Abschnitt 1

Sie war vorüber in Swinemünde, aber der Nachsommer war noch zu finden. Equipagen, Krankheits- und Gesundheitsklatsch, Geschichten, recht viel Geschichten, Partieen, Sonnenschein und Regen. Darin besteht Saison und Badeleben. Im Seebade ist aller Mittelpunkt der Wellenschlag: erst spricht man davon, ob welcher sein wird, dann ob welcher ist, zuletzt, ob welcher gewesen ist, und dann geht's wieder zum Futurum. Das hat sein Einfaches. Für die ersten Tage ist auch die Gesellschaft ohne Ertrag für den einzelnen Ankömmling, denn sie hat auch einen Haupttheil ihres Reizes in ihrer Geschichte, man muß erst Neigung oder Abneigung oder Gleichgültigkeit für Diesen oder Jene in sich aufgefunden, man muß erst irgend einen Bezug haben, ehe man einen Reiz gewinnt. Also Partieen und Geschichten waren der mir angedeutete nächste Beruf – die ersten Seebäder wirkten aber Schönebergisch auf mein Gemüthe, ich war stumm, einsiedlerisch, braun-melancholisch. Was Partieen! Sand, Fichten, Fläche, Wasser, was für Partieen kann solche Komposition geben? Es passirte also in den ersten Tagen nichts als Schwermuth, Lectüre, Betrachtung über die Nachbarschaft, und der unerwartete Besuch einer Dame, welche mich für einen Doktor der Medizin hielt, und mir all ihre epileptischen Leiden bis in's Detail zur Kur vorlegte. Ihr Vortrag war von jener Art, wie Wieland zwei eiserne Drescher schildert, die am Eingang des Thores so schnell und dicht arbeiten, daß sich kein Sonnenstrahl zwischen ihre Schläge drängen kann 1) – meine Bemerkung, ich sei ein unglücklicher Philosoph, welchem die Enthüllung solcher vierzigjährigen Mysterien ebenfalls nur Unglück brächte, war auf keine Weise einzuschieben, und ich mußte mich schweigend in das epileptische Schicksal ergeben. Als die Dame so weit erschöpft war, für meinen Rath eine Pause zu gestatten, sagte ich ihr, sie solle heurathen.

Darauf lächelte sie, und ließ sich dahin vernehmen: Bisweilen habe sie auch wohl daran gedacht, aber sie sei es bis jetzt allein gewesen, welche diesen Gedanken empfunden habe. –


Mit aller Anerkennung dieses letzten Ausdrucks wünschte ich ihr Besserung und empfahl mich und meine Ruhe. In meiner Nachbarschaft war auch nicht viel Freude: es gab da ein ganz artig schwarzäugiges Mädchen, aber sie war blos da, wie die Mutter sagte, um auf andere Gedanken zu kommen. Das ist immer übel, wenn es darauf abgesehen ist, denn die Gedanken eines Mädchens sind zärtliche Empfindungen, und daran ändern zu müssen ist ein Uebelstand. Das Mädchen liebte nämlich einen Künstler, und die Mutter sagte, ihre Tochter habe sich in einen Komödianten vergafft, und es gäbe kein größeres Kreuz. Gegen diesen Komödianten sollte nun Swinemünde auch helfen; bekanntlich hilft das Seebad gegen Alles. Ich hatte das Unglück, diesen dramatischen Künstler auch zu kennen, und diese Bekanntschaft mußte ich mit dem etwaigen Interesse bezahlen, welches mir das schwarzäugige Mädchen hätte gewähren können. Für mich war Alles unliebenswürdig an diesem Liebhaber – es ist solch ein alter trivialer Kram, aber er ist noch immer von unermeßlicher Wichtigkeit, daß der öffentlich auftretende Mensch einen außerordentlichen Reiz ausübt auf die Mädchen. Sie hüllen ihn verschwenderisch in alle schön gefärbten Luftschichten der inneren Romantik, welche ihrer Ahnung und ihrer Wunscheskraft zu Gebote steht.

Wenn ich so fort laborirte, kam ich aber auch nicht einmal zu Badegeschichten; ich schloß mich also an einen rüstigen Badegast, machte Partieen und ließ mir erzählen.

Es war ein Buchhändler, der schon ein bewegtes, erfahrungsreiches Leben durchgemacht, zur Napoleonischen Zeit mit Noth und Gefahr der Konskription sich entwunden hatte, und auf dieser Flucht nach Oesterreich und bis tief nach Ungarn hinein gerathen war. Diese Schöpfung eines eignen Lebens übt stets ihren Eindruck, weil wir die ursprüngliche, selbsteigne Kraft des Menschen, die eigentliche Produktion wirksam leben: Der Vater, ein leidenschaftlicher Franzosenfeind, hatte den Knaben bis an's Thor geleitet, ihm vier Thaler gegeben, den Weg aus dem Königreiche Westphalen gewiesen, und ihn dann mit seinem Segen entlassen. Gott allein, dem weiten Himmel heimgegeben, war der Knabe hineingezogen in's Blaue, Aehrenfelder und Gräben hatten ihn vor den Franzosen verbergen müssen, und so war er glücklich bis Leipzig gekommen; eine Dresdner Krämerin, beschäftigt, Kaffee zu paschen, hatte ihm bis Dresden einen Sack zu tragen und dafür ein Paar Mahlzeiten gegeben, in Dresden war beim österreichischen Gesandten weitere Hilfe nachgesucht und gefunden worden. –

Jetzt wanderte er mit mir durch den tiefen Sand nach einem Walde, hinter welchem Corsuand, eine gepriesene Swinemünder Partie liegen sollte – dieser erste Besuch ist mir auch der liebste geblieben: ein prächtiger voller Wald führt eine Stunde weit zu einem schweigenden, an schwarzen Seen gelegenen Dorfe, wo ein trefflich Unterkommen zu finden ist. Der Wald ist nur außen mit trocknen, inproduktiven Kiefern umkränzt, wie man ein reich Geschmeide in unscheinbares Futteral verbirgt, innen locken dunkel und erquickend die tief gefärbte Laubbäume, es klingt der ruhende Wald, es herrscht die schattige, flüsternde Lebensstille, die so kräftig zum Einkehren in sich selbst ladet, zum Verkehr mit dem Weltgeiste, zum Gedächtniß an ferne Liebe, an unbefangenes Kindesgefühl, zum Glauben an's Gute, zum Glauben an Ruhe und Glück, zum Glauben an Ehe, zum Glauben an Geister. Wald, prächtiger, klingender Wald, du bis ein Element von ewig thätiger, ewig schöner Kraft; du bis des Nordens schönster Reiz, der Schooß unsrer Gemüthswelt, die einen poetischen Ausdruck sucht – unsere und Englands grüne Wälder mag uns der sonst reicher beglückte Südländer beneiden. Und wir haben's erkannt, was wir daran besitzen, wir haben das Wort dafür erfunden, ruft »Wald« hinein unter die Bäume, alle die schönen natürlichen Reime darauf rufen Euch hell zurück, daß Ihr das rechte Wort, den klaren Namen gefunden habt, auf welchen das Kind der Natur hört –

Rufet hinein in den dunklen Wald,
Horcht, wie klar es zurück schallt,
Gleich Gottes ew'ger Stimme hallt:
Ich bin der Wald, der ew'ge Wald,
Bin immer alt, erfrischend kalt,
Bin immer jung.
Sucht Dämmerung,
Sucht Ahnung und Erinnerung,
Und Harzes Duft, der kräftig wallt,

Des Echos Luft, die widerprallt
Der Hoffnung süßes, schönes »Bald!«
Des Lebens innerste Allgewalt
Im Wald, bei mir, im ew'gen Wald!




1) C. M. Wieland: Oberon, 3. Gesang, 15. Strophe

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Fahrt nach Pommern und der Insel Rügen