XI. Alfred konnte nicht aufhören, an Sophie zu denken, er hatte Mitleid mit ihr, er wünschte zu wissen, wie sie die Trennung von dem Präsidenten ertrage; er wollte dessen Aufträge ausrichten...

XI. Alfred konnte nicht aufhören, an Sophie zu denken, er hatte Mitleid mit ihr, er wünschte zu wissen, wie sie die Trennung von dem Präsidenten ertrage; er wollte dessen Aufträge ausrichten. Er ging also zu ihr und ließ um die Erlaubniß bitten, sie zu sehen.

Sophie nahm seinen Besuch an. Als er bei ihr eintrat, war es hoher Mittag, darum überraschte ihn die Dunkelheit, welche in dem Zimmer herrschte. Alle Vorhänge waren heruntergelassen, die Jalousien fast ganz geschlossen. Sophie hatte in einem Lehnstuhl geruht. Sobald sie Alfred’s Schritte hörte, stand sie auf, ging ihm entgegen und sagte: Sie sind ein Freund des Präsidenten von Brand, Herr von Reichenbach, Sie kommen von ihm. Was bringen Sie mir?


Es war nicht allein der Wunsch meines Freundes, entgegnete Alfred, der mich herführte, sondern auch das eigne Verlangen, Sie kennen zu lernen und Ihnen für den Genuß zu danken, den Sie mir neulich durch Ihre Kunst in so hohem Grade gewährt haben.

Wieder Einer, der mir Weihrauchdampf bietet, wo ich verschmachtend nach Lebensluft verlange! Wieder Einer, der sich an fremdem Herzblut erfreut! Lieben Sie den sterbenden Fechter? fragte sie spöttisch –

Ja! sagte Alfred, denn ich sehe in dem Todeskampf desselben, daß die starke Seele das Leid besiegen, daß sie den Tod überwinden, daß sie rein eingehen wird in ein schöneres Dasein.

Sophie sah ihn prüfend an; ihr großes, dunkles Auge ruhte fest auf ihm, dann sagte sie: Den Tod zu überwinden, das ist leicht, aber wie erträgt man das Leben, mit dem Tode im Herzen? – Ich habe viele Tage und Nächte daran gedacht, wie ich leben solle ohne Julian’s Liebe, ich habe nach einem Gedanken gesucht, an dem ich mich aufrichten, an den ich mich halten könnte. Ich finde keinen. Man bricht die Blume, um sich an ihrem Dufte zu erfreuen, und man wirft sie von sich, wenn sie uns nicht mehr reizt. Aber ein Herz von sich zu stoßen, das mit all seinen Fasern an ihm hängt, das nur in der Liebe zu ihm lebt, das hätte ich ihm niemals zugetraut.

Sie faltete die Hände zusammen und große Thränen fielen langsam aus ihren Augen, während sich keine Miene ihres Gesichtes verzog. Sie war noch in ihrem großen Schmerze schön, das ist ein Vorzug, den nur wenig Auserwählte haben.

Alfred ehrte ihren Schmerz durch sein Schweigen. Als er sie gefaßter sah, sagte er: Gönnen Sie es mir, Sie auf sich selbst zu verweisen. Eine Natur wie die Ihre muß eine Lebenskraft in sich haben, die sie über Schmerzen fortträgt, an welcher gewöhnliche Frauen sich verbluten.

Sie schüttelte zweifelnd das Haupt. Gewöhnliche Frauen? und was bin ich als ein gewöhnliches Weib ohne Julian’s verklärende Liebe? Was bin ich ohne ihn? Was bleibt mir, wenn ich ihn verliere?

Die Kunst! antwortete Alfred. Wie Viele haben gleich Ihnen das schwerste Leid empfunden und besaßen nicht, wie Sie, den Genius der Kunst als Tröster.

Ich werde nicht wieder die Bühne betreten, Herr von Reichenbach! sagen Sie das dem Präsidenten, bis er es von mir fordert. Nur wenn er es verlangt, nur wenn es ihn noch erfreute wie einst, würde ich wieder spielen.

Das wird ihn sehr betrüben, bemerkte Alfred, er opfert Sie und seine Liebe mit blutendem Herzen auf; er hofft, Sie vielleicht später ruhiger wiederzufinden – und Sie werden sich ermannen. Ist es nicht –

Sagen Sie nicht, was Sie selbst nicht glauben! rief Sophie, ihn heftig unterbrechend, Julian ist kalt, ihn schmerzt das Opfer nicht. O! wie hatte ich Recht, wie ist das wahr geworden, was ich einstmals sagte! – Sie schien in Erinnerung verloren, dann sprach sie: Wir fuhren über Land, Julian und ich. Da sah ich Farrenkraut neben uns an einem Felsen blühen. Die großen Blätter wuchsen fröhlich aus dem Gestein empor, die ganze reiche Wurzel hing frei in der Luft, nur die zartesten Aederchen verbanden sie mit dem Felsen, aus dem sie Leben zog. Das sind wir, sagte ich damals. Du bist der kalte Stein, ich bin das Farrenkraut; sieh, wie fest es an dem Felsen hängt, wie es sich an den Kalten schmiegt. Er blickte hin und meinte: Weißt Du nicht, daß in dem Steine, der Dir so kalt erscheint, heißes, vulkanisches Feuer glüht? Fühlst Du nicht, daß Du nur durch dies Feuer leben, nur in der Wärme meiner Liebe blühen kannst? – Und wenn der Winter kommt? fragte ich scherzend. – Dann muß Alles welken, was blühte, antwortete Julian, damit Raum werde für neues Leben, das ist Naturgesetz. Er hatte es auch nur scherzend gesprochen, aber doch zerriß es mir die Seele in bangem Vorempfinden. Nun ist’s geschehen! Es war schon lange Herbst, ich wollte es nicht bemerken; nun ist der Winter da!

Es lag ein großes Weh in der Milde, mit der sie die letzten Worte sprach. Alfred fühlte sich unfähig, ihr einen Trost zu geben. Er war voll Bewunderung, voll Theilnahme für sie. Er ergriff ihre Hand und sagte: Der Mann, der das Leid der ganzen Menschheit wie sein eigenes empfand, der zu sterben vermochte, um der Menschheit die Freiheit des Gedankens zu erkaufen, Christus sprach das göttliche Wort: Ich habe die Welt überwunden! – Ueberwinden Sie den Schmerz, begraben Sie die Vergangenheit! so viel Liebe darf sich nicht eigensüchtig in sich selbst verzehren. Suchen Sie den Weg, auf dem Sie zu wandeln vermögen; und kann die Sorgfalt eines Sie bewundernden Mannes Sie dorthin führen, Ihnen Stütze sein, so nehmen Sie mein Wort darauf, daß Ihnen meine Freundschaft niemals fehlen soll, wenn Sie sie nicht verschmähen.

Sophie drückte ihm schweigend die Hand. Dann sagte sie nach einer Weile: Sie geben mir viel, mehr als ich Ihnen danken kann in diesem Augenblick, aber ich nehme es an. Noch weiß ich nicht, was mir frommt. Ich muß allein sein, allein mit mir fertig werden, das fühle ich. Verlassen Sie mich. Wenn ich Ihrer bedarf, wenn ich Ihrer würdig bin, fordre ich Sie auf, zu mir zu kommen. Leben Sie wohl, Herr von Reichenbach! – Sie reichte ihm nochmals die Hand und ging ohne weitere Rücksicht auf ihn in das andere Gemach.

Alfred sah ihr lange nach und blieb sinnend eine Weile in ihrem Zimmer sitzen. Er konnte sich nicht erklären, wie Julian gleichgültig werden mochte gegen eine Frau wie diese, wie er Gefallen finden konnte an der leichten Tändelei Eva’s nach dem Besitz von so viel Geist und Herz, als sich in Sophie vereinigt fand. Er wollte dem Freunde Vorstellungen machen, er wollte versuchen, ihn wieder mit der einst Geliebten auszusöhnen, aber er kannte das Menschenherz zu gut, er kannte Julian zu gut, um an die Dauer einer solchen Versöhnung zu glauben, und es war und blieb ja auch etwas Mißliches in dem Verhältniß, das bei des Präsidenten Stellung doppelt in das Gewicht fallen mußte. Dazu war Julian’s Charakter ein sehr eigenthümlicher. Bei einer anscheinend kalten Außenseite, die den Fremden abstieß, besaß er eine große Weichheit des Gefühls und eine Beweglichkeit des Geistes, die ihn jedem neuen und besonders jedem schönen Eindruck leicht zugänglich machten. Alles Große und Wahre ergriff ihn tief und schnell. In solchen Stimmungen war er großer Opfer, war er einer uneigennützigen Großmuth fähig, aber eine anhaltende Begeisterung für denselben Gegenstand, eine dauernde Liebe lagen nicht in seiner Art. Was er im Augenblick der Gefühlserregung mit voller Hingebung gethan hatte, konnte oft wenig Stunden darauf sein zersetzender Verstand als lächerlich bespötteln. Diese Charaktere nennt die Menge Verstandesmenschen, während man sie Gefühlsmenschen heißen sollte. Sie gelten für stark und sind doch schwach, weil sie nicht nach Ueberzeugungen, sondern nach augenblicklichen Eingebungen handeln. Conventionelle Begriffe, wie Ehrgefühl und Schicklichkeit müssen bei ihnen das wahre Pflichtgefühl ersetzen, und dennoch sehen wir gerade solche Menschen oft Thaten vollbringen, welche dem selbstständigsten, festesten Charakter schwer fallen würden.

Seinen Freunden ein zuverlässiger Freund, seiner Schwester der zärtlichste Beschützer, besaß er den Frauen gegenüber eine Genußsucht und einen Leichtsinn, die schon manches Herz verwundet, manches gebrochen hatten. Wenn ihn weibliche Anmuth reizte, trieb es ihn unwiderstehlich, nach ihrem Besitz zu streben; und ohne jemals seine Ansicht von der Flüchtigkeit solcher Verbindungen zu verbergen, errang er fast immer Liebe, wo er sie forderte. Er hatte einen feurigen, phantasiereichen Geist, eine einschmeichelnde Liebenswürdigkeit und eine überzeugende Wohlredenheit. Dazu besaß er die sicherste Waffe des Mannes gegen die Frauen, den Ruf, unbeständig und ihrer Ruhe gefährlich zu sein.

Solch einen Mann, sagte sich Alfred, wollen alle Frauen kennen lernen, man beschäftigt sich schon im voraus mit ihm. Die Eitele hofft ihn dauernd zu fesseln; die Edle, ihn zu bessern. Jede traut sich die Kraft und die Klugheit zu, die Gefahr zu vermeiden, die ihr von dem siegreichen Manne droht. Leichtsinnig, neugierig stürzen sie sich in den ungleichen Kampf und kehren bald mit zerrissenem Herzen daraus zurück, wie die arme Sophie.

Von diesen und ähnlichen Gedanken bewegt, ging er eilig durch die Straßen und fand sich, ohne daß er es beabsichtigte, vor des Freundes Wohnung wieder. Er hatte den Klingelzug bereits gefaßt, als er sich fragte, was er eigentlich in dieser Stunde hier bei ihm wolle? Er wußte es nicht und mußte sich es endlich eingestehen, daß die Gewohnheit, Therese täglich zu sprechen, wieder feste Wurzel in ihm geschlagen habe; daß ein Tag, an dem er sie nicht gesehen, ihm ein verlorener scheine. Schon wollte er sich entfernen, als er sich besann, daß er sie heute jedenfalls besuchen müsse, um sich von ihr zu beurlauben, ehe er nach seinem Gute hinausgehe, Felix zu holen, was am nächstfolgenden Abende geschehen sollte. Sein Gesicht überflog ein Freudenstrahl; er zog schnell die Glocke und eilte in das Haus.

Er fand die Freundin daheim wie fast beständig; sie arbeitete und Theophil las ihr aus geschriebenen Heften vor. Er war sichtlich erregt und legte die Blätter aus den Händen, als Alfred bei ihr eintrat.

Was lasen Sie? fragte ihn dieser freundlich nach den ersten Begrüßungen.

Fräulein von Brand erlaubte mir, ihr aus den Aufzeichnungen Einiges mitzutheilen, welche ich für mich zu machen pflegte, sagte Theophil.

Und es war sehr viel Schönes darunter, fügte Therese hinzu. Ich habe während des Lesens mehrmals an die Bemerkung gedacht, welche Sie, Herr von Reichenbach, uns neulich machten. Es ist wirklich thöricht, wenn die Schriftsteller in weiter Ferne den Stoff für ihre Arbeiten suchen. In jedem Menschenleben liegt Poesie verborgen und es kommt nur darauf an, das Blatt zu finden, auf welchem sie verzeichnet steht.

Das ist natürlich, sagte Theophil, denn kein Menschenleben ist so arm, daß die Liebe mit ihrem belebenden Strahl es nicht ein Mal erleuchtet hätte. Wo sie nur erscheint, wird es Frühling und Tag in der Menschenbrust, und das Dasein zum Gedicht und zum Roman. Freilich ist die Nacht um so tiefer, wenn sie nachher entschwindet. Er seufzte, fuhr mehrmals mit der Hand über die Stirne und schloß langsam die Augen, so daß man vermuthen mußte, sein Kopfweh plage ihn wieder.

Therese betrachtete ihn mit freundlicher Besorgniß. Sie trug einen starkduftenden Heliotrop, der auf dem Tische vor ihnen gestanden, an einen entfernteren Platz und ließ den Vorhang herunter, um das eindringende Sonnenlicht zu mildern.

Während deß bemerkte Alfred, der Theresen’s Theilnahme für Theophil mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtet: Sie scheinen also auch der Ansicht zu sein, daß die Liebe an sich schon ein ausreichender Stoff für den Roman sei. Der Meinung bin ich nicht. Jede wahre Liebe ist bis zu einem gewissen Grade der andern gleich. Jede hat ihr Glück, ihr Leid und die Freude, das Hoffen und Verzweifeln mit allen andern gemein. So sehr für den Einzelnen dies Thema Lebensfrage sein und bleiben wird, so dünkt mich, ist seit lange die Schilderung auch der höchsten, reinsten Liebe in einem Romane unfruchtbar und unnöthig, wenn es eben nur die Liebe gilt. Mehr oder weniger anziehend und bedeutend wird sie nur durch den Menschen, in dessen Seele sie entstanden ist, und aus dessen Natur heraus sie ihr besonderes Gepräge erhält, ja eigentlich nur durch die Art der Hindernisse, die sich der Erreichung ihrer Wünsche entgegenstellen.

Gewiß, versicherte Theophil, so hatte ich es auch gemeint. Denn wie unter den tausend Blättern eines Baumes nicht zwei einander vollkommen gleichen, so bringt jedes Menschenleben neue Erscheinungen in der Liebe zur Entfaltung, welche für einen Beobachter wie Sie zu besondern Erfahrungen Anlaß geben müssen.

Sie erinnern mich mit diesen Behauptungen an Ereignisse aus der ersten Zeit meines öffentlichen Auftretens, sagte Alfred. Als es in dem Kreise meiner Bekannten zu verlauten anfing, daß ich der Verfasser eines Romans sei, drängte sich Alt und Jung mit geheimnißvollem Vertrauen zu mir, um mir aus den eigenen Erlebnissen Stoff für meine künftigen Arbeiten mitzutheilen. Jeder Mann, der in seiner Jugend die Kammerjungfer seiner Mutter geliebt und dann eine andere Frau geheirathet hatte, kam sich in der Erinnerung wie ein Romanheld vor und verlangte, daß ich diese seine Jugendliebe zum Mittelpunkt einer Dichtung erheben sollte. Man hat mich über die Gebühr mit diesen Mittheilungen ermüdet und ich bin manch mal aus Aerger versucht gewesen, den Leuten solche Erzählungen zu schreiben, um sie von der Verkehrtheit ihrer Ansicht zu überzeugen, die aus der kleinlichsten Selbstüberschätzung entspringt. Die Liebe an sich ist das eigentliche Thema des lyrischen Gedichts. Für den Roman wird sie erst geeignet, wenn sie mit der Außenwelt in Streit geräth; und mich interessirt sie als Thema erst dann, wenn die Hindernisse, welche ihr entgegentreten, aus den Ideen oder Thatsachen hervorgehen, die in das Gebiet der Zeitfragen gehören. Ein Roman, der nicht in genauer Beziehung zu der Zeit steht, in der er geschrieben ward, wird selten ein gelungenes Werk sein.

Und der Werther? und die andern Goethe’schen Romane? wendete Therese fragend ein.

Sind sprechende Bilder der Zeit, in der sie entstanden, fiel Alfred ein. Grade diese sind aus dem dringenden Bedürfnisse hervorgegangen, das der Dichter hatte, sich und die Mitwelt aufzuklären über Das, was damals stürmisch in Allen wogte. Weil sie aus Ideen ihr Leben schöpften, die damals alle strebsamen Naturen beschäftigten, haben sie Leben gehabt und werden es behalten. Darum ist ihre Wirkung auch noch fast eine magnetische auf uns Alle. Im Werther spiegelt sich die schwache Gefühlsschwelgerei der Empfindsamkeitsepoche; in dem Wilhelm Meister das Illuminatenwesen und jenes Streben des begabten Bürgerstandes, die Stelle einzunehmen, welche ihm später die französische Revolution errang. Jene Motive lagen Goethe damals als Tagesfragen nahe, darum behandelte er sie und läuterte seine Ansicht von ihnen durch das freie, dichterische Gestalten. Man sollte es also auch jetzt nicht tadeln, wenn sich die Fragen, welche unsere Zeit zu lösen hat, ebenfalls in der Dichtkunst spiegeln, wenn wir mit ihrer reinigenden Kraft uns den Ueberzeugungen dienstbar machen, für die wir leben.

Mit der Anforderung, daß der Roman sich dem Tage anschließe, dem er gehört, bemerkte Theophil, ziehen sie aber die freie Göttin der Poesie in das Gebiet eines gewöhnlichen Arbeiters herab. Sie soll Ihnen für Ihre Ziele nutzbar werden; das ist doch aber nicht ihr eigentlicher Beruf.

Es gibt nur Epochen, in denen Niemand feiern darf, in denen Götter, wenn sie noch auf Erden wallten, selbst Hand anlegen würden, sagte Alfred.

Erlauben Sie mir den Einwand, entgegnete ihm Theophil, daß Diejenigen, welche die reine Lyrik und den historischen Roman mit dichterischer Begabung und glücklichem Erfolg bearbeiteten, gegen Sie sprechen. Und auch das Urtheil des großen Publikums möchte sich nicht für Ihre Meinung entscheiden, wie wir es an den Scott’schen und an vielen andern Romanen gesehen haben.

Die große Masse will nur unterhalten sein, das ist leider richtig. Sie will ein paar müßige Stunden ohne Nachdenken zu Ende bringen und wer ihr dazu verhilft, kann leicht ihr Liebling werden. Das aber soll den Dichter nicht bestechen, sagte Alfred. Ich ehre von Herzen Diejenigen, welche den historischen Roman in würdiger Absicht bearbeiten, ich erkenne jede Eigenthümlichkeit an, die Schönes hervorbringt. Ich meine aber, der Beruf eines Dichters lege ihm in den verschiedenen Zeitaltern und Ländern verschiedene Pflichten auf. In Ländern, in denen das Volk selbstregierend Theil nimmt an allen Zeitinteressen, wo die Unterhaltung darüber von dem Palast bis in die Hütte dringt, wo Jeder die Gegenwart kennt, da darf der Dichter sich in poetischer Betrachtung der Vergangenheit zuwenden, denn die Arbeit des Tages wird gethan. Er darf die Vergangenheit erläutern und verklären, aus der die beglückende Gegenwart geboren ward. Das that Scott, aber sehr ausschließlich und entschieden im Sinne der Partei, der er angehörte; das thaten manche unserer Dichter mit großem Glück und Erfolg. Doch dünkt es mich augenblicklich in Deutschland eben nicht die Zeit dazu zu sein.

Nicht Zeit? fragte Therese und sagte dann, zu Theophil gewendet, leise: Sie stützen noch immer den Kopf auf die Hand, Sie haben Schmerzen. Wollen Sie, daß ich ein Fenster öffne?

Theophil dankte ihr und Alfred antwortete nach einer Pause, in der irgend ein der Unterhaltung fernliegender Gedanke ihn beschäftigt haben mochte: Nein! wir haben jetzt nicht Zeit, in poetischen Ergüssen zu feiern; denn unsere Tage sind Tage des Kampfes und der Arbeit. Warfen doch alle Dichter die Leier fort, zu der sie Liebeslieder sangen, um Schlachtgesänge zu jubeln, als es galt, das Vaterland von den Feinden zu befreien, die seine Grenzen überschwemmten. Die Welt des Gedankens ist unser wahres Vaterland, die Freiheit des Wollens und Handelns ein höheres Gut, als die Scholle, auf welcher wir zufällig den Tag zuerst erblickten. Für diese Heiligthümer streiten wir jetzt; und Keiner, der mit geistigen Waffen für diese heiligsten geistigen Güter zu ringen Kraft fühlt, darf in müßigen Träumen feiern. Unser deutsches Volk schwelgt gar zu gern in der Poesie der Vergangenheit und in nebligen Hoffnungen einer glücklichen Zukunft, die nicht kommen wird, wenn man sie nicht mit dem Aufwande aller vereinten Kräfte erschafft.

Theophil lächelte etwas spöttisch und Alfred, der es bemerkte, fuhr noch lebhafter fort: Der Dichter, der sein Volk liebt, dem die Menschheit heilig ist, soll jetzt mit jedem Worte an die Kammer der Schlafenden pochen. Wie der Ruf eines Herolds soll seine Stimme durch das Vaterland erschallen. So lange nicht Dasjenige, was das Volk bedarf, was die Zeit erheischt, von Vertretern des Volkes berathen wird; so lange das Volk nicht frei seine Meinung sagen darf, so lange muß der Dichter in Bildern für sein Volk sprechen und in Bildern erklären, was die Nation bedarf und fordert.

Aber heißt das nicht, wiederholte Theophil, die Poesie vom Himmel zur Erde ziehen, und den Dichter zum Sklaven der Partei erniedrigen, da er doch über dem Leben stehen und mit unparteiischem Auge auf die Welt blicken soll.

Ueber dem Leben steht Niemand! rief Alfred sehr ernst. Wohl Dem, der auf der Höhe seiner Zeit steht und sie mit gesundem Auge betrachtet. Ich vermag die Gegenwart und die Vergangenheit zu überblicken, ich strebe, die Dunkelheit der Zukunft zu durchdringen; aber immer nur von meinem menschlichen Standpunkte aus, der innerhalb unserer Zeit, innerhalb des Lebens liegt. Was von dem Punkte, auf dem ich stehe, mir gerade erscheint, das sieht von einer andern Seite schief aus; so bilden sich für Jeden, der in die Ferne blickt, die verschiedenen Ansichten, die Parteimeinungen. Wer davon frei zu bleiben glaubt, irrt gewiß. Es wäre nur für Denjenigen möglich, der eigensüchtig die Augen schlösse, um Nichts zu empfinden als sich selbst.

Ich habe, sagte Therese, bisher eine ähnliche Ansicht wie Theophil über den Beruf des Dichters gehabt. Ich glaubte, es wäre seine Aufgabe, das Leben zu verschönen, die misklingenden Dissonanzen in reine Harmonien aufzulösen und uns die Dornenpfade des Lebens mit Blumen zu schmücken.

Möglich, daß es einst so war, sagte Alfred, und daß noch mancher Dichter es so empfindet. Ich, der ich von Grund der Seele Partei nehme für unsere Zeit, ich vermag es nicht. Wenn ich von den entschwundenen Herrlichkeiten des deutschen Kaiserreichs, von dem Glanz der Vorzeit oder von ihrer Noth erzählte, immer würde an mein Ohr der Ruf des lebenden Volkes tönen, dem noch so Vielerlei zu wünschen bleibt. Ich würde es für eine Sünde halten, zur bloßen Belustigung Märchen zu schreiben, während noch wichtige Arbeit im Vaterlande zu thun ist.

Mit dem Roman läßt sich aber die Welt trotz alle dem nicht reformiren, meinte Theophil.

Aber Denen, die sich nicht mit den Ereignissen des Tages beschäftigen, denen die Bestrebungen der Zeit fremd bleiben würden, wenn man ihnen in wissenschaftlicher Form davon spräche, den Menschen kann der Roman sagen, was ihnen zu wissen Noth thut, und das soll er thun. Nicht nur großer Granitblöcke bedarf man, den Bau der Zukunft zu gründen, auch die leichtere Arbeit des Bildhauers gehört dazu und fördert, wenn sie an rechter Stelle und zu rechter Zeit gethan wird.

Wohin wird man sich nur vor dem Lärm der Arbeitenden flüchten? Wie wird man sich einen Augenblick Ruhe schaffen können? fragte Theophil.

Man wird, wie ich schon vorhin sagte, wenn man nervenschwach ist, sich selbstsüchtig in die Vergangenheit versenken und unter Illusionen von der glücklichen Gegenwart müßig auf eine herrliche Zukunft hoffen, die nie kommen wird, wenn wir sie uns nicht schaffen.

Theophil erbleichte und eine heftige Entgegnung schwebte auf seinen Lippen, das sah Therese. Auch Reichenbach war in einer ihr unerklärlichen Aufregung, und sie fühlte, daß es Zeit sei, vermittelnd zwischen die Streitenden zu treten.

Nun! rief sie, Sie, meine Freunde, stehen mindestens nicht außerhalb der Zeit und der Partei, das beweist die Lebhaftigkeit Ihres Streites, die es mir bisher unmöglich machte, eine Frage einzuschalten. Ich möchte wissen, Herr von Reichenbach, ob Sie Ihre eigenen Erlebnisse zum Stoff für Ihre Arbeiten benutzen?

Es bedurfte nur der Erinnerung Theresen’s, um beide Männer empfinden zu lassen, daß sie zu weit gegangen waren. Sie nahmen sich zusammen, verbargen den Unmuth, der in ihnen herrschte, und Alfred sagte: Darauf kann ich Ihnen ja und nein antworten. Ich gebe die Erfahrungen, die mich das Leben machen lassen, in der Form, welche mir die geeignetste dafür scheint. Die Erlebnisse selbst in nackter Wahrheit darzustellen, würde ich, falls es nicht eben eine biographische Arbeit gilt, für eine Indiscretion gegen mich selbst und gegen Andere halten, die mit mir auf dem Lebenswege zusammentrafen.

Aber die Charaktere entnehmen Sie dem Leben? Es scheint mir wenigstens, als ob ich die Originale zu manchen der Gestalten in Ihren Arbeiten erkennen könnte.

Da ich mich bis jetzt nur mit den Ereignissen unserer Zeit beschäftigte, da jede Zeit sich ihre eigenen Charaktere schafft, so müssen Sie nothwendig in meinen Arbeiten auf Erscheinungen stoßen, die Ihnen nicht fremd sind, ohne deshalb Portraits zu sein. Die äußeren Verhältnisse bilden den Menschen, wie er andrerseits die Verhältnisse gestaltet. Sobald ich also neue Verhältnisse erfinde, muß ich auch die Gestalten der Gegenwart, die mir vorschweben, jenen erfundenen Verhältnissen so eng anzupassen suchen, daß sie sich gegenseitig bedingen. Gelingt mir das, so gewinnt die Dichtung Wahrheit, den Schein des Lebens, und dieser ist es, der dann zu dem Glauben verleitet, man schreibe das Leben ab, man gebe sich selbst und die nächste Umgebung wieder. Freilich kann ich die Welt nur mit meinen Augen betrachten und daraus entsteht die Subjectivität jeder Dichtung; aber ich kann, wenn ich gesunde Augen habe, in die Weite blicken, ich brauche nicht beständig meinen Nachbar oder mich selbst im Spiegel anzusehen.

Es entstand eine Pause, wie sie nie ausbleibt, wenn sich eine Misstimmung in einen kleinen Kreis eingeschlichen hat. Theophil benutzte sie, sich mit dem Bemerken, daß er heftiges Kopfweh habe, zu entfernen, aber auch nach seinem Fortgehen dauerte ein gewisser Zwang fort. Therese besiegte ihn zuerst.

Mich beunruhigt Theophil’s Zustand! sagte sie. Er kann seit einigen Tagen wieder nicht die geringste Aufregung ertragen, ohne von seinen Nervenleiden geplagt zu werden. An Arbeiten ist gar nicht zu denken, er ist häufig niedergeschlagen und ich bin sehr erfreut, daß er sich gewöhnt, diese übeln Tage bei mir, statt einsam in seinem Zimmer zuzubringen.

Ihr Mitleid wird ihn noch mehr verweichlichen, als er es schon ist, wendete Alfred ein. Er ist nur zu träge, sich in ernster und anhaltender Thätigkeit Kraft zu suchen. Man hat ihm das Leben immer leicht gemacht, das Glück hat ihn begünstigt, so daß er lange nur zu genießen und mit dem Dasein zu spielen brauchte. Das Tändeln ist ihm darüber zu einer andern Natur geworden, und als dann endlich ein Leid über ihn kam, spielte er kindisch mit dem Schmerz. Ich hasse das an Männern, wenn schon Sie diese Schwäche interessant zu finden scheinen, schloß er, mit einer Bitterkeit, die ihm sonst nicht eigen war.

Therese sah ihn lange ruhig an, als wolle sie in seinen Zügen lesen; dann sagte sie: Was fehlt Ihnen, mein Freund! denn so hart urtheilen Sie nicht, wenn Ihre Seele ruhig ist. Können und wollen Sie mir nicht sagen, was Ihnen geschehen ist?

Die Worte sagten nichts mehr, als jede Frau in ähnlichem Falle äußern würde; aber der Ton der Theilnahme, der Besorgniß machten sie für Alfred unschätzbar. Es schien, als ob er eines quälenden Zweifels ledig würde. Er ergriff Theresen’s Hand und küßte sie. Sie haben Recht, sagte er, ich war einen Augenblick nicht ich selbst. Vergeben Sie es mir!

Und wieder stockte die Unterhaltung, bis er endlich nach einer Weile sagte: Ich komme, Abschied von Ihnen zu nehmen. Ich gehe noch heute nach Rosenthal.

Sie kommen Abschied nehmen? Sie gehen nach Hause? Und ich hoffte, Sie würden den Winter mit uns zubringen, ich fürchtete nicht, Sie so schnell zu verlieren! sagte Therese in einer Weise, die wider ihre Absicht, ihre schmerzliche Ueberraschung kund gab.

Alfred ward davon ergriffen. Sie hofften, daß ich bleibe, Sie fürchteten nicht, daß ich gehe? So bin ich Ihnen also doch etwas? So nimmt Theophil nicht all Ihre Theilnahme in Anspruch? rief er, überwältigt von der Macht eines Gefühls, dessen er sich plötzlich bewußt worden war, als er, bei Therese eintretend, sie mit Theophil allein gefunden hatte. Sagen Sie mir, daß meine Rückkehr Sie freut, Therese! Nur das Eine sagen Sie mir, und ich werde versuchen, die Stunden in Minuten zu verwandeln, die ich von hier entfernt sein muß.

Das hatte Therese nicht erwartet, nicht für möglich gehalten. Ihre Hand, die Alfred in der seinen hielt, zitterte leise, aber sie bezwang sich und sagte ruhig: Glauben Sie, daß ich den alten geprüften Freund über den neuen vergessen könne, Herr von Reichenbach? Ich werde mich herzlich freuen, wenn Sie bald zurückkehren. Sie bringen dann Felix mit, nicht wahr? Sie bringen Ihren Sohn hieher?

Ich würde Ihren Worten glauben, Therese! rief Alfred, wenn Ihre Hand sie nicht Lügen strafte. Ihre Worte sind sehr ruhig, aber Ihre Hand zittert in der meinen. Lassen Sie mich Ihnen die liebe Hand dafür küssen. Auf Wiedersehen in möglichst kurzer Frist, theure Therese! auf recht baldiges Wiedersehen!

Er drückte ihre Hand an seine Lippen und ging schnell hinaus. Therese blieb in dumpfer Betäubung sitzen, dann faltete sie die Hände und schien nach langem lautlosen Brüten wieder zu der Ruhe und Klarheit gelangt zu sein, die ein hervorstechender Zug in ihrem Wesen waren.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Lebensfrage. Erster Teil.