termine verfuhr, darf ich nicht erst versichern. Der Mann, früher Offizier, dann in einem Civilamte beschäftigt und wegen Dienstvergehen entlassen, will von der Scheidung nichts hören, weil es ihm bequem zu sein scheint, Wohnung, Speise und Kleidung für sich erwerben zu lassen, während er in Spielhäusern und Weinschenken die Zeit verschwendet, oft betrunken heimkehrt, bisweilen wüste Gesellen mit sich nach Hause bringt und Frau und Töchter auf das äußerste quält. Diese Thatsachen stehen fest. Da er aber seine Frau nie in Gegenwart von Fremden beschimpft, sie nie geschlagen hat, da sie selbst nicht wegen Ehebruch klagt und er sich nicht von ihr trennen will, ist die Sachlage nicht günstig für ihre Wünsche. Mann und Frau waren heute im Termine erschienen und diese Letztere litt sichtlich durch die Erörterungen über ihr eheliches Verhältniß, zu denen der Mann sich erniedrigte. Er klagte sie an, ihn niemals geliebt zu haben, sie hätte ein Verhältniß vor Eingehung ihrer Ehe mit einem Referendarius gehabt, diese Liebe hätte gleich anfangs störend zwischen ihnen gestanden, die Kälte und Abneigung seiner Frau hätten ihn aus dem Hause getrieben und dergleichen Dinge mehr, die im Munde dieses Mannes das Gepräge der Unwahrheit trugen. Als er dann immer roher wurde, zuletzt grobe Beschuldigungen gegen die Treue seiner Frau aussprach und behauptete, daß sie noch nach der Hochzeit in fortgesetztem Verhältniß zu ihrem frühern Geliebten gestanden und diesen oftmals bei sich gesehen habe, sagte die Frau, die schon lange heftig gezittert hatte: Großer Gott! auch das noch und vor all den Männern! und sank in einer Ohnmacht zusammen, so daß man sie hinaustragen mußte. Mir that die Frau sehr leid, der Mann aber schalt sie eine empfindsame Närrin und eilte, da es unmöglich war, den Termin fortzusetzen, gleichmüthig davon.

Als ich ebenfalls im Nachhausegehen in das Vorzimmer kam, wo verschiedene Personen sich damit beschäftigten, die Ohnmächtige ins Leben zu rufen, traf ich einen uns gemeinsam bekannten Justizbeamten. Er fragt mich, was das Gewühl bedeute? ich erzähle es ihm und nenne zufällig den Familiennamen der Frau dabei. Kaum hat er ihn gehört, als er sich durch die Menge drängt, die Ohnmächtige betrachtet und sie mit ihrem Namen anruft. Bei dem ersten Tone seiner Stimme richtet sie sich plötzlich in die Höhe, öffnet die Augen, sieht ihn an, wie man eine unirdische Erscheinung betrachten würde, und sinkt dann in seine Arme, während heiße Thränen aus Beider Augen fließen.

Niemals habe ich Etwas erlebt, was mich in ähnlicher Weise erschüttert hätte. Ich suchte die Leute zu entfernen, die umherstanden. Der Beamte bat mich, nachzusehen, ob er die Leidende nicht in das Sessionszimmer führen könne. Ich that es und, da Niemand als der Präsident darin war, kam er selbst, sie dorthin zu geleiten. Die Frau erholte sich dann und fuhr nach Hause in einem Wagen, den wir herbeigeschafft hatten.

Soweit hatte Theophil erzählt, als der Präsident ihn ablöste. Ihr werdet nun leicht den Zusammenhang errathen, sagte er, wie ihn uns der Beamte nachher erklärte. Er ist jener Jugendgeliebte der unglücklichen Frau. Beide waren arm, ohne alle Aussicht, sich verbinden zu können, und das Mädchen heirathete, von den Eltern dazu gezwungen, ihren jetzigen Mann, der damals noch ein nahmhaftes Vermögen besaß, obgleich er den größten Theil seines Erbes schon verspielt hatte. Der früher Geliebte hat ihr in der ersten Zeit bisweilen geschrieben, wie er sagt, aber keine Antwort von ihr erhalten. Wiedergesehen hat er sie nie, da er bis vor wenig Wochen in den östlichen Provinzen angestellt war, während die Frau lange Zeit am Rheine lebte. Heute haben sich nun die Langgetrennten gefunden und der Beamte konnte der tiefen Erschütterung nicht Herr werden, in der er sich befand. Das Mädchen, das er in behaglichen Verhältnissen, jung und frisch verlassen, hatte er als bleiche, verkümmerte Frau unter den Händen fremder Menschen wiedergesehen; erliegend unter der Last häuslichen Unglücks, geschmäht von einem Manne, der ihr das Leben zur Hölle gemacht hat. Um Gottes willen, rief er einmal über das andere, wie stellen wir es an, die Unglückliche frei zu machen! – Ich schlug ihm vor, ich wolle selbst mit jenem Manne sprechen, ich wolle ihn überreden, in die Scheidung zu willigen. Der Beamte nahm den Vorschlag an, erklärte, dem Manne eine nicht unbedeutende Summe zahlen zu wollen, wenn er darauf eingehe, und wollte selbst zu der Frau eilen, sie davon zu benachrichtigen. Das widerrieth ich ihm jedoch entschieden, er darf sie nicht eher wiedersehen, bis die Angelegenheit beendet sein wird. Er ist das ihrer Ehre und sich selber schuldig. Ich bat Theophil, statt seiner zu ihr zu gehen und sie von den Vorgängen zu unterrichten, während ich in das Gasthaus fuhr, wo ihr Mann sich gewöhnlich aufhält, und diesem die nöthigen Vorstellungen machte; denn der Beamte beschwor mich, es gleich zu thun, er könne sonst nicht Ruhe finden. Wie mir scheint, wird die Sache sich für den Augenblick hinhalten, und man muß sehen, wie sie enden wird.

Nun, Ihr Beamter wird doch natürlich seine frühere Geliebte heirathen, rief Eva.

Daran zweifle ich, obgleich er unverheirathet ist, meinte der Präsident. Wenigstens läßt mich keine seiner Aeußerungen darauf schließen, daß er diese Absicht habe. Er hat das Mädchen einst geliebt, es geht ihm nahe, die Frau jetzt unglücklich, mishandelt zu wissen, er will sie zu retten suchen, das ist ein sehr natürliches Gefühl. Ob er sie noch liebt? ob sie ihm noch zur Frau begehrenswerth scheint, da ein langes Leben zwischen jener Zeit und ihrem Wiedersehen liegt, das wird die Zukunft lehren. Einstweilen wollte ich die Damen bitten, ob sie der Frau, die augenblicklich, wie mir Theophil sagt, in Noth ist, nicht Arbeit und Erwerb zu schaffen wüßten? Mein Beamter wollte auch hier aushelfen, aber auch davon habe ich abgerathen. Es könnte zu Misdeutungen Anlaß geben, und warum soll man Jemand zur Annahme von Wohlthaten zwingen, dem man die Mittel geben kann, sich selbst zu helfen? Kauft daher Leinwand und andere Stoffe, Ihr Frauen, und gebt der armen Person Arbeit und Verdienst, mehr ist für jetzt nicht nöthig.

Eva und Therese, die, wie Alfred, mit Antheil zugehört hatten, erklärten sich sofort zu jedem Beistand gern bereit und Therese fragte: Wenn nun der Mann auch in die Scheidung willigt, so steht der Trennung doch kein Hinderniß im Wege und die Frau wird frei?

Nach den bisherigen Gesetzen, sagte Theophil, würde dann die Scheidung keine große Schwierigkeiten verursachen, da die Frau gewiß keine Unterstützung von dem Manne verlangt, und sich und die Töchter wie bisher ernähren würde. Nach dem beabsichtigten Gesetz dürfte es aber noch vielen Zweifeln unterworfen sein, ob man diese Ehe überhaupt trennen würde?

Aber was geht das den Staat an, ob zwei Menschen, die sich nicht mögen, miteinander leben oder von einander gehen? fragte Eva. Da der Staat jene Frau nicht gefragt hat, ob sie ihren Mann auch möge, als die Eltern sie zu einer Heirath gegen ihre Neigung zwangen, so hat er doch auch jetzt gewiß nichts danach zu fragen, wenn sie den aufgedrungenen Mann nicht mag und sich von ihm trennt.

Die Ehe und das Familienleben sind die Grundlage eines Staates und er hat deshalb die Pflicht, sie zu schützen, sagte Theophil.

Was heißt das, die Ehen schützen, wenn man eine Frau so unglücklich werden läßt, als die, von der Sie eben berichtet haben? Die Frauen sollte man beschützen, sie sollte man fragen, wenn man neue Gesetze über die Ehe entwirft, rief Eva, und nicht Gesetze geben, die einer Unglücklichen befehlen, das harte Joch zu tragen, wenn es ihr zu schwer wird. Es ist schlimm genug, daß Eltern und Verhältnisse ein Mädchen zwingen können, sich gegen ihren Wunsch zu verheirathen; der Staat braucht nicht die Ungerechtigkeit hinzuzufügen, daß er verlangt, man solle verheirathet bleiben mit einem Manne, den man nicht liebt, nicht achtet, den die Frau hassen muß, wenn er sie gegen ihren Willen zu fesseln begehrt.

Sie machen in Ihrer Entrüstung unbefangen einen Theil der Bemerkungen, die von allen Seiten gegen das neue Gesetz eingewendet werden, das auch mir nicht wohlbedacht erscheint, besonders weil es den Ehebruch bestrafen will, auch ohne daß der gekränkte Theil klagbar dagegen wird, sagte der Präsident. Die Ehe ist ein bürgerliches Institut und ein geistiges Band. Jede dieser Richtungen hat ihre besonderen Rechte. In Frankreich trennt man sie scharf, indem man erst die bürgerliche Ehe vor dem Maire abschließt, die geistige Ehe darauf von dem Priester segnen läßt. Die bürgerliche Ehe, als Staatsinstitut, als die schönste, vollendetste Form menschlicher Vereinigung, zu schirmen und aufrecht zu erhalten, ist Pflicht des Staates, denn mit Aufhebung unserer jetzt bestehenden Ehesitten zerfällt die bürgerliche Gesellschaft in ein wüstes Chaos. Die Trennung dieser Ehe gehört entschieden vor sein Gericht, insofern das Eigenthum und die Rechte des Bürgers dabei gefährdet werden. Die geistige Ehe, die Ehe, welche der Priester segnet, ist Sache des Einzelnen und nur das Gewissen der Gatten hat darüber zu entscheiden. Glaubt der Staat sich ermächtigt, über diese geistige Vereinigung der Gatten zu urtheilen, denkt er daran, Vergehen gegen die ehelichen Pflichten zu bestrafen, welche der gekränkte Theil schweigend ertragen will, so verkennt er seinen Beruf und begeht ein Unrecht. Er drängt sich unbefugt in die Geheimnisse des Einzelnen und beschränkt seinen freien Willen. Dies zu thun ist aber ein Verbrechen, denn die Freiheit eines Menschen darf der Staat nicht antasten, so lange sich Niemand beschwert, daß er sie zum Nachtheil eines Andern misbrauche.

Das ganze Gesetz hat darum etwas so Gehässiges, sagte Theophil, weil es nicht wie ein Schutz- sondern wie ein Strafgesetz aussieht. Es betrachtet die Personen, die auf Scheidung klagen, wie Uebelthäter, die man zu ihrer Pflicht zwingen, wie Verbrecher, die man bestrafen müsse, während in den meisten Fällen mindestens der eine Theil so unglücklich ist, daß man ihn so schnell als möglich erlösen sollte. Die Zahl der Eheleute, die sich aus Leichtsinn trennen, wie es in den Gesetzentwürfen heißt, möchte sehr gering sein; größer ist schon die Zahl der Ehen, die ohne Ueberlegung geschlossen werden. Dies zu verhindern aber vermag der Staat nicht und er kann es nicht einmal wollen.

Was Sie über Ehescheidungen aus Leichtsinn sagen, ist ganz richtig, bemerkte der Präsident. Die Ehe gibt den Gatten eine solche Menge gemeinsamer Pflichten und Lasten, die Interessen derselben sind so fest ineinander verschlungen, veranlassen bei einer Trennung eine solche Menge von Uebelständen für beide Theile, daß wohl der Leichtsinnigste ernst und aufmerksam wird und davor zurückschreckt, wenn eben nur Leichtsinn ihn zu der Scheidung veranlaßte. In den niedern Ständen sind es gewöhnlich sittliche Verwahrlosung oder Noth und Armuth, die unglückliche Ehen zuwege bringen. Diese Noth mildern, das sittliche Bewußtsein, das in unserm Volke vorhanden ist, durch moralische, nicht durch pietistische Erziehung stärken, das ist es allein, was der Staat zur Beförderung glücklicher Ehen thun kann. Glückliche Ehen möglich zu machen, muß sein Ziel sein, nicht unglückliche Ehen zusammenzuhalten. Im Gegentheil ließe sich eher behaupten, daß, da es vernünftiger Grundsatz des Staates ist, den Uebelthäter, gegen den die große Staatsfamilie sich beschwert, von der Gesammtheit auszuscheiden, weil er ihre Rechte kränkt und sie durch sein Beispiel entsittlicht, so müsse der Staat auch, auf Verlangen einer Familie, diese von einer Person befreien, die ihr Wohlergehen verhindert.

Die Andern stimmten dem Präsidenten bei und er fuhr fort: Frau von Barnfeld bemerkte vorhin und Theophil wiederholte es, daß der Staat keine Aufsicht über die Beweggründe führen könne, aus denen sich Ehegatten verbinden. Da er nun die Eingehung einer Ehe dem freien Willen und dem Ermessen der Betheiligten anheimstellen muß, so muß ihnen auch die volle Freiheit bleiben, ein Bündniß, das sie eingingen, um glücklich zu werden, aufzulösen, wenn es diesem Zwecke nicht mehr entspricht, ihm entgegen ist. Mir scheint, der Code Napoleon habe diese Verhältnisse am vollständigsten erfaßt und jeder Richtung ihre gebührende Anerkennung gesichert. Ich finde es angemessen, daß nach dem Code jede Ehe ohne Weiteres getrennt wird, wenn nach zweijähriger Dauer derselben beide Gatten darein willigen und die Eltern oder ein Familienrath die Ordnung der Vermögensverhältnisse und die Zukunft der Kinder für gesichert erklären. Dadurch schützt sich der Staat davor, daß ihm die Ernährung der Familie zur Last falle, und läßt doch dem Menschen das Recht, frei über seine heiligsten Interessen zu entscheiden. – Er hielt inne und sagte dann nach einer Pause: Allerdings kommen auch Fälle vor, in denen eine solche friedliche Lösung unmöglich ist; da muß natürlich der Staat vermittelnd dazwischentreten und das Gesetz die streitenden Parteien zufrieden zu stellen suchen.

Solche lange Auseinandersetzungen lagen nicht in der Art des Präsidenten, heute aber mochte ihn das Interesse dazu bewogen haben, welches die Andern für den Gegenstand zeigten.

Auch Alfred hatte bis dahin schweigend zugehört, jetzt richtete er sich empor und sagte: Inwiefern der Staat sich zu berücksichtigen hat, mag ich augenblicklich nicht erörtern. Mir fällt aber, so oft das Thema berührt wird, ein Ausspruch Rahel’s ein, den man als Motto über alle Schriften setzen sollte, welche sich gegen das neue Ehegesetz erklären. Sie sagt: „Die höchste Schmach einer Frau, die tiefste Erniedrigung ist es, daß sie Mutter von Kindern werden kann, deren Vater sie haßt und verachtet.“ Mit den wenigen Worten drückt die feinfühlende, scharfsichtige Frau Alles aus, was sich gegen die Unsittlichkeit einer Ehe sagen läßt, an der das Gefühl keinen Theil mehr hat, die man gegen den Wunsch der Gatten zusammenhalten will. Und wenn der Staat die wichtigsten Zwecke durch Aufrechthaltung einer solchen Ehe zu erreichen glaubte, sie würden zu schwer erkauft durch das Elend, das sie über den Einzelnen verhängen, durch die Knechtschaft, zu der sie ihn zwingen wollen. Ein Gesetz, das ein großes, sittliches und verständiges Volk, wie das unsere, verwirft, kann kein gutes Recht sein. Gesetze geben ist so schwer! Jeder Mensch trägt sein besonderes Recht nach seiner Individualität in sich. Jedes besondere Verhältniß schafft und bedingt sein eigenes Recht. Was in dem einen Falle Verbrechen wäre, könnte höchste Tugend in dem andern sein. Nun will man Menschen von der verschiedensten geistigen Erkenntniß, von den abweichendsten Lebensansichten und den verschiedensten gesellschaftlichen Stufen unter ein Gesetz beugen, das Alle verwerfen, das sie sich nicht selbst gegeben haben. Das zu thun, ist eine Sünde, denn dem Menschen ist der freie Wille gegeben, wie kann der Staat ihn vernichten wollen? Wer durch Befehle unserm Gewissen vorschreiben will, was Recht und Unrecht sei; wer uns ein Sittengesetz aufdrängt, gegen das unsere Ueberzeugung sich sträubt; wer uns überhaupt in unsrer rechtmäßigen Freiheit beschränkt, die Stimme des Gewissens in uns vertreten will, der versündigt sich an der Menschheit im Ganzen und an dem Einzelnen, der ist unser Feind und wenn er uns alle Güter der Welt zum Ersatze böte. Elend werden nach eigner Wahl, ist am Ende noch ersprießlicher als ein Glück, das man uns aufdrängt. Wer mich glücklich machen will nach seiner Ansicht, ohne die meine zu befragen, tritt mir zu nahe und Jeder würde ein aufgedrungenes Glück von sich stoßen, wenn er, während man es ihm aufdringt, bedächte, daß jede Unfreiheit eine Schande ist.

Er sprach heftig erregt, denn er kämpfte offenbar für sein eigenes Interesse. Ihn drückte das Bewußtsein, durch den Willen seines verstorbenen Onkels, durch Rücksichten auf seinen Sohn und durch Das, was er für Pflicht gegen seine Schöpfungen hielt, in den Fesseln einer Ehe gebannt zu sein, die er zu lösen verlangte. Er litt unter der Beschränkung der Freiheit, darum sprach er doppelt warm für das Recht der Andern. Therese hatte sich schon vorher mit Felix und Agnes entfernt, weil die Erörterungen zu traurige Ge danken in ihr erweckten und sie auch Agnes vor solchen Betrachtungen bewahren wollte. Jetzt, da nach Alfred’s letzten Worten eine längere Pause eintrat, kehrte sie zurück, der Präsident wendete sich mit Freundlichkeit gegen das junge Mädchen und die Unterhaltung nahm eine andere Richtung, obgleich sie noch lange in den Einzelnen nachklang.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Lebensfrage. Zweiter Teil.