V. Der November war nun fast zu Ende und man näherte sich dem Tage, an dem der Maskenball statthaben sollte. Der Präsident und Therese hatten der Baronin ihre Gegenwart für den Abend zugesagt...

V. Der November war nun fast zu Ende und man näherte sich dem Tage, an dem der Maskenball statthaben sollte. Der Präsident und Therese hatten der Baronin ihre Gegenwart für den Abend zugesagt und diese hatte auch Agnes dazu eingeladen, die den Wunsch ausgesprochen, die ungekannte Freude zu genießen. Therese hatte sich, trotz Agnes’ Bitten, dagegen erklärt, aber als nun der Termin heranrückte, als Agnes bei Frau von Barnfeld beständig von dem Feste sprechen hörte, als diese und Theophil von den Handwerkern die einzelnen Garderobestücke angefertigt erhielten, da stieg ihre Lust, dem Balle beizuwohnen, höher und immer höher.

Eines Tages saß sie mit einem Buche in Theresen’s Zimmer, während diese ausgegangen war, und dachte wieder lebhaft an den Ball und seine Freuden, als der Präsident hereintrat und ihr über die Schultern in das Buch blickte.


Was lesen Sie, Agnes? fragte er.

Romeo und Julie, Herr Präsident! Therese hat es mir gegeben.

Julian nahm das Buch, blätterte darin und fing an, dem jungen Mädchen die erste Scene vorzulesen, in der Romeo und Julie sich auf dem Balle begegnen. Er hatte bei seinem regen Gefühl für Poesie es bald vergessen, daß er nur auf einen Augenblick gekommen war. Die Schönheit des Gedichtes riß ihn hin, und mit seinem wohlklingenden Organ und aller Begeisterung, die er für Shakspeare hegte, las er weiter und immer weiter, bald diese, bald jene Stelle, bis er endlich die Balkonscene aufschlug. Agnes hatte gespannt zugehört, doch kam es dem Präsidenten vor, als erlösche allmälig ihre Theilnahme, und er forderte sie auf, die Julia selbst zu lesen. Sie gehorchte anfangs zögernd und ein wenig befangen, dann ward sie wärmer und freier. Der Präsident hörte ihr mit steigender Ueberraschung zu und las den Romeo mit solchem Eifer, mit so großer Hingebung, daß er sich selbst darüber wunderte, als die Scene zu Ende war und er das Buch zusammenschlug.

Agnes, durch das Lesen erhitzt, ebenso entzückt als verschämt, hatte begeistert die glühenden Liebesworte gesprochen und blickte nun mit klopfendem Herzen und lächelnd den Präsidenten an, der seinen Augen und Ohren nicht traute. Sie war sehr schön in diesem Augenblick. So konnte Julia ausgesehen haben. Das glänzend schwarze Haar, das die reine Stirn umgab, die großen unschuldigen Augen hatten etwas höchst Jugendliches, die Form der Nase und des Mundes etwas Italienisches. Er wunderte sich, daß er dies Alles bis jetzt nicht bemerkt hatte, daß ihm entgangen war, wie viel Geist und Gefühl in dem jungen Mädchen schlummre. Er nahm sich vor, aufmerksamer auf sie zu werden, und fragte sie, wie ihr das Gelesene gefallen habe?

Sehr gut, sehr gut, sagte sie, besonders die Scene auf dem Maskenballe. Ach, Herr Präsident! Sie glauben nicht, wie glücklich ich wäre, wenn Sie Therese überredeten, mich mitzunehmen.

Julian mußte lachen, weil der Ton ihrer Bitte so gar kindlich klang.

Sehen Sie, wie ungerecht es in der Welt hergeht! sagte sie. Theophil, der ewig stöhnt und ächzt, der kann thun was er mag. Der geht stöhnend und kauft sich den prächtigsten Anzug und wird ächzend mit Frau von Barnfeld tanzen, und ich ganz allein werde zu Hause bleiben und Sie Alle recht beneiden.

Sie wären lieber an Frau von Barnfeld’s Stelle mit dem hübschen Theophil, liebes Kind! Das glaube ich, sagte Julian neckend, aber dazu haben die Eltern Sie eigentlich nicht hergeschickt.

Glauben Sie, daß mir der Assessor gefällt? Da irren Sie sehr. Ich kann es gar nicht leiden, wenn ein Mann immer so unglücklich thut. Mein Vater hat gewiß mehr Sorgen als der Assessor, aber er ist doch immer heiter, wenn er noch so viel zu thun hat, und so soll doch ein Mann auch sein und nicht wie Theophil.

Theophil ist krank, begütigte Julian, haben Sie Mitleid mit ihm, suchen Sie ihn zu zerstreuen.

Haben mich meine Eltern dazu in die Stadt geschickt? spottete sie und sagte dann: Gewiß, ich will Alles thun, was Therese und die Eltern von mir verlangen, ich bin ja auch sehr fleißig dabei, aber gegen den Ball hätte meine Mutter ganz bestimmt nichts einzuwenden, und ich wäre so glücklich, könnte ich ihn mitmachen.

Plötzlich schien ein Gedanke in dem Präsidenten aufzutauchen und er sagte: Agnes, können Sie wohl schweigen?

Wie das Grab!

Und wollen Sie mir einen Gefallen thun?

Von Herzen gern, Herr Präsident.

So sagen Sie nicht, daß Sie mit mir von dem Balle gesprochen haben, sprechen Sie überhaupt nicht mehr davon.

Aber weshalb denn nicht? ich möchte so gern hinkommen.

Haben Sie nie von guten Elfen gehört, die den frommen Kindern ihre Wünsche erfüllen? Beten Sie nur fleißig, vielleicht kommt der Elf und hilft.

Herr Präsident, Sie nehmen mich mit! rief Agnes jubelnd.

Ich bin kein Elf, liebste Agnes, und Theresen’s Willen darf ich nicht entgegenhandeln, antwortete er und ging hinaus.

Agnes lächelte still vor sich hin.

Den ganzen Tag sah sie strahlend vor Glück aus, so daß Therese sie um den Grund ihres Frohsinns befragte, aber sie behauptete, es sei ihr gar nichts begegnet, und freute sich, als am Abend Alfred seinen Felix mitbrachte, mit dem sie ihrer Lust in den tollsten Schwänken freien Lauf ließ.

War Theresen der ungewöhnliche Frohsinn des jungen Mädchens aufgefallen, so erschreckte sie andrerseits der ungewöhnlich trübe Ernst in Alfred’s Zügen und, sobald sie allein miteinander waren, bat sie ihn besorgt, ihr zu sagen, was ihn beunruhige.

Ich habe schon einmal, sagte er, mit Ihnen von einer Frau sprechen wollen, die mir die innigste Theilnahme einflößt, von der Harkourt.

Therese erschrak, Alfred bemerkte es, ließ sich aber dadurch nicht stören, sondern fuhr fort: Sie kennen das Verhältniß, in dem Julian zu ihr gestanden hat. Sie werden wissen, daß er sie nicht mehr sieht und jede Beziehung zu ihr abgebrochen hat. Sie ist aber eine in jedem Betrachte bedeutende Frau, und wenig Männer möchten die Kraft haben, ihr gegenüber kalt zu bleiben, noch wenigere würden sie so schnell verlassen haben als Ihr Bruder, an dem sie noch mit leidenschaftlicher Liebe hängt. Ich mag über sein Verhalten zu ihr, über den Grund seines jetzigen Betragens nicht urtheilen. Das sind Dinge, die Jeder mit sich selbst abzumachen hat, die man vor sich selbst rechtfertigen muß, und das kann Julian nach seiner Ansicht auch gewiß. Aber ich möchte Sophie vor dem Verderben bewahren, dem sie entgegeneilt, und dazu sollen Sie mir Ihren Rath ertheilen.

Therese hatte anfangs sich scheu von diesen Mittheilungen abgewendet, die sie verletzten. Sie zürnte mit Alfred, sie begriff nicht, was diese Erörterungen ihr sollten. Als er aber Sophie eine Unglückliche nannte, als er Beistand für sie verlangte, schwand jedes Bedenken in ihr und sie bat ihn, ihr zu sagen, wie sie helfen möchte.

Alfred erzählte, auf welche Weise er Sophie kennen gelernt habe, sprach von dem Briefe, den sie ihm nach Rosenthal geschrieben, und sagte, daß er sie bald nach seiner Ankunft besucht habe. Ich fand sie die ersten Tage, als ich zu ihr ging, nicht zu Hause. Sie sei in der Kirche, sagte man mir. Erst bei dem dritten Besuche traf ich sie selbst. Der Gram hat ihre Wangen gebleicht, sie sieht sehr leidend aus. Sie empfing mich mit einer Ruhe, die etwas sehr Trauriges hatte, und erklärte mir, daß sie nach langem Kampfe mit sich zu einem Entschluß gekommen, daß sie Willens sei, der Welt zu entsagen und in ein Kloster ihres Vaterlandes einzutreten.

Die Harkourt? fragte Therese zweifelnd.

Es überrascht Sie, bemerkte Alfred, weil Sie sie nicht kennen; mir ist es ganz begreiflich. Sie hat nach einem höchsten Glück gestrebt; ihr Dasein war aufgegangen in Liebe. Nun, da diese sie verläßt, findet sie keinen Halt in sich. Die Gesellschaft der Frauen, denen sie sich vertrauend zu nahen vermöchte, weiset sie von sich, da wirft sie sich verzweifelnd der Kirche in die Arme und hofft Glück hinter den Klosterpforten zu finden, die ihre Phantasie sich wie ein Asyl voll Ruhe und Frieden ausmalt. – Denken Sie nur: Sophie, die Lebensvolle, Strahlende, in den grauen Mauern eines Klosters!

Therese hörte nachdenkend zu, dann sagte sie, als Alfred schwieg: Ich begreife Sophien’s Entschluß vollkommen, wenn sie fühlt, daß sie fertig mit dem Leben ist, daß es ihr nichts mehr bieten kann, sie für ihren Verlust zu entschädigen.

Sie billigen es, daß man in ein Kloster geht? daß man sich lebendig begräbt und das Leben hinsterbend vertrauert?

Der Widerwille, den Sie gegen jede Beschränkung der Freiheit haben, lieber Reichenbach, wendete Therese ein, macht Sie in diesem Falle ungerecht. Sie wissen es, wie fern mir der Katholicismus, wie fremd und meiner Natur zuwider mir Frömmelei ist. Dennoch habe ich oftmals daran gedacht, daß es gut wäre, wenn man, besonders für Frauen, noch jene stillen Zufluchtsorte hätte, in denen man, aller Lebenssorgen enthoben, der Erinnerung, der Selbstbetrachtung leben könnte und ausruhen von den Stürmen der Welt. Sie sah eine Weile nachdenkend vor sich nieder, dann fuhr sie fort: Es gibt Schicksalsschläge, die so gewaltsam das Leben einer Frau zerstören, Leiden, von denen nicht jede Natur sich erholen kann. Nicht Jede hat einen Wirkungskreis, in dem sie nützen, Pflichten, die sie erfüllen soll. Was kann es für eine Frau in dem Falle Beglückenderes geben, als Einsamkeit und Ruhe?

Diese Ansicht hätte ich bei Ihnen nicht vermuthet, rief Alfred. Sie! Sie könnten es billigen, daß man ohne Zweck dem Grabe entgegenlebt? daß man feige sagt, die Last wird mir zu schwer, ich werfe sie von mir? Therese! das ist nicht Ihre Ansicht, Sie widersprechen sich seltsam. Und wenn Sophie das Gelübde gethan hat, wenn sie dann einsieht, daß sie sich getäuscht hat, daß Ruhe und Friede nur aus der eigenen Seele quellen, was wird sie dann vor dem Verzweifeln bewahren, wenn es mir nicht gelingt, sie von dem Schritte abzuhalten, den sie zu thun gedenkt? Glauben Sie, daß sie Frieden findet in dem Zwang eines Gelübdes?

Das kann ich nicht ermessen, da ich die Harkourt nicht kenne, antwortete Therese, auch spreche ich mehr im Allgemeinen als von ihr. Es sind erst wenige Tage, daß ich in irgend einem Blatte von den Zufluchtshäusern las, welche die Puseyiten in England zu errichten beabsichtigen. Dieser Gedanke schwebte mir vor und ist mir segensreich erschienen, weil kein Eid zu ewigem Verweilen darin verpflichtet; weil eine Rückkehr in das Leben offen bleibt, wenn der Wunsch des Menschen ihn dorthin zurückzieht. – Wie glücklich wäre manche Frau, könnte sie für einige Jahre in solche Einsamkeit flüchten! welche Erleichterung kann es unter gewissen Verhältnissen sein, einen großen Schmerz ruhig auszuweinen, in tiefer Stille neue Kraft zu suchen. Ist es doch gar so schwer, über das blutende Herz den eiteln Tand einer Gesellschaftskleidung zu legen, die Thränen hinter Lächeln zu verbergen und sich umhertreiben zu lassen in den hohlen Genüssen der Gesellschaft, an denen die Seele keinen Theil hat. Wie Vielen, die gramerfüllt unter uns umherwandeln, würde ein solcher Zufluchtsort willkommen und selbst heilsam sein.

Alfred war von ihren Worten sehr ergriffen, er fühlte, welch tiefen Antheil ihre eigenen Erfahrungen an dem Gesagten hatten. Er sah sie lange traurig an und drückte dann ihre Hand, ohne zu sprechen, die sie ruhig in der seinen ruhen ließ. Was bedarf es auch der Worte zwischen Seelen, die nur Ein Dasein haben? Das tiefste Verständniß, das heiligste Glück der Liebe ruht in diesem Schweigen. Der höchste Schmerz und das größte Glück sind wortlos. Therese und Alfred empfanden es jetzt; aber Beide gaben sich der Täuschung hin, treu an den Vorsätzen zu halten, die sie gefaßt hatten, Beide vergaßen, daß jeder Blick, jede Miene zum Verräther an ihnen ward und daß sie keines Wortes zum Geständniß ihrer gegenseitigen Liebe bedurften, weil sie Einer in des Andern Seele empfanden.

Ein tiefer Seufzer Alfred’s riß Therese endlich aus den Gedanken, in die sie versunken war. Ich fühle die Wahrheit Ihrer Ansicht, sagte er dann, und ich würde, falls es solch ein Asyl für Sophie gäbe, sie ruhig dahin gehen sehen, aber in ein Kloster niemals. Man soll sich nicht durch Eide binden, die unsere Freiheit beschränken, man darf nie und nimmer ein Gelübde leisten, das uns zum Fluche werden, das uns zu einer Zeit fesseln kann, in der wir selbst es als einen Irrthum betrachten, in der wir sehnsüchtig nach Freiheit verlangen.

Eine zweite, noch gefährlichere Pause entstand, Therese fühlte es und fragte: Und was denken Sie der Armen zu rathen?

Ich weiß es selbst nicht, antwortete er. Glücklicherweise ist sie hier noch durch ihr Engagement gebunden. Sie tritt nicht auf, und man muß sich darein finden, weil sie wirklich leidend ist; aber man will sie nicht frei geben, sie nicht ihrer Verpflichtungen entlassen. Sie verlangt, daß ich mit der Direction unterhandele, und ich habe die einleitenden Schritte dazu gethan. Daß sie hier bleibt, scheint mir selbst nicht rathsam, dennoch betreibe ich die Angelegenheit ohne Eile, um Zeit zu gewinnen, um ihr Zeit zu reiflicher Ueberlegung zu lassen. Wären Sie nicht Julian’s Schwester, ich ließe nicht mit Bitten nach, bis Sie sich Sophien näherten, bis Sie sie in Ihren Schutz, in Ihre Pflege nähmen. Eine solche Natur vor sichrer Reue zu retten, das wäre ein schöner Beruf für ein edles Frauenherz, das sich zu ihr neigen wollte.

Er sprach mit Wärme, erwartete sichtlich Beistimmung, hoffte vielleicht gar auf irgend eine Ermuthigung, aber Therese schwieg. Sophie dauerte sie, sie glaubte an alles Gute, das Alfred von ihr aussagte, dennoch konnte sie sich nicht überwinden, in irgend eine Beziehung zu ihr zu treten. Sophien’s Verhältniß zu ihrem Bruder hatte ihr zu viel Kummer gemacht, sie konnte und wollte den Unwillen nicht besiegen, den sie gegen jede Uebertretung der Sitte fühlte, und vielleicht that ihr auch die Theilnahme Alfred’s an Sophien wehe. Ihr besseres Selbst tadelte sie deshalb, aber sie bot den Beistand nicht an, den Alfred verlangte.

Felix und Agnes kehrten zurück und eine allgemeine Unterhaltung zog Therese von den Zweifeln ab, die sie innerlich beunruhigten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Lebensfrage. Zweiter Teil.