Eine Kirmes im Hunsrück.

Aus: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. 23. Jahrgang
Autor: Protsch, Edmund (1838-1924), Erscheinungsjahr: 1913
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Volkskunde, Volksfeste, Kirmes, Tanz, Sitten, Bräuche, Festlichkeit
Der Hunsrück zählt zu den abgeschlossensten Gebieten Deutschlands und hat erst in den beiden letzten Jahrzehnten Anschluss an den großen Weltverkehr profunden, trotz der Nachbarschaft des Rheines. So bescheiden noch dieser Verkehrsanschluss ist, so wächst doch mit jedem Jahre die Gefahr, dass die alten Sitten mehr und mehr verloren gehen, sei es durch die jetzt rasch vordringende, alles gleich machende und verflachende großstädtische Unkultur, sei es durch unsachgemäße (wenn auch gut gemeinte) behördliche Maßnahmen oder sonstige Umstände. Die folgenden Zeilen sollen die Kirmes eines Hunsrücker Dorfes schildern, wo sich die Feier noch ziemlich in althergebrachten Bahnen bewegt.

Die eigentliche Festlichkeit, die „keereb“, wie sie der Hunsrücker nennt, erfordert eine Reihe von Vorbereitungen, die meist dem Wirt, zum Teil aber der Dorfjugend, Jungvolk genannt, zufallen. Des letzteren Tätigkeit bezieht sich besonders auf die Herrichtung des Kirmesstraußes. Dazu wird ein gerade gewachsener Wacholderstrauch („wakholer“) gewählt, der am Samstag vor der Kirmes, die stets an einem Sonn- und Montag abgehalten wird, von den jüngsten „büe“, den sechzehnjährigen, geschnitten wird, wofür sie einen Krug Bier umsonst erhalten. (Die vierzehn- und fünfzehnjährigen Knaben und Mädchen rechnen noch nicht zum Jungvolk und dürfen an dessen Belustigungen nicht teilnehmen; sie führen den Spottnamen „breeling“ = Brühling). Der Wacholderstrauß wird am Samstagabend mit den Schalen von Hühnereiern, sowie mit Rosen, Bändern und Schleifen aus Buntpapier geschmückt. Den Papiersehmuck stellen die Mädchen her, die auch schon wochenlang vorher die Eierschalen sammeln. Der fertige „keerwe-strauß“ wird beim Wirt aufbewahrt.

Die Kirmes selbst beginnt am Sonntagnachmittag gegen 4 Uhr mit einem Aufzug des Jungvolks, dessen Ordnung stets genau eingehalten wird. An der Spitze marschiert der Träger des keerwe-Straußes. Diese Ehre fällt dem kräftigsten von den Burschen zu, die im Herbst zum Militär einrücken. Er wird rechts und links von einem Kameraden begleitet. Alle drei sind mit großen Papierschärpen in den Landesfarben geschmückt. Jeder der beiden Begleiter hält in der rechten Hand eine Weinflasche und in der linken ein Glas. Hinter den Dreien marschiert die (vom Wirt gestellte) Musikkapelle; ihr schließen sich die weiteren Burschen in der Altersfolge an, die ältesten zuerst und zuletzt die jüngsten, während sich die Mädchen nach Belieben unter die Burschen mischen. Vom Hause des Wirts bewegt sich der Zug, während die Kapelle einen Marsch spielt, durch die Straßen des Orts. Nach dem Takt bewegt der Träger den Strauß wirbelnd auf und nieder (er „drinnelt“ ihn auf und ab); seine Begleiter schwenken Gläser und Flaschen, und das Jungvolk bricht abwechselnd in jauchzende und kreischende Laute aus („ed krejeert“). Nach dem Rundgang begibt sich der Zug zum Festsaal oder Festzelt. Die Kapelle betritt den Tanzboden und spielt, dort stehen bleibend, sofort zum ersten Tanz auf. Das erste Tänzerpaar, das also die ganze Tanzbelustigung eröffnet, hat damit den „Vortanz“. Er bildet, besonders für das Mädchen, eine gewisse Ehre und Bevorzugung. Mittlerweile haben sich die älteren Leute mit ihren „Frein“, d. i. den zu Besuch gekommenen Verwandten und Bekannten, auf dem Festplatz eingefunden, wo nun ein lebhaftes Treiben beginnt. Man plaudert miteinander, begrüßt Bekannte und amüsiert sich, so gut es geht. Die „keerwegäst“, ob Ortsbewohner oder Fremde, trinken nur Wein. Nur die Musikanten werden vom Wirt mit Bier freigehalten, soviel sie wollen. Die schulpflichtige Jugend und noch jüngere Kinder kommen durch „Reiterei“ (Karussel) und Jahrmarktsbuden auf ihre Rechnung. Der Löwenanteil am Fest fällt indessen dem Jungvolk mit dem Tanzen zu; doch beteiligen sich daran je nach Neigung auch ältere Leute. Als Tanzarten sind zu nennen: Walzer, „bolga“ (Polka), „bolgamasolga“ (Mazurka) und der „dreher“; von einigen Besonderheiten soll unten die Rede sein.

Bei den Tänzen haben zumeist die Burschen die Wahl, in der Regel behält aber ein Bursche das von ihm aufgeforderte Mädchen nicht während eines ganzen Tanzes. Es wird ihm „abgehûlt“ (abgeholt), indem ihn ein anderer Bursche ersucht, ihm seine Partnerin zu überlassen, was auch unbedingt geschieht. Der so verwaiste Tänzer hält sich nun in ähnlicher Weise bei einem andern Paar schadlos. So kommt es vor, dass ein Mädchen während eines Tanzes zwei, drei oder gar noch mehr Tänzer hat. Es sind gewandte Tänzerinnen oder sonst von den Burschen bevorzugte Mädchen; freilich gibt es auch andere, die mitunter den ganzen Nachmittag nur einen Tänzer haben oder auch gar nicht „geholt“ werden zum eigenen Verdruss und dem ihrer Eltern. Beim Ende eines Tanzes führt der Bursche seine (letzte) Tänzerin zu seinem Platz und hält sie mit Wein frei. Er tanzt mit ihr auch den nächsten Tanz usw., bis sie ihm abgenommen wird. Hier ist noch einer früheren Sitte zu gedenken: An einer geeigneten Stelle (Balken oder Pfosten) wurde das Bild eines Schimmels aufgehängt. Es wurde alljährlich von einem dazu befähigten Burschen neu gemalt. Wenn das seit einigen Jahren unterblieb, so soll das lediglich deshalb geschehen sein, weil keiner der jungen Leute das nötige Geschick hatte. Unter dem Bild stand folgender Spruch:

„Seh ich nach oben, so seh ich den Himmel;
Seh ich nach unten, so seh ich den Schimmel;
Seh ich mich um, so seh ich die Knaben;
Aber keiner ist, der mich will haben."

Diese Fassung mit dem Hinweis auf den Himmel dürfte sich daraus erklären, dass vor längerer Zeit die Kirmes nicht in einem geschlossenen Raum, sondern unter freiem Himmel an der Dorflinde abgehalten wurde. Das Schimmelbild war dann an der Linde befestigt. Dort stellten sich auch die Mädchen vor dem Tanze auf. Wer nun von keinem der Burschen erwählt wurde, musste bei dem Schimmel aushalten und ihn so gleichsam fest halten. Die Redensart „die muss den Schimmel halten“, die noch heute gang und gäbe ist, bedeutet daher kurzweg: Die Betreffende hatte keinen Tänzer erhalten.

Von 8—9 Uhr abends tritt auf dem Tanzboden wegen des Abendessens eine Pause ein. Die älteren Leute verlassen schon eher den Festplatz, weil sie noch das Vieh füttern müssen. Nach dem Nachtessen verabschiedet sich der auswärtige Besuch, soweit er nicht über Nacht bleibt. Von 9 Uhr ab nimmt die Festlichkeit ihren Fortgang. Rückt die Mitternacht heran, so begeben sich die verheirateten Leute zur Ruhe. Nur das Jungvolk hält aus und „raicht dorich“ (macht durch); bis 4 Uhr früh dauert der Tanz. Dann führt jeder Bursche seinen Schatz oder sein „Mensch“ heim. Hierauf kehren die Burschen zum Festlokal zurück, um wiederum mit der Musik und dem Kirmesstrauß durch den Ort aufzuziehen, natürlich unter dem üblichen Gejohle und Gekreisch, sofern sie noch nicht heiser sind. Nach dem Umzug gehen die jungen Leute von Haus zu Haus, soweit die Familien tanzfähige Töchter haben, um Eier „aufzuheben“. In der Regel werden je zwei Stück gegeben; die Festwirtin bäckt den Burschen die Eier und bewirtet sie unentgeltlich mit Kaffee und Kuchen.

Der zweite keereb-Tag verläuft ähnlich dem ersten; doch fällt der Umzug des Jungvolks weg. Da nur noch wenig „frime leit“ (fremde Leute) anwesend sind, so ist der Tanzboden nicht mehr so gedrängt voll. Deshalb werden in der Regel an diesem zweiten Tag einige besondere Tänze aufgeführt, so einer für die verheirateten Leute und einer „noore foor die rekrude“. Je nach Umständen ist auch ein Tanz „noore foor die frime“ bestimmt. Weiter folgt einer mit „Damewahl“, scherzweise auch „Dame-Krawall“ genannt. Der Tanzleiter lässt bei diesem etwas längeren Tanz vier bis fünfmal eine Pause eintreten (er klatscht zum Zeichen in die Hände), während der alle Mädchen ihre Tänzer wechseln. Jedes beteiligte Mädchen hat für diesen Tanz eine halbe Flasche Wein zu spenden. Zwei eigenartige Tänze sind der „kissjes-walzer“ (Kusswalzer) und der „sbieldanz“ (Spiegeltanz). Bei ersterem betritt ein Mädchen — den Anfang macht meist eins der aufwartenden — mit einem Kissen den Tanzboden und macht, dieses auf den Armen haltend, tanzend eine Runde. Hierauf legt es das Kissen vor sich, ruft einen Burschen herbei und gibt ihm, während beide auf dem Kissen knien, einen Kuss. Das Mädchen entfernt sich nun, während der Bursche eine Runde tanzt, wobei er das Kissen an den Nacken hält. Er ruft dann ein anderes Mädchen herbei, erhält kniend von diesem einen zweiten Kuss und verschwindet nun seinerseits. So geht der Tanz abwechselnd weiter und dauert oft eine halbe Stunde. Kür manchen Burschen gestaltet er sich teuer, wenn er öfters herangeholt wird, da er für jeden erhaltenen Kuss 10 Pf an die Musikkapelle entrichten muss. Die meisten Burschen und Mädchen scheuen aus begreiflichen Gründen diesen Tanz (übrigens auch den Spiegeltanz) und entfernen sich daher rechtzeitig. Beim Spiegeltanz wird mitten auf den Tanzboden ein Stuhl mit einem mäßig großen Spiegel gestellt. Die Mädchen stellen sich in einer Reihe hinter, die Burschen in einer solchen vor dem Stuhle auf. Ein Bursche nimmt dann auf dem Stuhle Platz und hält den Spiegel auf den Knien schräg vor sich. Eins der Mädchen tritt nun von hinten heran, so dass er ihr Bild im Spiegel sieht. Sagt ihm die Tänzerin nicht zu, so „schierelt'“(schüttelt) er mit dem Kopf. Nun tritt eine andere Tänzerin heran und so weiter, bis eine Gnade findet, was er durch „schnabben“ (Nicken des Kopfs) zu erkennen gibt. Bursche und Mädchen tanzen dann eine Runde. Der Vorgang wiederholt sich nun, nur mit dem Unterschied, dass sich das Mädchen auf den Stuhl setzt und die Burschen von hinten herantreten. So geht es abwechselnd weiter. Hierbei wird aber keine besondere Gebühr erhoben. Natürlich wird aber bei dem Auswählen und Ablehnen, wie auch beim Kusswalzer, viel Schabernack getrieben. Im Anschluss hieran sei bemerkt, dass Kusswalzer und Spiegeltanz ursprünglich im Hunsrück nicht heimisch waren; ersterer ist allerdings schon seit längerer Zeit, der andere dagegen erst seit einigen Jahren eingeführt. Der Kusswalzer ist übrigens vor wenigen Jahren von der Polizeibehörde verboten worden. Der zweite Tag endigt ebenfalls erst gegen Morgen. Zum Abschluss wird der Kehraus, ein Walzer, gespielt, dessen Melodie von den Tänzern und Tänzerinnen gewöhnlich mit der sich stetig wiederholenden Zeile: „de keeraus, de keeraus, ein jeder firt sein schätz nach haus“ begleitet wird. Mit dem Heimführen der Mädchen hat die Kirmes offiziell ihr Ende erreicht. Das Jungvolk feiert aber am folgenden Sonntag noch einen besonderen Schluss, die „noo-keereb" (Nach-Kirmes). Dabei wird Bier getrunken, das die Mädchen bezahlen müssen, die an der Kirmes teilnahmen; sie tragen zu den Kosten gleichmäßig bei, einerlei, ob reich oder arm. Bei dieser noo-keereb wird auch getanzt. Die Musik dazu wird von einem eigens bestellten einzelnen Musikanten oder in Ermangelung eines solchen von einem der Burschen gespielt, der die nötige Fertigkeit im Spielen einer Ziehharmonika hat: auch der Musikant ist von den Mädchen zu bezahlen.

Frankfurt am Main.

Landliebe

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Bauerntanz

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